Die Hölle bleibt zwar ein Traumbild in der religiösen Vorstellung, aber sie ist auch eine alltägliche Realität von Menschen, die keine andere Wahl haben, als ihre Länder, Dörfer oder Familien zu verlassen. Viele von ihnen kommen aus Subsahara-Afrika und bleiben in Marokko blockiert.
Diese Migrant·innen erleben «die Hölle auf Erden» – ein Konzept, das mir durch die religiöse Kultur, die meine Kindheit geprägt hat, nicht vermittelt wurde. Wofür werden diese Menschen bestraft? Welches menschenfeindliche System ist da am Werk? Ein Mann auf der Flucht erlebt schlimme und oft lebensgefährliche Situationen; eine Frau oder Person aus der LGBTQI+ Gemeinschaft auf dem Weg ins Exil macht eine doppelte oder sogar dreifache Strafe durch.
Ganz unten in der Gesellschaft
Als ich kürzlich wieder in Marokko war, wurde ich sowohl mit der Situation der einheimischen Frauen konfrontiert als auch mit dem Schicksal von Migrantinnen aus den subsaharischen Ländern. Anlässlich meines Aufenthalts hatte ich die Gelegenheit, die Verantwortlichen des Verlagshauses «En toutes lettres» zu treffen. Sie feierten ihr zehnjähriges Bestehen und erzählten von ihrem Werdegang und ihren Kämpfen, um in einem eher feindlichen politischen Umfeld zu bestehen. Ihre investigative Arbeit zu gesellschaftlichen und politischen Themen wird von dem Bestreben begleitet, diese an junge Journalist·innen in der Ausbildung weiterzuvermitteln. Ich hatte mit Hicham Houdaïfa und Kenza Sefrioui, Gründer und Gründerin dieses Verlages, ein interessantes Gespräch. Die beiden haben Untersuchungen über die Arbeit von Frauen in Marokko durchgeführt. Es handelt sich hauptsächlich um Aussagen und Analysen über marokkanische Frauen, die das letzte Glied in der Gesellschaft darstellen. Es wäre interessant, die gleichen Untersuchungen über die Ausbeutung von exilierten Frauen aus Subsahara-Afrika durchzuführen, die ihrerseits ganz unten stehen.
Natürlich stehen die Migrantinnen am tiefsten auf der sozialen Leiter, aber die Zahlen über die Wirtschaftssektoren, in denen marokkanische Frauen ausgebeutet werden, sind nicht viel besser. Ein Beispiel, das uns die schreckliche Situation vor Augen führt: Am 8. Februar 2021 starben in Tanger 28 Menschen, von ihnen 20 Frauen, in den Kellern einer Textilfabrik. Die Opfer ertranken, nachdem die Fabrik von starken Regenfällen überschwemmt worden war. Die meisten von ihnen waren nicht bei der Nationalen Sozialversicherungskasse angemeldet. Die Empörung war kurzlebig; das Drama schnell vergessen. Wenn also Marokkanerinnen unter solchen Bedingungen in ihrem Land arbeiten und sterben, wie sieht dann das Schicksal von subsaharischen Migrantinnen aus – Frauen, schwarz, ohne Papiere, mit (oft ungewollten) Kindern –, die auf endlosen Migrationswegen die schlimmsten Gräueltaten erlitten haben?
Lange Tage der Ausbeutung
Yvonne stammt aus Guinea. Sie verliess Konakry im Jahr 2018 wegen ihrer sexuellen Orientierung, die in ihrem Land nicht erlaubt ist. Sie wurde von ihrer eigenen Familie mit dem Tod bedroht und floh nach Libyen. Nachdem sie drei Monate lang in einem Bordell festgehalten worden war, entkam sie und erreichte Anfang 2019 Marokko. Im «Rasthaus für Frauen auf der Flucht» von der Selbsthilfeorganisation ARCOM1 fand sie in hochschwangerem Zustand Schutz und konnte in Sicherheit entbinden. Aber das Rasthaus konnte nur einen dreimonatigen Aufenthalt anbieten, danach musste Yvonne wieder abreisen, in ihr (Über-)Leben als alleinstehende Migrantin in Marokko zurückkehren und Arbeit finden, um dieses ungewollte Kind zu versorgen, das sie trotz allem liebt, «weil Gott es so gewollt hat». Von Dakhla in der Westsahara, wo sie sich auf Gemüsefarmen versklavt hatte, erreichte sie mit verbrannten Händen und Füssen Oujda im Nordosten; dort fand sie aber keine Arbeit. Schliesslich landete Yvonne in Casablanca, wo sie unregelmässig in einer Textilfabrik arbeitet, die ihr 8 € für 12 Stunden Arbeit bezahlt. Sie geht früh morgens los, lässt ihre Tochter bei einer Tagesmutter und schliesst sich ein paar Dutzend Frauen an, die vor der Fabrik darauf warten, eine der Glücklichen eines endlosen Tages der Ausbeutung sein zu dürfen. Dieses fragwürdige «Privileg» ist nicht alltäglich. Prisca hat bisher unter einem löchrigen Sonnenschirm Produkte aus Subsahara-Afrika verkauft, von wo sie herkommt. Sie leidet direkt unter der rassistischen Migrationspolitik Europas und seiner verbündeten Regierungen. Die zunehmende Repression in den marokkanischen Grossstädten will die schwarzen Menschen vertreiben und die kleinen Geschäfte zerschlagen, deren einzige Kund·innen Migrant·innen sind. Prisca ist 50 Jahre alt und steht um 5 Uhr morgens auf, um zusätzlich vor den Türen der Marokkaner·innen zu fegen. Gelegentlich geht sie auch putzen, was ihren Körper schwer belastet. Doch sie wird nicht aufgeben, weil sie will, dass ihr Sohn einst studieren kann. Das ist ihre einzige Hoffnung für die Zukunft.
