An einer wachstumskritischen Veranstaltung Anfang Mai in Lyon wurde Sarkozys Wachstumspolitik der Kampf angesagt. In Frankreich sind sie seit Jahren lästige Störenfriede. Im deutschen Sprachraum hat man sie bisher kaum wahrgenommen, die französischen Wachstumsverweigerer.
Unter dem sperrigen Titel «Contre-Grenelle» fand Anfang Mai in Lyon die zweite Auflage eines wachstumskritischen Treffens statt (nach einer ersten im Jahre 2007). Im Vertrag von Lissabon, der künftigen EU-Verfassung, soll die Verpflichtung zum Wirtschaftswachstum verankert werden. Sarkozy hat die Ratifizierung dieses Vertrags durch Frankreich am Volk vorbeigeschleust. Gegen die schon bald verfassungsmässige Verpflichtung auf Wachstum wehren sich in Frankreich seit langem die Wachstumsverweigerer und mit ihnen immer mehr Linkskräfte. Die Veranstaltung «Contre-Grenelle» hat dies unmissverständlich vorgeführt.
Die Zielsetzung von Sarkozys Umwelt-Grenelle
Rue de Grenelle war der Ort in Paris, wo am 27. Mai 1968, mitten im Generalstreik, ein Abkommen zwischen der französischen Regierung, den Gewerkschaften und den Unternehmern abgeschlossen wurde. Es führte zu starken Lohnerhöhungen für die Arbeitenden und galt später als wichtige Etappe von Mai 68. Seither werden in Frankreich Abkommen, die auf einer breiten Basis ausgehandelt werden, oft als «Grenelle» bezeichnet. Für Sarkozy war die Etikette «Grenelle» ein Muss, weil er für seinen grünen Umbau des französischen Kapitalismus möglichst viele politische Kräfte in sein Boot holen wollte. Im Oktober 2007 präsidierte er eine Konferenz unter dem Titel «Umwelt-Grenelle» (Grenelle de l’environnement).
Erklärtes Ziel: grünes Wirtschaftswachstum. Nur wenige politische Kräfte hatten den Mut, sich nicht vereinnahmen zu lassen. Dabei geht es offensichtlich um ein gigantisches Greenwashing des forcierten Wachstumskurses, den Sarkozy dem Land verordnet hat. Das zeigt sich z.B. darin, dass er den Bereich Nukleartechnologie von vornherein als nicht verhandelbar ausklammerte. Die Konferenz beschloss 268 Massnahmen, darunter den Bau neuer Autobahnen und TGV-Linien. So sollen über zehn Jahre hinweg Investitionen von 440 Milliarden Euro ausgelöst werden. Allein die Umsetzung der Konferenzbeschlüsse in Gesetzestexte dauert Jahre. Die Zielsetzung selbst – grünes Wirtschaftswachstum - ist tabu.1 New-Green-Deal scheint somit frankreich- und europaweit zum neuen Dogma zu werden, da sich mit unverhüllt neoliberalen Grundsätzen in den nächsten Jahren keine salonfähige Politik machen lässt. Die glanzvolle Wiederwahl des Grünen Daniel Cohn-Bendit ins Europaparlament ist für diese Entwicklung symptomatisch. Cohn-Bendit hatte im Wahlkampf die Wachstumsverweigerer als «cinglés» (Spinner) bezeichnet.
Die Gegenveranstaltung Contre-Grenelle 2
In diesem Klima wurde in Lyon das Contre-Grenelle 2 durchgeführt. Die ReferentInnen hielten ihre Vorträge zweimal: einmal in einem berstend vollen Theatersaal und einmal im Freien für all jene, die drinnen keinen Platz gefunden hatten. Sie schilderten aus verschiedenen Perspektiven die Illusionen und Gefahren eines grünen Kapitalismus. Drei Beispiele: Der Journalist Aurélien Bernier legte dar, warum der Markt mit den CO2-Emissionsrechten in einigen Jahren Grössenordnungen erreichen wird, wie sie der Finanzmarkt vor der Krise 2008 hatte. Die Ausweitung dieses Markts auf neue Bereiche, bis hin zu den individuellen Verschmutzungsrechten, wird unter Umgehung der demokratischen Entscheidungsmechanismen eingeführt. Wir werden, Bernier zufolge, eines Tages feststellen, dass mit Klimapapieren nicht transparenter spekuliert wird als bisher mit irgendwelchen Derivaten. Der Schriftsteller und Dokumentarfilmer Philippe Godard warnte vor den Gefahren einer Ökodiktatur, die die Menschen instrumentalisiert als Teile einer Megamaschine, wie sie Lewis Mumford2 beschrieben hat. Die Ärztin Catherine Levraud sprach von der Verschwiegenheit der Pharma- und Medizinlobby, wenn es um die Profite geht, die sie der Zerstörung unseres Lebensraums verdankt.
Wer steht hinter Contre-Grenelle 2?
