Ein Beschluss wird gefasst
Am 13. Oktober 2012 demonstrierten zwischen 3.500 und 5.000 Menschen in Berlin für die Abschaffung der rassistischen Asylgesetze, die Schliessung von Lagern und eine dezentrale Unterbringung, einen Stopp der Abschiebungen und die Abschaffung der Residenzpflicht. Vorausgegangen war dieser Demonstration ein Protestmarsch von Flüchtlingen in der BRD. Auslöser der Proteste war der Selbstmord des 29jährigen Mohammad Rahsepar im Würzburger Flüchtlingslager. Nachdem acht protestierende Flüchtlinge in Würzburg Hungerstreiks abgehalten hatten und ein Protestcamp in der Innenstadt errichtet hatten um ihren Protest öffentlich sichtbar nach außen zu tragen, entstanden in vielen weiteren Städten Protestcamps von Flüchtlingen, so in Bamberg, Aub, Passau, Düsseldorf, Berlin, Regensburg und Nürnberg. Im August berieten sich die Flüchtlinge auf dem „Break Isolation Camp“ darüber, wie sie die Proteste zusammenführen können. Sie entschieden sich für einen Protestmarsch nach Berlin, um den politischen Druck zu verstärken und ihn direkt an die politisch verantwortlichen Personen in Ministerien, Kanzleramt und Bundestag heranzutragen und gleichzeitig auf dem Weg dorthin andere Flüchtlinge für den gemeinsamen Kampf zu mobilisieren. In ihrer Erklärung heisst es unter anderem: „ Wir mobilisieren bundesweit, um die Isolation zu brechen, gegen Abschiebungen und Lager, für die Schliessung aller Heime und für die Befreiung von der Knechtschaft der Residenzpflicht in ganz Deutschland. (…) Jetzt ist die Zeit, aufzustehen, weil wir nicht länger passiv Zeugen des Todes eines von uns sein möchten, denn die unmenschliche Behandlung der Asylbewerber kann jeden von uns in den Tod treiben. (…) Wir verlassen die festgesetzten Grenzen und die für uns gebauten Käfige, da wir glauben, dass das Konzept, in Asylbewerberheimen zu leben, ungerecht ist. (…) Es ist das Recht eines jeden Menschen, zu wählen, wo er lebt…“.
Der Marsch beginnt
Der Protestmarsch begann am 8. September in Würzburg, in Bussen und zu Fuss erreichten die Flüchtlingen und ihre Unterstützer_innen nach rund 700 Kilometern und mehreren Stationen Berlin.
Zwischen dem 30. September und dem 4. Oktober hielten die protestierenden Flüchtlinge in mehreren Orten in Mecklenburg-Vorpommern. Hier besuchten die streikenden Flüchtlinge das Erstaufnahme- und Abschiebelager in Horst sowie Flüchtlingslager in Wismar, Bad Doberan, Rostock und Wolgast und wurden dabei von der Stop_it! Kampagne aus Mecklenburg- Vorpommern unterstützt. Im Mittelpunkt der Besuche stand das Informieren anderer Flüchtlinge über den aktuellen Protest und dessen Forderungen.
Der Besuch der Flüchtlinge war seitens der Leitung der jeweiligen Lager in MV nicht willkommen, mit Ausnahme von Rostock. So wurde im Isolationslager in Horst kurz nach dem Eintreffen der protestierenden Flüchtlinge und Unterstützer_innen aus Hamburg und Rostock die Polizeipräsenz im Eingangsbereich des Lagers erhöht (zeitweise fünf Einsatzwagen). Die Beamten stellten sich im Lager demonstrativ vor die Ausgangstür. Mit Drohungen und Einschüchterungen sollten Kontakte zu den Aktivist_innen verhindert werden, denen das Betreten des Lagers nicht erlaubt war. Dennoch kamen Gruppen von Flüchtlingen an den Zaun, um zu erfahren, was draussen vor dem Lager vor sich geht. Schliesslich konnte trotz der Einschüchterungsversuche eine breite mehrsprachige Gesprächsrunde vor dem Zaun stattfinden, die auf grosses Interesse bei den Flüchtlingen aus Horst stiess, so dass sich einige dem Busprotest anschlossen.
