Der Grund unserer Reise nach Marokko war eine Konferenz in Rabat, die anlässlich des zweiten Jahrestages des gewaltsamen Todes von dutzenden Migrant_innen abgehalten wurde, die damals in kleinen Booten die spanische Stadt Ceuta erreichen wollten.
Sie wurden am 6. Februar 2014 von Kugeln getroffen, die von der Guardia Civil abgefeuert wurden. Nur 15 Leichen wurden gefunden. Die 23 Migranten, die lebend die Küste erreichten, wurden sofort nach Marokko zurückgeschoben. Das Gerichtsverfahren, das nach den Ereignissen gegen die verantwortlichen Polizisten der Guardia Civil eröffnet worden war, wurde am 16. Oktober 2015 fallengelassen und endete mit Freisprüchen für alle beteiligten Polizeikräfte.
Gemeinsam mit dem Aktivisten und Buchautor Emmanuel Mbolela1 und vielen anderen Mit-streiter_innen aus Deutschland, Frankreich, Holland, Marokko, dem Kongo, Guinea-Conakry, der Cote d’Ivoire und anderen Subsahara-Ländern nahm ich an der Konferenz teil. Insgesamt waren rund 400 Menschen gekommen. Das Ziel bestand darin, die Kräfte des Widerstands erneut zu bündeln, den marokkanischen Staat für sein brutales Vorgehen gegen die Flüchtlinge zu kritisieren und die Externalisierung der europäischen Migrationspolitik anzugreifen. Außerdem wurde gefordert, die Guardia Civil für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.
Zu Beginn der Konferenz wurde schnell klar, dass den versammelten Migrantinnen und Migranten nicht zum Spassen zumute war. Die Stimmung war enorm aufgeladen, die Teilnehmenden zum Äussersten entschlossen. Kämpferische Redebeiträge und Aussagen Betroffener, die konzentriert angehört wurden, wechselten mit laut gerufenen Parolen ab, die zum Ausdruck brachten, dass die Gewalt endlich beendet werden müsse.
Misshandlung der Flüchtenden
Nach und nach erfuhren wir mehr über die aktuelle Situation: Marokko setzt seit rund zwei Jahren alles daran, die Migrant_in-nen, die in den Wäldern von Belyounech und Gourougou, also in den Gebieten vor den Grenzzäunen von Ceuta und Melilla unter notdürftigsten Bedingungen campieren, zu vertreiben. Bei diesen Vertreibungen kommt es zu unglaublichen Gewaltexzessen von Seiten der marokkanischen Polizei. Männer, Frauen mit Kindern, ja sogar schwangere Frauen werden in Polizeibusse verfrachtet, ihre Plastikplanen, ihre Decken und ihr gesamtes Hab und Gut werden an Ort und Stelle verbrannt. Die Betroffenen werden sodann in Zellen gesperrt und verprügelt, die Frauen werden Opfer von Vergewaltigungen. Abschließend verfrachtet die Polizei die Geflüchteten an verschiedene Orte in Marokko und lässt sie einfach auf den Straßen. So trafen wir mehrere junge Männer aus Kamerun, Mali und Guinea, die just in den Tagen unseres Aufenthalts mit gebrochenen Armen und Beinen, die nur notdürftigst verbundenen waren, in Rabat gestrandet waren. Einer von ihnen, ein vielleicht zwanzigjähriger Malier, konnte aufgrund der Verletzungen, die ihm die marokkanischen Polizisten zugefügt hatten, nicht an der Konferenz teilnehmen. Gemeinsam mit Emmanuel Mbolela und anderen Aktivist_innen besuchten wir ihn in einer dunklen und muffigen Zweizimmerwohnung im Stadtteil Takkadoum, die sich 10 oder 15 Flüchtlinge teilen mussten und die von löchrigen Matratzen übersät war. Doch es gibt andere, die es noch schlimmer getroffen hat: sie schliefen in einer Gruppe zu fünfzigst unter einer Brücke in der Nähe des Busbahnhofs im Stadtteil Kamra, wo man auf sie herabspuckte und -urinierte und wo sie der Aggression von Banditen und Polizisten ausgesetzt waren.
Die neue Strategie der Regierung
Durch zahlreiche Gespräche mit Geflüchteten sowie mit marokkanischen Menschenrechts-aktivist_innen erfuhren wir, dass die marokkanische Politik ihre Strategie langsam ändert. Die ener-gischen Kämpfe der Geflüchteten und ihrer Unterstützer_innen haben dazu geführt, dass sich eine neue, widersprüchliche Konstellation herausgebildet hat.
