Das Jahr 2011 wurde durch einen populären Aufschrei wachgerüttelt: „Verschwinde!“ Zuerst in Tunesien, wo am 14. Januar der Diktator Ben Ali durch eine ebenso starke wie auch unerwartete Bewegung weggefegt wurde; anschließend erging es Mubarak am 11. Februar in Ägypten ebenso. Die Völker vom Maghreb bis zum Maschrek1 lehnen sich auf, organisieren sich selber, besetzen die Strassen auf friedliche Weise, wehren sich gegen die Repression, überwinden ihre Angst und erheben ihre Stimme: „Chaab Yourid“ (das Volk will). (Erster Teil)
In Marokko gingen die Demonstranten in mehreren Städten und ländlichen Zonen am 20. Februar auf die Strasse, um die Völker von Tunesien und Ägypten zu unterstützen und eine umfassende Änderung zu verlangen. Sie folgten einem Aufruf von jungen Aufständischen. Ein Jahr nach dem 20. Februar 2011 geht die Bewegung vom 20. Februar (B20F) weiter, sucht sich, formt und entwickelt sich, obwohl in den Medien wenig davon zu hören ist. Wie alle anderen Länder leidet auch Marokko unter den Auswirkungen der weltweiten Krise. Die Bevölkerung ist dem Diktat der liberalen Maßnahmen unterworfen, die vom IWF und der Weltbank aufgezwungen werden, was zu Elend, Arbeitslosigkeit, Privatisierungen und Verschuldung führt. Sie kämpft gegen ein despotisches Regime und gegen die Konsequenzen der Marktwirtschaft. Am 20. Februar gingen die Leute auf die Strasse, wehrten sich gegen die Repression und entdeckten ihre Kraft und Entschlossenheit. Neue Formen des Kampfes, neue Parolen und eine kollektive und individuelle Kreativität tauchten auf. Die traditionellen politischen Formen sind überholt und ausgehöhlt. Die traditionellen linken wie auch rechten Parteien, die mit dem Makhzen2 zusammenarbeiteten, verloren jegliche Glaubwürdigkeit. Diese Parteien und die gewerkschaftliche Bürokratie beteiligen sich nicht an der Bewegung und verurteilen diese sogar. Sie fürchten zu sehr um ihre Privilegien, von denen sie während den Jahren der Kollaboration profitieren konnten.
In den Städten werden überflüssige und ruinöse Projekte denunziert, wie auch vergebene Aufträge ohne Ausschreibungen und Transparenz, die Komplizität und Korruption der Volksvertreter, die Immobilienspekulation, die Ausweisung aus Wohnungen und die Zerstörung von Häusern, die schlechte Verwaltung der Städte. Öffentliche Einrichtungen werden gefordert: Jugendhäuser, eine gute Gesundheitsversorgung, qualifizierte Schulen für alle und die Ausweisung von Unternehmen, welche die Auflagen für Wasserversorgung, Kanalisationen und Abfallentsorgung nicht respektieren. Die Bewegung verlangt eine lokale Umverteilung des Reichtums, direkte Demokratie, Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit.
Auf dem Land kämpfen die Bauern gegen den Ausverkauf ihrer Böden durch Agroindustriemultis. Die Landarbeiter protestieren gegen ihre sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen: keine Lohnabrechnungen, kein Mindestlohn und sexuelle Belästigungen der Landarbeiterinnen. Der Kampf der Arbeiter auf den Höfen in königlichem Besitz in Dakhla ist dafür beispielhaft3. In den kleinen Dörfern wehren sich Frauen gegen die Konsequenzen der Kleinkredite und der Verschuldung. Sie unterzeichneten betrügerische Dokumente ohne lesen und schreiben zu können und befanden sich so auf der Strasse, ohne Besitz und Wohnung. Sie verstanden nicht, was hier eigentlich vorging.
Die Frauen engagieren sich zahlreich in der Bewegung für das Recht auf Schule, Gesundheit und Wohnung, gegen das teure Leben und gegen die ständig größeren Rechnungen von Wasser und Elektrizität.
