Nach den Präsidentschaftswahlen im Januar 2002 erklärten sich die beiden Kadidaten, der Admiral Ratsiraka und der Bürgermeister von Antananarivo, Ravalomanana, als Sieger. Seither herrscht große Unruhe auf der Roten Insel. Der in Paris lebende madagassische Schriftsteller Jean-Luc Raharimana beschreibt im folgenden Artikel, wie er die letzten dreißig Jahre in Madagaskar erlebt hat. Fortsetzung in der nächsten Nummer.Antananarivo. Platz des 13. Mai. Dieser Platz. Immer wieder dieser Platz. Eine riesige Menschenmasse...Paris. Tours. Boston oder Tremblay. An Zusammenkünften und Buchvorstellungen zu hören, in Artikeln zu lesen, von Mund zu Mund weitergegeben, solche Phrasen: „Das madagassische Volk hat sich immer ferngehalten von den Schandtaten und den chronischen Gewaltausbrüchen, die für den schwarzen Kontinent so charakteristisch sind;“ „Die rote Insel oder die Weisheit der Ahnen, ein friedliches, gutmütiges Volk...“ Beruhigende Sätze. Ehrenhaft. Seht her, ein Volk, das sich von Afrika abhebt. Afrika, schwarz von Korruption, schwarz von Massakern und Gewalt, von Völkermord und jetzt von Vulkanasche.
Diese Sätze akzeptieren hieße, den großen Zynismus des madagassischen Regimes billigen. Diese Sätze akzeptieren hieße, einen jahrhundertealten, von Rassismus und Verachtung gefärbten Diskurs über Schwarzafrika anzuerkennen. Schwarzafrika, das niemals verstehen wird können, o nein! was Zivilisation ist: „All das, sehen Sie, ist bei ihnen ganz natürlich...“ Madagaskar soll also eines der wenigen Länder Afrikas sein, dem es gelungen sei, sich vor der Barbarei zu schützen!
Platz des 13. Mai. Immer wieder. Eine riesige Menschenmasse. Zwischen 200.000 und 300.000 Personen. Je nach Tag. Je nach Verzweiflung oder Verlangen. Verlangen, endlich dem ein Ende zu setzen. Verlangen nach einem würdigeren Leben. Diese Masse weiß nicht oder will nicht wissen, dass ihre Parolen die Schwelle der Klischees, die ihre Insel umgeben, nicht überwinden werden. Mehr noch als vom Meer, sind wir von Unwissenheit und Blindheit umgeben.
Die achtziger Jahre
Platz des 13. Mai. Wieder die Menschenmasse. Panzer. Soldatenreihen. Ich war im Gymnaisum. Mitte der achtziger Jahre. Massaker? Nein! Es hat nie welche gegeben. Jedenfalls nicht in dem Ausmaß wie in diesen anderen totalitären Staaten. Aber woran soll man heute die Unmenschlichkeit eines Regimes messen? An der Zahl der Toten? An spektakulären Gewaltszenen, die sich so gut den Film eignen? Das Regime des Admirals – eines Admirals ohne Flotte übrigens – hat gelernt, die westliche Auffassung des „Anderen“ zum Maß zu nehmen. Das Bild wird Gestalt und Identität. Es ist einfach: Es gab keine Bilder von Madagaskar. Oder doch: Unschuldige Lemurengesichter, zauberhafte Küsten- und Berglandschaften, die Baobaballee, die endlosen Reihen der Tsingy – senkrechtstehende messerscharfe Felsen, eine geologische Seltenheit, die nur in einem Heiligtum der Natur wie der Roten Insel vorkommen können. Wie könnten sich in so einem herrlichen Dekor Dramen abspielen?
In diesen Lemurenwäldern suchten die Menschen Zuflucht, als sie 1947 die Repression der Kolonialherren flohen. 100.000 Tote. Gewisse Historiker bezweifeln die hohe Zahl, für die Madagassen und ihre Verteidiger steht sie fest. Würde eine geringere Zahl die Kolonialbehörden ihrer Verantwortung entheben, das Leiden eines Volkes vermindern? Wieder ein Krieg des Spektakulären, um den Anderen wiederzuerkennen.
Eine andere Epoche: Die madagassische sozialistische Revolution, achtziger Jahre, der Admiral kommandierte seine Phantomflotte, in den Hügeln. Als Kind hatte ich Angst, wenn ich in meinem Viertel Ambohipo in der Nacht die Hunde jaulen hörte. Jedes Mal besetzten dann die Militärs am Morgen die Gipfel, umzingelten die von den Hügeln eingeschlossene Universität und riegelten die Studentenheime ab. Helikopter durchfurchten schon den Himmel.
Ich erinnere mich an die Demonstrationen, die von der Universität ausgingen. Wir Kinder vom Ort hockten auf den Bäumen und verfolgten die Bewegungen der Truppen. Sie brachen die Studentenreihen mit Bajonetten und Tränengas, damit sie sich in den Hügeln verstreuten und weiter weg eingefangen werden konnten. Lastwagen warteten dort auf sie. Luden sie auf. Nahmen sie mit. Stehend aneinandergekettet. Hände an die Plachen hochgehoben. Viele wurden wieder freigelassen. Die meisten eigentlich. Doch sie kamen schweigend zurück, mit ausgelöschtem Blick. Einige Tage später. Einige erst Monate später. Wenig Tote. Wenig Zahlen, die man den Kameras der ganzen Welt hätte vorzeigen können, wenn besagte Kameras da gewesen wären. Dessen bin ich nie Zeuge geworden. Nie.