Erstens: Anders als vor rund zehn Jahren, als Emmanuel Mbolela in Rabat die ARCOM (Vereinigung der kongolesischen Migrant_innen und Asylsuchenden in Marokko) gründete, werden die Menschen heute nicht mehr – oder zumindest viel seltener – in die Wüste abgeschoben. Auch in den großen Städten wie Rabat finden seltener Razzien statt, wie das Emmanuel Mbolela noch in seinem Buch beschrieben hat.
Zweitens: Marokko hat auf ein Geheiß des Königs eine Legalisierungskampagne veranlasst, die es Migrant_innen ermöglichte, vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2014 einen entsprechenden Antrag zu stellen. Laut einem Bericht der Organisation GADEM (antirassistische Gruppe für die Begleitung und die Verteidigung der Ausländer_innen und Migrant_innen), der im Dezember 2015 erschien, wurden 18.694 Personen legalisiert, davon rund 8.000 subsaharische Flüchtlinge. Am 9. Februar 2015 erklärte der marokkanische Innenminister bei einer Pressekonferenz die Prüfung der Anträge für abgeschlossen – wenige Stunden später, am Morgen des 10. Februar 2015 begann eine fürchterliche Repressionswelle gegen die im Norden verbliebenen Migrant_innen, die sich nicht legalisieren konnten. Das «Kollektiv der subsaharischen Gemeinden in Marokko» (CCSM) gab am 19. Februar 2015 bekannt, dass allein in der Region von Nador 1.200 Menschen festgenommen und eingesperrt worden waren, bevor sie unter völlig willkürlichen Umständen auf 18 Städte im Süden Marokkos verteilt wurden.
Drittens kann also zusammenfassend gesagt werden: Bis vor rund zwei Jahren lebten noch ungleich mehr Migrant_innen in den Wäldern vor Ceuta und Melilla und versuchten in regelmäßigen Abständen in größeren Gruppen die Grenzzäune zu überwinden. Der Bericht von GADEM spricht von 17.281 Menschen, die im Jahr 2014 illegal nach Ceuta und Melilla gelangten und von der Guardia Civil sofort wieder nach Marokko zurückgeschoben wurden. Seit Beginn des Jahres 2015 versucht Marokko nun, diese scheusslichen Bilder zu vermeiden und die Menschen «rechtzeitig» aus den Camps zu vertreiben.
Die Abschottungsmassnahmen verschlingen natürlich ungeheuer viel Geld: laut dem marokkanischen Regierungschef Abdelilah Benkirane gibt Marokko jährlich 60 Millionen Dollar für den Kampf gegen die illegale Migration aus. Der Ausbau des Zaunes um Melilla kostete der spanischen Regierung in den Jahren von 2005 bis 2013 47 Millionen Euro. 25 Millionen Euro waren es im selben Zeitraum für den Grenzzaun, der Ceuta umgibt. Für den Zeitraum von 2014 bis 2020 soll Spanien über 500 Millionen Euro von der EU erhalten, um die Migration in Schach zu halten.
Gemeinschaft der subsaharischen Migrant_innen
Zurück zur Situation in Marokko: mittels der oben genannten Maßnahmen soll das Grenzregime offenbar legitimiert bzw. die Gewalt besser versteckt werden als das zuvor der Fall war. Bilder von blutüberströmten Menschen, die sich im Nato-Draht vor Ceuta oder Melilla verfangen, sind der europäischen Öffentlichkeit auf die Dauer nicht zumutbar... Ein kleiner Teil der Geflüchteten wurde also legalisiert, der größte Teil von ihnen irrt orientierungslos in den Armenvierteln der Städte umher, weit entfernt der Grenzzäune und der europäischen Fernsehkameras. Um wie viele Menschen es sich dabei handelt, konnten uns nicht einmal die Mit-arbeiter_innen der GADEM sagen, die sich auf dem Gebiet gut auskennen. Es ist davon auszugehen, dass es Zehntausende sind.
Ein weiterer furchtbarer Effekt dieser Politik besteht darin, dass viele verzweifelte Migrant_in-nen, die aus dem Norden vertrieben wurden, nun von El-Aaiún, das sich bereits auf dem Gebiet der Westsahara befindet, auf die kanarischen Inseln übersetzen wollen.
Wäre Emmanuel Mbolela nicht mit mir gewesen, hätte meine Reise vermutlich gar keinen Sinn ergeben. Er erwies sich als ausgezeichneter organischer Intellektueller der Gemeinschaft der subsaharischen Migrant_innen, sprach bei den spontanen Versammlungen in den notdürftigen Wohnungen und Barackensiedlungen, die in den Stadtteilen Takkadoum und Hay Nada stattfanden, auf französisch, lingala und swahili zu seinen Genossinnen und Genossen und machte ihnen Mut für ihren Kampf.
