Am 10. April wurde der neue Migrationspakt endgültig im EU-Parlament beschlossen. Bereits zwei Monate davor, am 14. Februar, hat der LIBE (Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres) des Europäischen Parlaments mehrheitlich für die verschiedenen Gesetzestexte zur Reform des Europäischen Asylsystems gestimmt, das aus der Vereinbarung zwischen der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat vom 18. Dezember 2023 hervorgegangen ist.
Beim Verfassen dieser Analyse ist mir bewusst, dass diejenigen, die eine politische Entscheidung zu treffen haben, berücksichtigen müssen, dass ein Scheitern der Annahme des Asylreformpakets einen weiteren Schub in Richtung Zerfall der EU hätte bedeuten können. Denn angesichts eines ineffizienten und in der Praxis bereits teilweise nicht umgesetzten Gemeinsamen Asylsystems könnten sich viele Staaten für eine Art «free-for-all» entscheiden und damit einen Wettlauf um die vollständige Umgehung des Unionsrechts zugunsten unkontrollierbarer nationaler Normen und vor allem Praktiken auslösen, die mit dem Unionsrecht in Konflikt stehen.
Während einige Reformtexte mangelhaft und verwirrend sind oder inkohärente Reformprofile bieten, weisen andere Texte, insbesondere die Verordnung über gemeinsame Verfahren zur Prüfung von Asylanträgen, Aspekte von beispielloser Härte auf. Die schwerwiegendsten Fragen betreffen die «Besonderen Verfahren» an der Grenze, da hier eine völlige Umkehrung der korrekten Rechtslogik stattfindet, nach der die ordentlichen Verfahren für die meisten Situationen gelten, während Ausnahmen und Einschränkungen nur für streng umschriebene Sonderfälle in Betracht gezogen werden können.
Im Gegensatz dazu sieht der neue Text (Abschnitt IV, Artikel 41 ff.) vor, dass die Staaten besondere Grenzverfahren sowohl auf Personen anwenden können, die an einer Grenzübergangsstelle der Aussengrenze Asyl beantragt haben, als auch auf Personen, die unverzüglich Asyl beantragt haben, nachdem sie bei einem unerlaubten Grenzübertritt festgenommen wurden, und auf Personen, die nach einer Rettungsaktion auf See in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gelangen. Diese Bestimmung kann auch auf Familien, Minderjährige und unbegleitete Minderjährige angewendet werden. Zusammen machen diese Personen fast alle Asylbewerber·innen in Europa aus. So wird das Sonderverfahren, das von Natur aus nur in streng begrenzten Fällen angewendet werden sollte, in sein Gegenteil verkehrt, d. h. es wird zum eigentlichen ordentlichen Verfahren, während dieses de facto auf begrenzte und Restsituationen angewendet wird.
Die Anwendung des Sonderverfahrens beinhaltet mehr oder weniger drastische Formen der Freiheitseinschränkung von Asylbewerber·innen, die für einen Zeitraum von bis zu 12 Wochen (in einigen Fällen 16) in ad-hoc-Einrichtungen in den Grenzgebieten, aber auch in anderen Gebieten des Mitgliedslandes (falls erforderlich), eingesperrt würden. Der Text der Reform ist sehr zweideutig, da er für die Antragsteller·innen «die Verpflichtung, an einem bestimmten Ort zu wohnen» vorsieht, eine Verpflichtung, die jedoch keine «Genehmigung zur Einreise und zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates» darstellt. Dies ist eine schlecht versteckte Form der Inhaftierung, die geschickt den allgemeinen Grundsatz umgeht (der formal auch in der neuen Aufnahmerichtlinie» in Kraft bleibt), dass ein·e Asylbewerber·in nicht allein deshalb inhaftiert werden darf, weil er/sie Asylbewerber·in ist. Der Artikel 31 der Genfer Flüchtlingskonvention, der es den Staaten untersagt, Sanktionen gegen Ausländer·innen zu verhängen, die irregulär in ihr Hoheitsgebiet einreisen, um Asyl zu beantragen, verbietet auch die administrative Haft von Asylwerber·innen. Haft oder andere Formen der Freiheitsbeschränkung sollten als Massnahme für Ausnahmefälle betrachtet werden, dürfen aber niemals aus ethnischen oder nationalen Gründen oder zur Abschreckung von Asylbewerber·innen angewandt werden.
