Seit einiger Zeit berichten wir im Archipel regelmässig über die subsaharischen Migrantinnen und Migranten in Marokko. Als ich im Februar 2017 Emmanuel Mbolela(1) auf seiner Buchpräsentationstournee im Südosten Frankreichs kennenlernte, fasste ich den Entschluss, nach Rabat zu reisen, um die Frauen zu treffen, die dort im Frauenhaus des Vereins Baobab für einige Zeit Schutz finden.
Für einige Zeit nur, die jedoch umso wertvoller für sie ist angesichts der schrecklichen Odyssee, auf der sie sich befinden.
Über die Begegnungen mit diesen Frauen zu berichten ist nicht einfach aber notwendig. Sie brauchen Hilfe und kein Mensch, der ihnen begegnet ist, kann sie aus seinem Gedächtnis löschen. Sie sind die lebendigen Geister unserer Kolonialzeit, unserer Kriege, die Albträume unseres protegierten Wohlbefindens und zusätzlich Opfer des Frau-Seins. Wir werden zu Zeug·innen des Unakzeptablen.
Begegnung mit den Frauen
Das erste Treffen findet im Stadtviertel Hay Nahda(2) statt. Kleine Häuser und Reihen von Verkaufsständen und Werkstätten: Tischlereien, Schmiede-, Mechaniker- und Karosseriewerkstätten und andere lebensnotwendige Handwerksbetriebe. Dieses Viertel ist von Armut gezeichnet, aber weniger übersät mit Müll als andere Teile von Rabat.
Meine Begleiterin und ich betreten mit Emmanuel Mbolela eine Wohnung, deren Wohnzimmer voll ist mit Frauen und Kindern, die uns schon erwarten. Darauf war ich nicht gefasst; es findet gerade die monatliche Versammlung mit den Empfängerinnen der kleinen finanziellen Unterstützung statt, die ARCOM(3) denjenigen gibt, die ihre Kinder in der öffentlichen marokkanischen Schule eingeschult haben. Der Schulbesuch ist gratis, nicht aber das Lehrmaterial, geschweige denn ein Gabelfrühstück. Für die geflüchteten Frauen, die keinen Cent haben, ist es ohne die 10 Euro pro Monat kaum möglich, ihre Kinder einzuschulen. Es ist erst ein paar Jahre her, da war das noch nicht erlaubt – keine Einschulung für ausländische Kinder! Infolge der ersten Regularisierungswelle (von der vor allem in Marokko residierende Europäer·innen profitiert haben), wurde es möglich; Emmanuel, Raoul, Christie und Arlette, die Verantwortlichen von ARCOM, sind in dieser Frage sehr engagiert. Sie drängen darauf, dass die Kinder in die Schule gehen, die marokkanischen Kinder kennen lernen und sich mit ihnen mischen, was keine leichte Aufgabe ist. Denn es herrscht immer noch Rassismus und Xenophobie gegenüber den Schwarzafrikaner·innen in Marokko und leider reflektieren gerade die Kinder oft das, was ihnen von den Erwachsenen vermittelt wird. Verbale aber auch handgreifliche rassistische Aggressionen sind hier alltäglich und oft müssen die kleinen subsaharischen Schulkinder als Zielscheibe herhalten; im Schulhof fängt der schmerzhafte Integrationsprozess an. Arabisch zu lernen ist noch dazu schwer für die zumeist französisch sprechenden Kinder. Das braucht Zeit, Geduld und Unterstützung, die nicht immer möglich ist. Die einzige Unterstützung sind ihre Mütter, die jedoch nicht Arabisch sprechen und die ihre Zeit damit verbringen, das Überlebensnotwendige wie eine Unterkunft und Essen und vielleicht etwas Geld zu suchen – Geld, das ihnen so sehr fehlt, dass sie schon froh sind, wenn sie ihre Arbeitskraft irgendwo auf dem übersättigten Arbeitsmarkt verkaufen können. Das ist aber bereits die optimistische Version, andere sind noch wesentlich schlimmer.
Die Erfahrung des Lebens auf der Strasse, die sie alle machen mussten, hat sie gelehrt, dass man sich nicht gehen lassen darf. Die traumatischen Erlebnisse bleiben in ihrem Gedächtnis – in Körper und Geist. Sie wurden zu Sklavinnen, eine Unterklasse ohne Rechte, zum Abfall einer inhumanen Gesellschaft, die offensichtlich ohne Skrupel ihre Zeitgenoss·innen im Stich lässt.