Im noch die Absenz des Bildes. Stille. Der andere wird nach der Intensität seines Blicks gemessen, nach dem Schrei seines Leidens. Ist der Madagasse nicht dieser ruhige, stille Mensch, sanft und gastfreundlich, geheimnisvoll und wenig aus sich herausgehend? Außer wenn es um seine Toten geht, für die er die prunkvollsten Feste zu feiern fähig ist? Entspricht das Schweigen dieser Jahre nicht einfach seinem wirklichen Charakter? Wo ist die Repression eines Regimes zu situieren? Wie ein Leiden lindern, das man nicht hört?
1972: Rückblick
Soziale und sozialistische Revolution in Madagaskar. Ende des Neokolonialismus der sechziger Jahre. Die wahre Unabhängigkeit, sagte man. Malgachisation (1). Das Land trat aus der Franc-Zone aus, verwaltete seine Wirtschaft selbst. Blockfreiheit. Verteidigung unterdrückter Völker. Ratsiraka machte Furore an internationalen Gipfeltreffen. Wer musste da nicht an ihn glauben?
Ich nahm oft an den Paraden zum Nationalfeiertag teil. Man schwang kleine Fähnchen. Die Fahnen aller nach Freiheit strebenden Länder. Kampfesglut. Überschwänglicher Nationalstolz. Das Gefühl, einem Block anzugehören, der sich aufrichtet und sich nicht mehr dem Joch des Abendlandes unterwerfen will: Libyen, Nordkorea, Algerien, Burkina Faso, Vietnam...
Festlegen eines Diskurses, an den man sich halten musste, wollte man nicht mit den Schrecken des Geheimdiensts DGID Bekanntschaft machen: All unsere Misere ist die Schuld der reichen Ländern, der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds. Dieser Teil der Wahrheit wurde einfach die ganze Wahrheit. Wer daran zweifelte, war verloren. Es war eigentlich leicht, sich diese Idee einzuverleiben. So viel Reichtum in den „entwickelten“ Ländern! So viel Leid, das sie uns nach dem Ende der Kolonialzeit hinterlassen haben!
Lange Jahre, während denen jedes geringste Wort „revolutionären Ohren“ zugetragen wurde. Jahrelange Diktatur, während der der Sprachgebrauch so geregelt war, dass er jede Replik auslöschte. Bau zahlreicher Schulen, aber himmelschreiender Mangel an Lehrkräften. Noch nie hat der madagassische Staat so viele Schulen gebaut wie in den ersten Jahren der Zweiten Republik. Mauern. Bänke. Keine Instandhaltung. Keine Bestellung von Lehrkräften.
Schaffung eines Kulturministeriums. Zensurministerium sagen die Künstler. Nationalbibliothek mit unverschämtem Budget. Baufällige Bibliotheken. Einige Bücher über Ernährung. Geschenke vom Roten Kreuz, von der UNESCO. Alte Bücher, gespendet von NGOs und Vereinigungen. Auf Französisch. Englisch. Russisch. Chinesisch. Ich sah, las sogar welche in Esperanto. Ich liebte das. Die Sprache des Landes, das es nicht gibt. Meines Landes!
Komplett abgeschnitten von der Außenwelt.
Zynische Organisation des Analphabetentums. Niemals wurde der Zustand der Unwissenheit mehr über Madagaskar verhängt. Das Schweigen verbreitete sich ganz von selbst. Wer nicht schreit, leidet nicht. Wer nicht schreibt, empfindet keinen Schmerz. Wer kümmert sich schon um Menschen, von denen man nichts hört und nichts liest? Können Sie mir einen einzigen madagassischen Schriftsteller nennen?
Dieselbe Situation im Gesundheitswesen. Unzählige Ambulatorien. Aber wo waren die Sanitäter? Wo die Ärzte? Oft baute man ein Haus aus Wellblech. Oft taufte man es „Staatliches Ambulatorium“. Man befestigte ein Rotes Kreuz. Man kam zahlreich zur Einweihung. Der kleinste Zyklon fegte das Ambulatorium weg. Die wenigen Medikamente fand man auf dem Stand des Straßenbäckers wieder. Die Pest kehrte zurück nach Madagaskar. Die Cholera. Ich rede nicht einmal von AIDS.
Unsicherheit auf dem Land. Zebudiebe (2). Wegelagerer. Die Armee arbeite daran, die Missstände einzugrenzen, hieß es, aber was sollte man sagen, wenn gestohlene Zebus im größten Hafen des Landes verfrachtet wurden? In aller Ruhe. Ganz legal. In Richtung La Reunion. In Richtung Mauritius. Bauern verlassen ihr Land, gehen in die Städte, betteln. Strecken ihre Hände nach den unzähligen Allradautos, die durch die Städte kreuzen.
Madagaskar gehörte, gehört noch immer zum Kreis der ärmsten Ländern der Welt.
(1) Die madagassische Sprache ersetzte weitgehend die französische
(2) Zebu: Buckelrind