Das Rif: Ein Vulkan wacht auf
Die Region des Rif war lange vor der B20F in Aufruhr. Die Kämpfe in verschiedenen sozialen Bereichen radikalisieren und organisieren sich. Das Porträt von Abd-el-krim4 und die Fahne der Republik des Rif werden während den Demonstrationen gehisst. Die lokale Sektion des nationalen Vereins der diplomierten Arbeitslosen (ANDCM) und die Jungen der B20F sind die wichtigsten Vertreter im Rif. Sie verlangen Arbeitsplätze und wollen sich an der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung in der Gegend beteiligen. Eine Generation, die sich entschlossen hat, in ihrer Region zu leben und zu kämpfen. Sie hat ihre Wurzeln in der verdrängten Geschichte der Vergangenheit: gegen den Kolonialismus und für die Republik des Rif, die Jahre des Terrors von Hassan II., damals noch Thronfolger (seit 1957), unmittelbar nach der Unabhängigkeit (1956). Hassan II. praktizierte im Rif eine Politik der verbrannten Erde. Das Rif wurde abgesondert und von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ausgeschlossen. Einerseits Elend und Repression, andererseits Korruption, Schwarzhandel (vor allem auch mit Haschisch) und die Vereinnahmung der Elite durch den Makhzen...
2004 ereignete sich im Rif ein schweres Erdbeben: Tausende von Toten unter den Trümmern, viele Opfer ohne Hilfe. Der König Mohammed VI. bestieg den Thron 1999; er erinnerte sich, dass das Rif zu seinem Königreich gehört und dass sich in dieser Region große unausgebeutete Bodenschätze befinden. Er schickte seine Berater für Nachforschungen, vereinnahmte die lokale Elite. Es wurde von einer Aufwertung der Gegend und von Versöhnung mit dem Rif geredet. Ohne Übergang trat das Zeitalter der Globalisierung ein. Die Geschäfte liefen, es wurde spekuliert, man eröffnete Baustellen, der Tourismus florierte, die Strände waren wunderschön wild. Der König und seine Vertreter kauften Boden, Strände und Berge. Der Rif wurde ein neues Eldorado. Aber wie bei jedem Eldorado, was geschieht mit der ansässigen Bevölkerung? Enteignung von Grundstücken, Mangel an Sozialwohnungen, sanitären Installationen, Schulen und Gesundheitsversorgung, Zerstörung der lokalen Landwirtschaft und sozialen Strukturen, Einführung von Krediten und Verschuldung... Die Mechanismen der ausufernden Konsumgesellschaft und der Abhängigkeit setzten ein, die Globalisierung verführte und die Folgeschäden ließen nicht auf sich warten.
Die neue Generation hat begriffen, dass gehandelt werden muss.
Der Appell zur Demonstration vom 20. Februar 2011 fand im Rif grosses Echo: mehr als 30'000 Demonstranten in Al- Hoceima. Die Polizeikräfte waren überfordert, auf Tränengas folgten Steinwürfe. Die Armee griff zur Verstärkung ein. Gebäude der Regierung, Polizeiposten und die Präfektur wurden niedergebrannt. Die Auseinandersetzungen gingen die ganze Nacht weiter. Seither führen die Jungen den Kampf weiter, vor allem für Arbeitsplätze. Aber der Makhzen intrigiert im Hintergrund mit seinen zahlreichen Projekten und Vereinen. Der König kam auf Besuch und versprach neue Arbeitsplätze. Parallel dazu ging die Repression weiter und Ausschreitungen gegen die Jungen durch königstreue Banden, die so genannten „baltagias“ sind an der Tagesordnung.
- Ein ungenauer Begriff, der i.a. die Länder im Osten Lybiens und im Norden Saudiarabiens umfasst (Ägypten, Palästina, Israel, Jordanien, Libanon, Syrien, Israel).
- Makhzen bezeichnet die entscheidende Machtposition des Königs und seines Umfeldes; seine Berater, Funktionäre, Vertreter aus der Wirtschaft, Stammesführer…
- Siehe Kasten Kämpfe marokkanischer LandarbeiterInnen, Seite 4.
- Abd el-Krim el Khatabi gewann die Schlacht von Annual gegen die Spanier. Anschließend führte er den Krieg gegen das französische Marokko und musste 1926 kapitulieren.