Das Unvorstellbare hören und verstehen
Mithilfe meines Aufnahmegeräts möchte ich Zeugenaussagen über die verschiedenen durchgemachten Reisen sammeln und ich denke mir, dass es vielleicht interessant wäre die Diskussion, die gleich beginnen soll, aufzunehmen. Doch ich hole mein Gerät nicht heraus; wir kennen uns noch nicht und ich möchte auf keinen Fall, dass die Frauen denken, ich sähe sie als sonderliche Schauobjekte. Ich fasse meinen ganzen Mut zusammen und stelle mich vor: Ich bin gekommen um sie zu treffen, ihre Projekte kennen zu lernen, ihre Kämpfe, die Realität eines Lebens, von dem wir so weit weg sind und das wir uns nicht vorstellen können. Und ich will später darüber berichten, weil ihre Geschichten nicht in die Vergessenheit der grossen Weltgeschichte fallen dürfen. Ich habe keine Möglichkeiten, sie über das Mittelmeer nach Europa zu bringen, wir können jedoch versuchen, da wir in einem reichen Land leben (wissend, dass unser Reichtum direkt mit ihrer Armut zusammenhängt), Unterstützung für die so wertvollen Projekte zu finden, die unsere Freunde und Freundinnen von ARCOM und AEI (Afrique-Europe-Interact) hier aufgebaut haben.
Ich erzähle ihnen von unserem unkommerziellen Radiosender Zinzine in Südfrankreich, von der Longo maï-Kooperative, in der ich lebe, von Selbstverwaltung, kollektivem Leben, von unserem Bestreben ein soziales und wirtschaftliches System, das durch Solidarität funktioniert aufzubauen, dass wir kein privates Einkommen, sondern eine gemeinsame Kasse haben… Ich sehe, wie gespannt sie zuhören, wie aufmerksam und erstaunt sie meinen Ausführungen folgen. Dann frage ich sie, ob ich ihre Erzählungen aufnehmen darf und so beginnen wir mit einem Austausch von Berichten, Forderungen, Vorschlägen. Sie erzählen mir von ihrer Hoffnungslosigkeit, ihrem täglichen Überlebenskampf, ihrer Einsamkeit und der Solidarität untereinander. Sie beeindrucken mich und ich merke, dass es nicht nur darum geht, humanitäre Projekte zu ermöglich, sondern auch und vor allem, dass man kämpfen muss; kämpfen um den Platz, der ihnen als Menschen zusteht. Diesen Platz nicht einfordern, sondern erkämpfen und behaupten, als wäre es die grösste Selbstverständlichkeit.
Ich erzähle ihnen von unseren Freundinnen und Freunden in Bamako, die im Lokal von Radio Kayira4 einen Raum für Ausbildung und Forschung, eine Nähstube und andere kleine Werkstätten eingerichtet haben, für alle, die etwas lehren, lernen oder produzieren wollten. Die Gesichter einiger Frauen im Raum leuchten auf. Sie stellen sich vor, wie sie sich als Frisöse, Köchin, Schneiderin, Studierende, Sprachen Lernende und die Kinder abwechselnd hütend, in einem solchen Projekt einbringen könnten. Eine von ihnen tritt hervor und meint: «Ja, so etwas könnten wir auch anfangen; wir können ja allerhand, haben eine Ausbildung oder studiert, wir schaffen es, etwas aufzubauen, uns zu organisieren!» In dem Moment beginne ich zu verstehen, dass die andauernde Gewalt, die diese Frauen erleiden, sie völlig ihrer Identität und jeglichen Lebensinhalts beraubt hat: Sie sind nichts mehr als leidende Körper auf der Suche nach ein paar Krümeln unterbezahlter Hausarbeit.
In den nächsten Tagen gehen wir von Wohnung zu Wohnung, um jeder Einzelnen vorzuschlagen zu sprechen. Es wollen nicht alle; es ist schwierig, seine Geschichte zu erzählen, wenn alles noch so frisch und keine Wunde verheilt ist, die Traumata enorm sind, oft Kinder zurück bleiben mussten... Tränen schiessen ihnen in die Augen und die Aussichtslosigkeit ihrer Situation, die Unmöglichkeit, sich irgendeine Zukunft vorzustellen, verstärkt ihre Verzweiflung. Wenn sie in zwei, drei Monaten das Frauenhaus verlassen müssen, weil Andere nachkommen, die den schützenden Aufenthalt hier genauso dringend brauchen, was werden sie machen? Viele von ihnen sind vor der Zwangsehe, vor der Beschneidung, der Prostitution oder den Risiken, denen sie, wenn ihr Mann im Kampf getötet wurde, ausgesetzt waren, geflohen. Viele kommen mit Babys und Kleinkindern nach Marokko, die bei der «Bezahlung» der Überfahrt entstanden sind. Die Verletzbarkeit dieser, zumeist sehr jungen Frauen kennt keine Grenzen. Ich frage sie, ob sie irgendeine Idee für ihre Zukunft haben. Eine Einzige antwortet mir: «Ich möchte mich später um alte Leute kümmern, sie berühren mich, weil sie gleichzeitig so zerbrechlich und so reich an Erfahrung und Wissen sind.» Die Anderen haben keine Vorstellungen, nur irgendeine Arbeit finden, um leben zu können, ein bisschen Geld um die Kinder durchzubringen und vor allem: nicht mehr gezwungen sein, unter grauenvollen Bedingungen seinen Körper zu verkaufen.
