Am April 2012 starten Schiffe der Solidarität gegen das Sterben von Flüchtlingen und MigrantInnen im Mittelmeer.Die Liste der ertrunkenen oder verdursteten Boatpeople wurde immer länger im Sommer 2011, die Situation ist und bleibt unerträglich. Vor diesem Hintergrund fordern antirassistische Netzwerke ein direktes Handeln, um dem tödlichen EU-Grenzregime Einhalt zu gebieten. Mit «Schiffe der Solidarität - das Sterben im Mittelmeer stoppen» ist seit einigen Monaten1 ein transnationales Projekt in Planung, mit dem Flüchtlinge und MigrantInnen auf ihrem Weg nach Europa durch unmittelbares Eingreifen vor Ort unterstützt werden sollen. Im April 2012 werden mehrere kleine Schiffe von Italien aus in See stechen, in entgegengesetzter Richtung zu den Fluchtrouten der Boatpeople: voraussichtlich von Rom über Sizilien und Lampedusa bis zu verschiedenen Häfen in Tunesien. Das Projekt soll zeitgleich zum maghrebinischen Sozialforum in Tunis stattfinden und zielt auf eine mediterrane Vernetzung, die ein dauerhaftes Beobachten zwischen der nordafrikanischen Küste und den südeuropäischen Inseln in Gang bringen will. Die skandalösen Vorgänge auf dem Meer sollen dokumentiert und öffentlichkeitswirksam angeklagt werden. Es geht um die Rechte der Harragas wie der TransitmigrantInnen2. Es soll alles dafür getan werden, dass Schiffbrüchige gerettet werden.
Über 2000 Menschen sind seit Beginn 2011 in dieser Region des Mittelmeeres ums Leben gekommen und Tausende stecken weiterhin in Wüstenlagern wie dem tunesischen Choucha oder in Libyen fest. Sie haben kaum eine andere Hoffnung als den riskanten Versuch zu wagen, in überfüllte und oft seeuntaugliche Boote zu steigen. Menschenrechtsorganisationen und antirassistische Netzwerke haben in den letzten Monaten in vielfachen Appellen die sofortige Aufnahme von Flüchtlingen gefordert: «Die Stimmen von Choucha stehen für das verzweifelte Aufbegehren gegen eine Politik der flagranten Menschenrechtsverletzungen, wie sie sich tagtäglich an vielen Brennpunkten der europäischen Außengrenzen abspielen. Ein Bruch mit dieser Politik ist notwendig, um das Sterben auf See und in der Wüste zu beenden. Die Demokratiebewegungen in Nordafrika bieten die Chance für einen Neuanfang. Statt tödlicher Ausgrenzung und grotesker Bedrohungsszenarien muss Offenheit und Solidarität die Zukunft des mediterranen Raumes prägen. Es braucht Brücken statt Mauern für ein neues afrikanisch-europäisches Verhältnis, damit Europa ein Raum wirklicher Freiheit, allgemeiner Sicherheit und der gleichen Rechte für Alle wird»3.
Abschreckung
An diese Forderungen und Ziele knüpft die Aktion «Schiffe der Solidarität» an, denn bisher lehnen die europäischen Regierungen die Aufnahme von Flüchtlingen rigoros ab. Vielmehr häufen sich Aussagen von Überlebenden, dass die Rettung von Bootsflüchtlingen beziehungsweise die Aufnahme Geretteter bewusst verweigert und deren Tod als Teil einer Abschreckungsstrategie in Kauf genommen wird. Die EU finanziert Flüge, um subsaharische MigrantInnen aus Tunesien in ihre Herkunftsländer zurück zu schicken, z. B. nach Mali, dessen ökonomische Situation als eines der ärmsten Länder der Welt dadurch weiter destabilisiert wird. Gleichzeitig verstärken die EU-Verantwortlichen den Druck auf die (Übergangs-)Regierungen der nordafrikanischen Länder, ihre Küsten lückenlos zu kontrollieren und mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex zusammen zu arbeiten. Bei Nichterfüllen dieser Wachhund-Rolle werden Wirtschaftsabkommen verweigert. Völlig ignoriert wird, dass Tunesien ca. 500.000 Libyenflüchtlinge aufgenommen hatte. Die Revolutionen in Nordafrika können die soziale und ökonomische Situation nicht über Nacht ändern. Aus dem Land selbst machen sich viele Menschen nach Lampedusa auf, um der Arbeitslosigkeit zu entkommen. Doch in Europa werden sie entwürdigend behandelt und so schnell wie möglich abgeschoben.