Aurore ist in einem Callcenter angestellt. Sie oder eine ihrer Kolleginnnen ist es, die wir am Telefon haben, wenn wir Probleme mit unseren Telefon- oder Stromrechnungen haben. Ihr wurden zwei Visa für Frankreich verweigert, aber sie weiss, wo unser Stromzähler ist. Sie muss sich psychologisch feinfühlig verhalten, damit fragile Menschen nicht ausrasten und sie beschimpfen, da sie sonst Gefahr läuft, von ihren Aufseher·innen gemassregelt zu werden. Sie arbeitet 10 Stunden am Tag, 6 Tage die Woche und erhält 450 € im Monat, manchmal mit einer kleinen Prämie entsprechend der Leistung. Sie hat diese Arbeit angenommen um ihre zwei kleinen Kinder aufziehen zu können und bald ein drittes, das sie auf die Welt bringen wird. Nach der Geburt des Kindes kann sie ihre Stelle zwar wieder antreten, wird aber ein Jahr lang nicht mehr bezahlt. Sie sagt, sie sei eben am Schluss der ganzen Konkurrenz-Kette. Zuerst kommen das Unternehmen und die oberste Direktion. Dann folgen alle Kader-Stufen – von den Manager·innen, Supervisor·innen bis hin zu den Aufseher·innen. Und eben ganz am Ende stehen diejenigen – wie sie –, an denen man sich abreagieren kann, wenn auf irgendeiner Ebene etwas nicht so läuft wie vorgesehen.
Unerwünscht in Nador
Ich sitze auf einer Terrasse in Nador im Nordosten des Landes bei einem Kaffee und höre Rodrigues zu, wie er mir vom «Wald» erzählt, der sich auf dem Berg Gourourou befindet und Tausende von Geflüchteten beherbergt, die darauf warten, in die spanische Enklave Melilla zu gelangen und damit nach Europa. Das Leben im «Wald» ist hierarchisch anhand verschiedener Codes und Rituale gegliedert. Es gibt dort ein paar Frauen, aber die Mehrheit sind Männer. Rodrigues ist seit 22 Jahren dort – ein lebendiges Monument der Migrationsgeschichte in dieser Region Marokkos. Er erklärt mir, dass die starke Repression Wirkung gezeigt hat, weil die Stadt heute von den unerwünschten Menschen «gesäubert» sei. Sie müssen sich verstecken, weil sie jeden Moment Gefahr laufen, verhaftet und wie Tiere in abgelegene Dörfer im Süden deportiert zu werden. Doch plötzlich taucht eine junge schwarze Frau auf, die wie ein Geist die Strasse überquert. Ich schaue Rodrigues fragend an und er antwortet: «Ach ja, sie ist gekommen ist, um zu kämpfen. Nichts wird sie aufhalten können.» Der Satz klingt in mir nach: «Sie ist gekommen, um zu kämpfen». Diese Frau und die anderen Frauen sind gekommen, um zu kämpfen; sie kämpfen seit Beginn ihrer Reise und sie werden bis zum Ende ihrer Tage kämpfen! Leider wird Mut nicht bezahlt, sonst wären alle diese Frauen mindestens Millionärinnen.
Marie-Pascale Rouff
- ARCOM – Association des Réfugié·es et Communautés migrantes = Verein der Geflüchteten und Gemeinschaften von Migrant·innen.