Nach wie vor versuchen hunderte Flüchtende über die italienisch-französische Grenze nach Frankreich zu kommen, um dann zumeist nach Calais und von dort aus nach England zu gelangen. Seitdem das selbstverwaltete Lager «Presidio No border Ventimiglia» von der Polizei geräumt wurde, hat sich ihre Situation wesentlich verschlimmert.Im Sommer 2015 hatten ca. 100 Geflüchtete und engagierte Personen dieses Lager für den Empfang von Menschen auf der Flucht aufgebaut, 100 Meter von der französisch-italienischen Grenze entfernt, zwischen Ventimiglia und Menton. Sie lebten dort und setzten sich gegen Grenzen, ethnisch motivierte Kontrollen, die täglichen Abschiebungen und für uneingeschränkte Reisefreiheit ein.1 Bis zur Zwangsräumung durch die italienische Polizei im September, die auch den europäischen Anwesenden strafrechtliche Verfolgungen (Entziehung von Freiheitsrechten, Landesverweisungen) einbrachten, wurde in den französischen und italienischen Medien immer wieder über die Situation in Ventimiglia berichtet. Seit Herbst 2015 ist das Echo in den französischen Medien praktisch inexistent, obwohl die Situation sich nicht änderte und die Zahl der Ankömmlinge wieder zunimmt.
Bedingt durch den Ausnahmezustand hat Frankreich die im Juni 2015 an den Küsten eingeführten Kontrollmassnahmen durch eine vermehrte Präsenz bewaffneter Militärkräfte entlang der Grenzlinie verstärkt. Die COP21, der «plan vigipirate» (eine Antiterror-Massnahme) und der «Kampf gegen den Terrorismus» sind zum Vorwand geworden, um den Ausbau von der Sicherheitspolitik und von Freiheitseinschränkungen voranzutreiben. Laut Innenminister Cazeneuve zielen diese Massnahmen, die ursprünglich auf einen Monat beschränkt waren und seitdem ausgedehnt wurden, nicht auf die Migrant_innen, sondern auf potentielle Terroristen, die sich mutmasslich unter ihnen verstecken.
Am Bahnhof
Ende März 2016 beläuft sich die Anzahl von Menschen, die an dieser Grenze blockiert sind, auf 100 bis 200 Personen. Sie befinden sich hauptsächlich am Bahnhof von Ventimiglia, wo sie übernachten. Jeden Tag kommen mindestens zehn Neue an. Schätzungsweise gibt es täglich ca. zehn Weiterreisen nach Frankreich. Im Bahnhof von Ventimiglia begegnet man Polizisten, Schleppern und «Shebabs», was aus dem Arabischen übersetzt «junge Menschen» bedeutet – so werden die Flüchtenden bezeichnet. Die Personen auf Durchreise nach Frankreich sind hauptsächlich alleinstehende Männer sowie ein paar Familien und allein Reisende, mitunter schwangere Frauen. Es gibt viele verschiedene Nationalitäten, die meisten der Geflüchteten kommen jedoch aus dem Sudan. Sie übernachten auf dem Bahnhofsvorplatz unter einem Vordach, um sich vor dem Regen zu schützen; Pappkartons dienen ihnen als Matratzen. Dieser Platz ist kein Camp, dies bedeutet, dass sie keinen Lebensraum haben und jeden Tag auf eigene Faust den Alltag bewältigen müssen. Die einzige sichere Mahlzeit pro Tag, ausser sonntags, ist ein von der Caritas serviertes Frühstück. Die Caritas funktioniert mit freiwilligen Helfer_innen und Angestellten. Sie verwaltet eine Kleiderausgabe und 100 kalte Nahrungsmittelrationen. In den zwei vorhandenen Duschen können sich ca. zehn Personen pro Tag waschen.