Ein weiterer äusserst wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang: die Geflüchteten sind weit davon entfernt, einem weissen Europäer auf Anhieb ihr Vertrauen zu schenken oder gar ein Interview zu geben. Man muss klar erkennen, dass die faktische Dauerpräsenz von Journalist_innen in den Wäldern von Gourougou und Belyounech nicht dazu geführt hat, dass sich die unmittelbare Lage der Menschen verbessert hat. Oft trat sogar das Gegenteil ein und auf einen europäischen Fernsehbericht folgte die brutale Räumung eines Camps.
Besonders beeindruckend bei der Konferenz war der Umstand, dass so viele Migrant_innen den Zusammenhang zwischen der Ressourcenausbeutung des Südens und der Misere in ihren Ländern benannten. Grundtenor war: «Warum zirkulieren die Waren frei über den Planeten während wir hier blockiert sind? Wenn der Westen die Reichtümer unserer Länder raubt, dann werden wir dorthin gehen, wo sich die Reichtümer nun befinden!» Ein heiss umkämpfter Diskussionspunkt war, wer der strategische Hauptgegner sein muss: der marokkanische Staat und seine brutale Polizei oder die EU, die nicht nur für die Abschottungspolitik verantwortlich ist, sondern auch die ökonomische Unterdrückung der afrikanischen Länder organisiert und vorantreibt.
Die Konferenz endete mit einer Demonstration vor der spanischen Botschaft, um Gerechtigkeit für die von der Guardia Civil ermordeten Migrant_innen einzufordern.
Schutz für flüchtende Frauen
Der letzte Programmpunkt unseres Aufenthalts in Rabat war der Besuch des Schutzhauses für Flüchtlingsfrauen, das Astrid Mukendi, eine Mitstreiterin von Emmanuel Mbolela, die wie er aus der demokratischen Republik Kongo stammt und bereits seit 15 Jahren in Marokko lebt, leitet. Das Frauenhaus konnte dank der Spenden gegründet werden, die wir bei den zahlreichen Lesereisen mit Emmanuel Mbolelas Buch sammeln konnten. Astrid Mukendi, eine energische Frau Ende fünfzig betreut mit ihrer Assistentin zwei Wohnungen, in denen insgesamt rund 20 Frauen mit ihren Kindern Schutz finden. Der Bedarf ist enorm groß – laufend stranden Frauen in Rabat, die aus den Wäldern im Norden vertrieben wurden und kein Obdach haben. Die meisten wurden Opfer fürchterlicher Gewalttaten, viele sind schwer traumatisiert. Es ist unbedingt notwendig, weitere Wohnungen anzumieten, um noch mehr Frauen unterbringen zu können. Mittlerweile unterstützt auch die Organisation medico international aus Frankfurt die Kampagne. Das Europäische Bürger_innenforum beteiligt sich ebenfalls.
Bei allem Willen der subsaharischen Migrant_innen, die Grenzzäune zu überwinden, war ihr Grundtenor dennoch: «Wenn die Situation in unseren Heimatländern es zulässt und wenn wir dort in Würde leben können, dann kehren wir auch zurück.» Doch damit das geschehen kann, wird nicht zuletzt die europäische Politik ihren Kurs ändern müssen: Landraub, aufgezwungene Freihandelsabkommen sowie die politische Unterstützung korrupter Monarchen und Autokraten ist vom Thema Migration nicht loszulösen. Neben den Menschen in Marokko hat darauf auch Jean Ziegler, der bekannte Schweizer Soziologe und Globalisierungs-kritiker, der für Emmanuel Mbolelas Buch ein aufrüttelndes Vorwort geschrieben hat, immer wieder hingewiesen.
Solange die Menschen vor Krieg und Diktatur, ökonomischer Misere, Landraub oder Klimaveränderung fliehen, und solange ihnen der Zutritt nach Europa verwehrt wird, solange werden Schutzräume und soziale Zentren notwendig sein, die für die Geflüchteten ein Mindestmaß an menschlicher Würde und Sicherheit garantieren.
Dieter Alexander Behr EBF afrique-europe-interact.net
- Buchtipp: Emmanuel Mbolela: «Mein Weg vom Kongo nach Europa – zwischen Widerstand, Flucht und Exil.» Mit einem Vorwort von Jean Ziegler. Mandelbaum-Verlag, Wien, 4. Auflage. Zu bestellen beim Europäischen Bürger_innenforum