Wer sind die französischen Wachstumsverweigerer, die für die Veranstaltung verantwortlich waren? Es ist eine heterogene Gruppe von Frauen und Männern mit drei gemeinsamen Überzeugungen, die auf der Feststellung gründen, dass unbegrenztes Wachstum in einer begrenzten Welt unmöglich ist. Da der Kapitalismus unter Wachstumszwang steht, sind sie erstens grundsätzlich antikapitalistisch. Zweitens soll die Wirtschaft nach ihrer Meinung ein Mittel sein, nicht ein Zweck. Wachstum müsste auch in einer egalitären Gesellschaft bekämpft werden, wenn es zu einem Selbstzweck würde und nicht dem Zusammenleben der Menschen diente. Drittens fordern sie, dass der Schutz der Umwelt und des Klimas nicht auf Kosten der Schwachen geht. Daraus ergibt sich die Forderung, Einkommen und Arbeit zu entkoppeln und die Einkommen nach unten und oben zu begrenzen.
Würde die Wachstumsverweigerung in ein politisches Programm übersetzt, so hätte der dritte Punkt Vorrang. In erster Linie strebt die Bewegung eine entschlossene Bekämpfung der sozialen Ungleichheiten an. Sie fordert vor allem die Einführung eines gesetzlichen Höchsteinkommens und die Schaffung eines existenzsichernden Grundeinkommens. Allein dieser Programmpunkt kommt einer Umkrempelung heutigen Wirtschaftens gleich, die weit über die Zielsetzungen gegenwärtiger Linkspolitik hinausgeht.
Wachstumsverweigerung, das ist in Frankreich vor allem die Bewegung rund um die Monatszeitschrift «La Décroissance» (Auflage 45'000), die in Lyon herausgegeben wird; das sind auch die «Casseurs de pub», eine Gruppe, die nach dem Vorbild der kanadischen Adbusters mit spektakulären Aktionen von sich reden macht; das sind HochschullehrerInnen, Medienleute und Intellektuelle, die in den letzten Jahren mehrere Dutzend Bücher publiziert haben; und das sind Tausende von Leuten, die sich in ihrem Alltag dem Wachstumsdogma entgegenstellen. Es ist Zeit, dass man sie auch ausserhalb des französischen Sprachraums zur Kenntnis nimmt.
Wachstumsverweigerung bedeutet nicht Rezession
Seit dem Ausbruch der Krise müssen die Wachstumsverweigerer oft den Vorwurf hören, wir hätten jetzt die Wirtschaftsschrumpfung, die sie schon lange forderten. Aber kein Wachstumskritiker käme auf die Idee, eine systemimmanente Krise gleichzusetzen mit einer bewusst gesteuerten Wachstumsrücknahme. Die Krise ist eine Katastrophe, ein Kollateralschaden unseres Wirtschaftens im Dienste des Kapitals. Wachstumsrücknahme ist eine zukunftsfähige Politik im Dienste der Menschen.
Wachstumsrücknahme bedeutet, dass man die wirtschaftliche Globalisierung, die von Washington aus spätestens seit Reagan diktiert und gesteuert wurde, rückgängig macht. Diese Globalisierung ist kein Naturgesetz. Sie ist umkehrbar, wenn der politische Wille zur Umkehr besteht. Die Umkehr hätte zwar in vielen Ländern einen Rückgang des Bruttoinlandprodukts (BIP) zur Folge. Aber ein solcher Rückgang bedeutet nicht Krise, wenn er Teil einer umsichtig durchgeführten Politik ist. Die Décroissance-Bewegung strebt eine allgemeine Entschleunigung der Gesellschaft an. In der langen Liste der Massnahmen, die sie dazu vorschlägt, hat beispielsweise die gezielte allmähliche Senkung der Arbeitsproduktivität einen wichtigen Platz. Der französische Autor Christian Jacquiau hat in seinem Buch «Les coulisses de la grande distribution» (Albin Michel, Paris, 2000) gezeigt, dass jeder Arbeitsplatz, der in einem Supermarkt geschaffen wird, das Verschwinden von fünf Arbeitsplätzen in Quartierläden zur Folge hat. Supermärkte haben eine höhere Arbeitsproduktivität als Quartierläden. Man darf deshalb behaupten - und die Wachstumsverweigerer tun das -, dass eine klug organisierte Umstellung auf Wachstumsrücknahme die Schaffung neuer Arbeitsplätze ermöglichen würde.
*Ernst Schmitter in der Schweiz beschäftigt sich mit Wachstumskritik, speziell mit der französischen Décroissance-Bewegung.
Zum unauflösbaren Widerspruch des grünen Wachstums vgl. Bertrand Méheust, La politique de l’oxymore , éd. Découverte, 2009
Lewis Mumford (1895-1990: US-amerikanischer Architekturkritiker und Wissenschaftler. Eine nähere Kategorisierung als Historiker, Philosoph, Soziologe oder gar Schriftsteller wird dem interdisziplinären Charakter von Mumfords vielfältigem Schaffen kaum gerecht. Der Begriff der «Megamaschine»wurde in seinem Werk «Mythos der Maschine»geprägt. Der Mensch ist der autoritären Monotechnik unterworfen, die sich durch zentralistische Gewalt, Macht und Bürokratie ausweist und den Menschen funktionalisiert.** **