Christie und Arlette bemühen sich sehr, Arbeit oder eine Ausbildung für die Frauen zu finden, aber das ist nicht immer erfolgreich und einige verlassen das Frauenhaus zwar mit etwas mehr Energie, jedoch mit der Angst im Bauch, wieder in der brutalen Gewalt ausgesetzt zu sein, von der sie für ein paar Monate befreit waren.
Traum oder Möglichkeit?
In seiner redegewaltigen Ansprache über Integration, beim 28. Gipfeltreffen der Afrikanischen Union, Anfang dieses Jahres, hat Mohammed VI, der König von Marokko, seinen «afrikanischen Brüdern Regularisierung und Schutz, der lebensnotwendig ist für diese Frauen und Männer, die schon zu lange unter der Illegalität gelitten haben» versprochen. Bis jetzt hat sich für die subsaharischen Geflüchteten jedoch kaum etwas geändert. ARCOM setzt sich seit der Erweiterung des Aufenthaltsrechts für Ausländer·innen stark für die Regularisierung der Frauen im Frauenhaus ein. Die Einschulung der Kinder bringt für deren Mütter einen minimalen Schutz mit sich: das Recht auf Arbeit und Anspruch auf medizinische Versorgung. Die neue Gesetzeslage wird jedoch nicht von einer entsprechenden Behörde begleitet und verwaltet. Ausserdem sind gleichzeitig – wie zufällig – die Servicepreise im Konsulat gestiegen und es ist schwierig die hohen Summen für die Dokumente aufzutreiben, die bei Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung verlangt werden. Demzufolge sind wieder einmal die immigrierten Europäer·innen die hauptsächlichen Nutzniesser·innen der neuen Gesetze – die koloniale Hydra ist nach wie vor stark, wenn auch besser geschminkt.
Dazu kommt eine grosse Arbeitslosigkeit, vor allem unter der Jugend. 64 Prozent der Arbeitslosen sind zwischen 15 und 29 Jahre alt, so wie die meisten Migrant·innen. Wir können uns die zumeist rassistischen Reaktionen gegenüber den Menschen, die, auf der Suche nach einem besseren Leben, zu wirtschaftlich Ausgestossenen eines Aasgeier-Systems geworden sind, ausmalen. Andererseits benützt die Gesellschaft sie, je nach Bedarf, als billige Handlanger und profitiert von ihrer Rechtlosigkeit.
Nachdem es hier kaum Arbeit gibt und die Kompetenzen der subsaharischen Frauen nicht anerkannt sind und dementsprechend keinen Wert haben, die Bedürfnisse eines Menschen aber nicht nur das nackte Überleben, sondern ein würdiges Leben sind, haben wir angefangen einen Ort zu erträumen: Einen Ort hier in Rabat, an dem man etwas aufbauen, etwas realisieren kann, wo man zu sich und zu den anderen finden, sich austauschen, Sachen herstellen kann, wo man solidarisch ist, etwas lernen oder anderen beibringen, wieder man selbst werden, sein Schicksal in die Hand nehmen kann. Wo man wieder die Wahl hat, etwas wollen und begehren darf. Ein Ort, an dem nicht Macht und Konkurrenz das Wichtigste sind, sondern Freiheit, wo Sklaverei endgültig verbannt ist, und wo sich die Menschen verschiedener Herkunft, verschiedenen Geschlechts und verschiedenen Alters miteinander in Bewegung setzen, um die Rahmenbedingungen der Unterdrückung abzubauen.
Werden wir es schaffen, diesen Ort zu er-finden?
- Emmanuel Mbolela, Gründer von ARCOM und Autor des Buches: Mein Weg vom Kongo nach Europa
- Stadtviertel im äusseren westlichen Teil Rabats
- ARCOM, Verein der subsaharischen Flüchtlinge und Gemeinden in Marokko
- Radio Kayira entstand Anfang der 90er Jahre in Bamako, der Hauptstadt von Mali. Unterstützt von Radio Zinzine und dem Europäischen BüregerInnenforum hat es sich zu einem der wichtigsten freien Medien entwickelt. In den ersten Jahren realisierte es mehrere kollektive Projekte.