Eine Gruppe von Familien aus Brandenburg möchte dem Sterben von geflüchteten Menschen im Mittelmeer nicht mehr tatenlos zusehen und gründete die Initiative sea-watch (www.sea-watch.org).
Sie kauften ein Boot und wollen es in Kooperation mit dem Alarmtelefon von Watch-The-Med im Mittelmeer vor der libyschen Küste kreuzen lassen, Menschenleben retten und Druck auf die politisch verantwortlichen Entscheidungsträger_innen aufbauen.
Im Archipel wurde mehrmals die dramatische Situation von Flüchtlingen thematisiert. In den letzten Ausgaben wurde über das internationale Netzwerk Watch-The-Med und die Initiative des Alarmtelefons, das seit Oktober 2014 betrieben wird, berichtet. Hier wird - mit Erfolg - versucht, Bootsflüchtlingen im Mittelmeer und der Ägäis zu helfen und ihre Situation sichtbar zu machen.1 Die Betreuer_innen des Alarmtelefons können jedoch selbst keine Rettungsoperationen durchführen oder Flüchtlingsboote vor Ort begleiten, weil sie sich das erstens nicht zur Aufgabe gemacht haben und zweitens nicht über die dafür notwendigen Boote verfügen. Hier setzen die Initiator_innen von sea-watch an.
sea-watch – die Projektidee Die Idee ist recht einfach: Ein hochseetaugliches Boot, das Rettungsmittel wie Schwimmwesten und Rettungsinseln mitführt und mit einer speziellen Satellitenanlage ausgerüstet ist, welche die Übertragung von Bildmaterial in Echtzeit erlaubt, kreuzt im Mittelmeer in internationalen Gewässern im Bereich der Flüchtlingsrouten. Das Boot, die «Sea Watch», ist mit wechselnden Crews aus 4-8 Freiwilligen besetzt, die Kontakt zu Flüchtlingsbooten aufnehmen und situationsbedingt reagieren können. Mit dem mitgeführten Beiboot können Flüchtlingsboote angesteuert werden, um Wasser und Erste-Hilfe-Material zu überbringen. Bei akuter Seenot können die Rettungsmittel ausgebracht und die verantwortlichen Rettungsstellen sowie das Alarmtelefon informiert werden. Durch die Anwesenheit der «Sea Watch» mit der Möglichkeit, vor Ort aufgenommenes Bildmaterial sofort zu übertragen, wird die Situation der Flüchtlinge in die Öffentlichkeit geholt und Druck auf die verantwortlichen Rettungsstellen ausgeübt. Flüchtlingsboote und Küstenwache können bei Bedarf begleitet werden, um eventuelle Rückschiebeaktionen öffentlich zu machen und so zu erschweren.
Entstehung und Durchführung Von der ersten konkreteren Diskussion der Idee bis zum Kauf des Bootes im Dezember 2014 vergingen nur wenige Monate, die gefüllt waren mit intensiven Gesprächen, Recherchen, Besichtigungstouren und Kontaktaufnahmen zu anderen Netzwerken, Gruppen und Organisationen. Die finanziellen Mittel für den Erwerb von Boot und Ausrüstung sowie den Betrieb der ersten Monate haben wir aus unserem Kreis zur Verfügung gestellt. Inzwischen ist das in Holland gekaufte Boot nach Hamburg überführt worden und wird zurzeit noch einigen Umbauten unterzogen. Die ersten freiwilligen Crews werden zusammengestellt. Ende März 2015 soll es mit Kurs auf Malta auslaufen. Auf der Insel Malta wird ein Basiscamp mit Backoffice eingerichtet, in dem die freiwilligen Crews und Unterstützer_innen ankommen und sich aufhalten können.
Die «Sea Watch» wird ab Mitte Mai von Malta aus mit 4-8 Personen Besatzung für je ca. 12 Tage in See stechen, sie wird je einen Tag zum oder vom Zielgebiet unterwegs sein. Während der verbleibenden 10 Tage soll im Gebiet nordwestlich der libyschen Küste (ausserhalb der 12 Meilen Zone) ein Suchmuster abgefahren werden. Die Suche erfolgt per Radar, auf Sicht und mit Hilfe einer Aircam (Kamera, die Bilder über Funk überträgt) und falls erforderlich des Beibootes. Bei angekündigtem schlechtem Wetter wird ein Hafen angesteuert. Gleiches gilt, wenn Crewmitglieder seekrank werden oder den Aufenthalt an Bord aus anderen Gründen beenden müssen.
Über die Aktivitäten der «Sea Watch» werden wir regelmässige Berichte mit Bildmaterial erstellen, auf der Internetseite www.sea-watch.org veröffentlichen und auch befreundeten oder kooperierenden Organisationen zur Verfügung stellen.
Risiken
Natürlich gibt es viele Fragen zur Umsetzung. Das ganze Projekt ist riskant. In welchem Zustand werden die angetroffenen Flüchtlingsboote sein? Wie reagieren die geflüchteten Menschen? Ist eine Rettung mit den begrenzten Mitteln der «Sea Watch» über-haupt möglich? Wie reagieren die unterschiedlichen Crews, wenn sie psychisch hoch belastenden Situationen ausgesetzt werden (beispielsweise auf sterbende oder tote Menschen treffen oder ein Ertrinken der geflüchteten Menschen nicht verhindern können)? Wie reagiert die Küstenwache? Wird es Versuche von Kriminalisierung geben? Obwohl wir an vielen der Fragen mit Nachdruck arbeiten, Schulungen für die freiwilligen Crews planen, rechtliche Einschätzungen von Fachleuten einholen und es eine zunehmende Vernetzung mit Initiativen vor Ort gibt, wird letztendlich erst die Praxis zeigen, ob eine Initiative wie sea-watch überhaupt durchführbar ist. Aus diesem Grund ist die Durchführung zunächst für drei Monate geplant, danach werden wir mit den Beteiligten eine umfangreiche Auswertung durchführen und über eine Fortführung des Projektes entscheiden. Die gemachten Erfahrungen sollen anderen Gruppen und Initiativen bei Bedarf zur Verfügung gestellt werden.
Ähnlich wie die Betreiber_in-nen des Alarmtelefons sehen wir unsere Initiative nicht als Teil einer Lösung der internationalen Flüchtlingssituation. Sea-watch kann ein weiteres Instrument der akuten Nothilfe für geflüchtete Menschen sein und einen zusätzlichen Baustein in den grösser werdenden Bemühungen darstellen, die repressive europäische Grenzpolitik zu skandalisieren.
Unterstützung Zur Umsetzung von sea-watch sind wir auf weitere Unterstützung angewiesen. Beispielsweise suchen wir noch mehr Menschen, die für begrenzte Zeit eine Crew auf der «Sea Watch» stellen und vielleicht sogar über die entsprechende Berechtigung zur Bootsführung verfügen. Und da bekanntlich eine breite Öffentlichkeit der beste Schutz vor Kriminalisierung ist: Wenn möglich verbreiten Sie die Idee von sea-watch in Ihrem Umfeld! Wenn Sie sich eine Unterstützung egal welcher Art vorstellen können, weitere Informationen haben möchten oder mit uns in Kontakt treten wollen: www.sea-watch.org.
- vgl. Artikel in Arch. Nr. 230, 231 und 233