Auch bei den Stationen in Wismar und Bad Doberan haben die protestierenden Flüchtlinge ihre Botschaft weiter getragen und so manche Flüchtlinge schlossen sich ihnen auf dem weiteren Weg nach Berlin spontan an, darunter Mütter mit ihren Babys.
Am 3. Oktober traf der Busprotest in Rostock ein und wurde von Aktivist_innen aus der Flüchtlingsunterkunft und der Stop_it! Kampagne herzlich empfangen. Den Stopp in Rostock kündigte am 19. September eine Solidaritätskundgebung in der Stadt an, bei der u.a. Vertreter_innen der Stop_it! Kampagne, der IWW-Rostock (Industrial Workers of the World), ein Flüchtlingsaktivist und der migrationspolitische Sprecher der LINKEN, Hikmat Al-Sabty, die rassistischen Gesetze und die menschenunwürdige deutsche bzw. europäische Asylpolitik kritisierten, sowie Hürden eines Flüchtlingsprotestes deutlich machten.
Ankunft im Flüchtlingslager Wolgast
Die letzte Station des Busprotestes in MV war das Ende August eröffnete Flüchtlingslager in Wolgast. Erst kürzlich sorgte die Situation der Asylsuchenden in Wolgast für Aufsehen. Der Betreiber des Wolgaster Flüchtlingslagers (European Homecare) zeigte sich wenig erfreut an dem Besuch des Busprotestes und versuchte den Besucher_innen den Zutritt zum Flüchtlingslager zu verweigern; drohte schließlich sogar mit Polizei. Trotz der widrigen Umstände konnten Aktivist_innen viele Flüchtlinge in Wolgast über den Protest informieren. Einige von ihnen empfanden die Zwangsunterbringung in Wolgast schon nach kurzer Zeit als perspektivlos, bedrohlich und diskriminierend und schlossen sich kurzerhand dem Protest an.
Kurz vor der Abfahrt des Protestbusses versuchte die Leitung des Flüchtlingslagers den mittlerweile fast voll besetzten Bus zu betreten, um zu erfahren, welche Flüchtlinge aus Wolgast sich dem Protest angeschlossen hatten. Es wurde damit gedroht, die Polizei zu alarmieren und dem Busfahrer sowie der Busgruppe vorgeworfen, die Flüchtlinge aus Wolgast gegen ihren Willen zu „kidnappen“.
Ausser in Mecklenburg-Vorpommern machte der Marsch in vielen anderen Städten halt, um die Öffentlichkeit über die würdelosen Bedingungen für Flüchtlinge zu informieren. Auf ihrem Weg hatten die Flüchtlinge auch mit Drohungen von Neonazis zu kämpfen. Als sie vor dem Thüringer Landtag in Erfurt Halt machten, wurden sie von zehn NPD-Anhängern bedrängt, konnten sich aber erfolgreich gegen sie zur Wehr setzen. In Potsdam zog die NPD mit Lautsprecherwagen gegen den Protestmarsch, aber die lauten Rufe der Flüchtlinge und Unterstützer_innen übertönten die Hetztiraden.
Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Schon zwei Tage nach dem Marsch brach der Bundesinnenminister Friedrich eine neue „Asyldebatte“ vom Zaun. Auslöser sind die gestiegenen Zahlen von Flüchtlingen aus Serbien und Mazedonien. Friedrich meinte, mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Leistungsbezüge für Asylbewerber für zu niedrig erklärt, würde die BRD „attraktiv“ für Flüchtlinge. Mit dem „Hartz IV“-Satz, auf den das Urteil abhebt, können minimal die Grundbedürfnisse eine Menschen befriedigt werden, die Attraktion hält sich also in Grenzen. Nicht aber die Gründe für Flucht, wie Kriege, Hunger, Unterdrückung von Minderheiten. Der Kampf um die Einhaltung des Verfassungsgrundsatzes, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist, geht weiter…