Kämpfe marokkanischer LandarbeiterInnen
In Marokko finden zurzeit bedeutende Kämpfe von LandarbeiterInnen statt, die für grosse Gemüse- und Obstanbaubetriebe und Verpackungsunternehmen arbeiten. Zuerst hatte eine Gruppe von fünfzehn Landarbeitern den Kampf gegen den Riesen der marokkanischen Landwirtschaft aufgenommen, die königliche Société des Domaines Agricoles (ehemals Domaines Royaux). Die 15 Landarbeiter verloren im Sommer 2010 ihre Arbeit in den Gewächshäusern von Tiniguir bei Dakhla (Westsahara), als über hundert Arbeiter einer missbräuchlichen Entlassungswelle zum Opfer fielen. In den Gemüseanbaubetrieben über den Grundwasserquellen in der Wüste vor Dakhla werden vor allem Tomaten für den Europäischen Markt produziert. Die Arbeiter prangern die Umstände der Entlassungen an. Diese seien motiviert durch die Absicht der Arbeitgeber, auf Leiharbeitsfirmen zurückzugreifen und so die festen Arbeitsverhältnisse aufzulösen, welche den Arbeitern Zugang zu grundlegenden Rechten wie z.B. Dienstalterszulagen gewähren. Die Gruppe von 15 betroffenen Arbeitern führt seit Monaten einen hartnäckigen Kampf. Nach einem fünfmonatigen Sitzstreik vor dem Arbeitsamt in Dakhla, welcher ohne Antwort seitens der Behörden blieb, haben sie Anfang November 2011 ihre Aktion vor die Büros der Domaines Agricoles in Casablanca verlegt. Unterstützt werden sie durch den landwirtschaftlichen Gewerkschaftsbund der „Fédération Nationale du Secteur Agricole de l’Union Marocaine de Travail“ (FNSA-UMT). Dieser Kampf ist sehr bedeutend angesichts der Tatsache, dass es die Landarbeiter gewagt haben, sich mit der übermächtigen Domaines Agricoles anzulegen. Das königliche Unternehmen bearbeitet 12‘000 Hektar Landwirtschaftsland und schreibt einen jährlichen Umsatz von 150 Millionen Dollar.Der Gewerkschaftsbund FNSA hatte für den 2. Januar 2012 eine Solidaritätskarawane von Rabat nach Casablanca geplant. Viele Solidaritätsbekundungen, darunter auch ein Brief des Europäischen BürgerInnenforums1, bewegten die marokkanischen Behörden, Verhandlungen zu akzeptieren, die unter der Aufsicht des Wali (Lokalgouverneur) standen. Daraufhin hat sich der Gewerkschaftsbund entschlossen das Sit-in und die Solidaritätskaravane einstweilen abzubrechen. Nach drei Wochen mussten sie jedoch feststellen, dass es zu keinerlei Fortschritten bei den Verhandlungen gekommen war. Die Versprechen der Domaines Agricoles, entlassene Arbeiter wieder einzustellen und ihnen Schadenersatz zu zahlen, wurden nicht eingehalten. Die FNSA hat dementsprechend angekündigt das Sit-in wieder aufzunehmen. Die FNSA unterstützt auch in Azrou bei Agadir den Kampf der Arbeiterinnen der marokkanischen Spinnerei Nufribel des spanischen Exportunternehmens Nufri, das auch auf die Verpackung von Obst und Gemüse spezialisiert ist. Diese Firma nützt seit mehreren Jahren die 50 angestellten Frauen aus und missachtet grundlegende Arbeitsrechte. Dieses Vorgehen hat die Arbeiterinnen dazu bewogen der Gewerkschaft FNSA beizutreten. Der erzürnte Chef lancierte daraufhin eine Einschüchterungskampagne und entliess fünf Arbeiterinnen, unter ihnen eine Gewerkschaftsdelegierte. Als Reaktion darauf organisierten die Arbeiterinnen am 22. Dezember ein erstes Sit-in vor den Toren des Unternehmens in Azrou und ein Weiteres seit dem 30. Dezember 2011. Die FNSA2 hat einen Aufruf für internationale Unterstützung dieser Kämpfe verbreitet. Die marokkanische Regierung bemüht sich zurzeit sehr um ihr demokratisches Ansehen, Interventionen aus dem Ausland können daher einiges bewirken. Im nächsten Archipel werden wir einen Hintergrundbericht über Marokko veröffentlichen.
Nicholas Bell, EBF Frankreich
- FNSA, BP 2511, RP-Rabat, Maroc, fnsaumt(at)yahoo.fr