Die offizielle «Hilfe»
Die Alternative zu dieser prekären Situation ist das Empfangszentrum, das vom italienischen Roten Kreuz geführt wird – das einzig behördlich zugelassene humanitäre Hilfswerk. Es befindet sich auf der anderen Seite des Bahnhofs. Der Zugang zu diesem Zentrum ist seit Dezember an die Bedingung geknüpft, erkennungsdienstliche Fotos und Fingerabdrücke von der italienischen Polizei machen zu lassen. Im Rahmen der europäischen Verordnung von Dublin III bedeutet die Aufnahme von Fingerabdrücken auf italienischem Boden die Pflicht, das Asylbegehren in Italien fortzusetzen, und macht es so den Menschen unmöglich, sich in einem anderen Land niederzulassen; die Familienzusammenführung sowie die Möglichkeit, mit Freund_innen und Bekannten zusammen zu kommen, wird verbaut. Die unter den Kriegsopfern entstandene Solidarität wird gespalten. Die Lebensbedingungen im Rot-Kreuz-Zentrum sind bedenklich. Der Schlafsaal ist heillos überfüllt, die Untergebrachten dürfen das Zentrum nur zwischen 8 Uhr morgens und 22.30 Uhr abends verlassen. Der Empfang wird von Freiwilligen und der italienischen Polizei durchgeführt, was die Frage aufwirft: Handelt es sich hier um eine ausschliesslich humanitäre Aktion oder reiht sich die Prozedur in die staatliche Kontrollpolitik ein? Die Hauptsache scheint zu sein, dass die Exilierten nicht mehr zu sehen sind. Wir befinden uns ja nur 15 km vom reichen Monaco entfernt.
Solidaritätsverbot
Die verschiedenen Formen von Solidarität mit den «Reisenden» werden auf beiden Seiten der Grenze unterdrückt. Spontane solidarische Aktionen mit den Flüchtenden sind in Ventimiglia illegal. Der Bürgermeister Ioculano hat bereits im Juli 2015 jegliche Essensvergabe an die Flüchtlinge (das Rote Kreuz ausgenommen) «aus sanitären Gründen» verboten. Bei Zuwiderhandeln muss man 200 Euro Strafe zahlen und wird strafrechtlich registriert. Es findet also eine Art Erpressung der Flüchtenden statt: Entweder sie akzeptieren die Empfangsbedingungen des Roten Kreuzes oder sie bleiben in noch prekäreren Umständen. Um dem zu entgehen sind sie gezwungen, Ventimiglia so schnell wie möglich, unter zumeist gefährlichen Bedingungen, wieder zu verlassen und sich zu diesem Zweck an die oft skrupellosen Schlepper zu wenden. Diese bewegen sich gut sichtbar (auch für die Polizei!) in der Nähe des Bahnhofes. Die Preise variieren, 20 bis 35 Euro für eine Grenzüberschreitung zu Fuss oder im Zug, einige 100 Euro für eine Überfahrt im Auto. Die französische Polizei von Menton greift die Migrant_innen dann entweder im Zug oder auf den Geleisen auf. Manchmal dringt sie bis in den Bahnhof von Ventimiglia vor.
Der «Freespot»
Unter diesen Umständen hat die Gruppe, die bereits um den «Presidio No border» aktiv war, beschlossen, sich weiter mit den «Shebabs» zu engagieren und hat ein Lokal in einem Dorf nahe von Ventimiglia gemietet. Die Idee dieses «Freespots» entstand aus einer Reihe von Bedürfnissen und Wünschen der Menschen, die sich gegen das Grenzregime stellen. Dieser Lebens- und Solidaritätsraum funktioniert dank unabhängiger Initiativen. Das Ziel ist es, die «Shebabs» aus dem Bahnhofsgelände zu holen und sie dem Einfluss der Schlepper zu entziehen. Im Freespot können sie sich ausruhen, essen, sich austauschen und verschiedene wichtige Informationen erhalten. Ausserdem werden – verbotener Weise – warme Mahlzeiten in der Stadt und am Bahnhof organisiert sowie Flugblätter verteilt, die über die Situation der Flüchtlinge informieren. Der Freespot möchte und kann nicht die humanitären und staatlichen Organisationen ersetzen. Die italienische Presse versuchte durch eine Verleumdungskampagne, die Arbeit zunichte zu machen. Die Besitzerin des gemieteten Lokals hat daraufhin den Mietvertrag nicht verlängert. Die Leute von «No Border» und einige Migrant_in-nen versammeln sich jetzt regelmässig, um eine neue Lösung zu finden.
Die Solidarität mit den Menschen, die an den Grenzen festgehalten werden, ist wesentlich! Es ist inakzeptabel, dass diese «unerwünschten», vor Krieg und Repression geflüchteten Menschen eingesperrt und abgeschoben werden und Europa seine Innen- und Aussengrenzen mehr und mehr befestigt
- Siehe Archipel 242, Nov. 2015: «Die Gewalt der Grenzen». Forzetzung folgt.