Aus Frankreich - vom euro-afrikanischen Netzwerk Migreurop - kam der Impuls für diese Initiative, von Paris aus wird das «Boats 4 People»-Projekt4 auch koordiniert. Auf europäischer Seite wirken zudem Organisationen und Netzwerke aus Italien, Belgien, Holland und Deutschland mit. Aus Nordafrika sind einzelne Gruppen aus Marokko «an Bord», das größte Interesse kommt allerdings aus Tunesien. Hier ist der revolutionäre Aufbruch bekanntlich noch längst nicht zum Erliegen gekommen. Und die Frage der Bewegungsfreiheit ist ein alltägliches Thema, immer wieder versuchen Harragas ihr Glück und steigen in die Boote gen Europa, auch wenn sie dort angesichts des rigiden Visumregimes fast ausnahmslos Internierung und Rückschiebung erwartet. In dieser Situation stößt Boats4People in Tunis wie auch in den südlichen Hafenstädten Sfax und Zarzis auf viel Interesse und Zustimmung. Menschenrechtsgruppen wie das Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte oder das FSM (Forum Social Maghrebin), Frauenorganisationen wie die ATFD (Association tunesienne des Femmes Democrates) und nicht zuletzt Angehörige von bei Bootsunglücken Vermissten haben ihre Beteiligung zugesagt.
Unterstützung
Die «Schiffe der Solidarität» benötigen nun eine breite und prominente Unterstützung, von beiden Seiten des Mittelmeeres und darüber hinaus. In Deutschland hat sich ein Vorbereitungskomitee gebildet, dem Aktive aus den antirassistischen Netzwerken Afrique-Europe-Interact und Welcome to Europe sowie der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration und von Borderline Europe angehören5. Ein erster (Spenden-)Aufruf wurde bereits gestartet, um auch materiell zu diesem wichtigen transnationalen Projekt beizutragen. Schließlich liegt die maßgebliche Verantwortung für das Sterben im Mittelmeer bei den «kerneuropäischen» Regierungen - nicht zuletzt bei der deutschen! Von hier wird seit Jahren die Vorverlagerung der Migrationskontrolle betrieben, von hier wurde mit der Einrichtung und Hochrüstung von Frontex ein regelrechter Krieg gegen Flüchtlinge in Gang gesetzt.
Boats4People ist ein Pilotprojekt, um konkrete praktische Erfahrungen zu sammeln und die euro-afrikanischen Netzwerkprozesse zu verstärken. Den Kontext und die langfristige Perspektive solcher Intiativen hatten obengenannte Netzwerke bereits im März 2011 in der Deklaration «Freiheit statt Frontex»6 treffend skizziert: «Der Aufbruch in Nordafrika zeigt, was alles möglich ist. Es geht um nicht weniger als um ein neues Europa, ein neues Afrika, eine neue arabische Welt. Es geht um neue Räume der Freiheit und Gleichheit, die es in transnationalen Kämpfen zu entwickeln gilt: in Tunis, Kairo oder Bengazi genauso wie in Europa und den Bewegungen der Migration, die die beiden Kontinente durchziehen.»
- Regelmäßige deutschsprachige Informationen über folgende Adresse: choucha-appell@antira.info
- Diese Deklaration und mehr zum gesamten Themenkomplex auf der dreisprachigen Webseite: www.afrique-europe-interact.net