Genau dies würde jedoch mit der neuen Verfahrensordnung geschehen. Die geplante Reform könnte sogar im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention stehen, deren Artikel 5 die Möglichkeit der vorübergehenden Inhaftierung einer ausländischen Person nur dann vorsieht, wenn diese ausschliesslich mit dem Ziel durchgeführt wird, seine illegale Einreise in das Hoheitsgebiet zu verhindern. Diejenigen, die an der Grenze um Asyl ersuchen, dies also unverzüglich tun, wenn sie aufgegriffen werden, und erst recht diejenigen, die auf See gerettet werden, befinden sich keineswegs in einer illegalen Situation, wie uns das Kassationsgericht seit langem vor Augen führt. Obwohl die aufgeworfenen rechtlichen Fragen schwer wiegen, könnte bestritten werden, dass die Inhaftierung und die Anwendung des besonderen Grenzverfahrens in den oben genannten Fällen nicht obligatorisch, sondern fakultativ seien. Diese Massnahmen können auch nicht angewendet werden, wenn der betreffende Staat «seine angemessene Kapazität» zur Durchführung von Grenzverfahren erreicht hat. Worum geht es hier? Die künftige Verordnung sieht die Einführung eines neuartigen Verfahrens vor, wonach «die Kommission im Wege eines Durchführungsrechtsakts die Zahl berechnet, die der angemessenen Kapazität jedes Mitgliedstaats zur Durchführung von 'Grenzverfahren' entspricht» (Artikel 41b). Sobald diese Kapazität erreicht ist, ist der Staat, abgesehen von einigen Sonderfällen, nicht mehr verpflichtet, sie anzuwenden. Diese Kapazität soll 30.000 Einheiten betragen. Dieser neue und seltsame Begriff verringert die Zweifel an der Legitimität der Anwendung des Sonderverfahrens nicht, sondern verstärkt sie, da er sie völlig willkürlich und zufällig macht: Asylbewerber·innen würden nicht aufgrund ihres Status oder der Umstände ihrer Ankunft oder ihres Verhaltens, sondern aufgrund von zufälligen zeitlichen Faktoren (Ankunft in der EU vor oder nach Erreichen der entsprechenden Kapazität) unterschiedlichen Rechtsordnungen unterworfen. Es handelt sich also um eine Art Lotterie. Durch eine Änderung dieses technisch-administrativen Begriffs der «angemessenen Kapazität», der letztlich nur eine Zahl ist, könnte man sich vorstellen, sie auf 60.000 und dann schrittweise auf 100.000 Einheiten zu erhöhen, um so das Endziel zu erreichen, alle Asylbewerber·innen in das besondere Grenzverfahren aufzunehmen. Dies würde bedeuten, dass diejenigen, die Asyl beantragen, für die blosse Tatsache, dass sie Asyl beantragen, bestraft werden.
Der/die Leser·in hat sicherlich (im Gegensatz zur italienischen Regierung) herausgefunden, dass alle beschleunigten Grenzverfahren und die anschliessende Inhaftierung in den Ankunftsländern durchgeführt werden sollen, vor allem in Italien und Griechenland, die wie alle osteuropäischen Länder zu riesigen Behältern werden sollen, in denen die grösstmögliche Anzahl von Asylbewerber·innenn zusammengepfercht wird, um sich um die Aufnahme, die Prüfung der Anträge, die Rechtsstreitigkeiten und die Rückführung zu kümmern. Jede Aussicht auf eine Neuverteilung von Solidarität und Verantwortung innerhalb Europas würde damit ad absurdum geführt. Die obskuren Absichten, die aus dieser kurzen und unvollständigen Analyse der neuen Verordnung hervorgehen, sind beunruhigend, und noch beunruhigender ist es, dass die europäische linke Mitte mit dieser Entscheidung in einen politischen und kulturellen Abwärtsstrudel geraten ist, der ihre politische Zukunft in Europa für immer prägen wird.
Gianfranco Schiavone, Vorsitzender des ICS, Italienisches Konsortium der Solidarität*
*Mit der freundlichen Genehmigung des Autors leicht aktualisierter Auszug seines Artikels, erschienen im Original am 16. 02. 2024 in der Tageszeitung Unità.