Die internationale Gemeinschaft schaut optimistisch auf die zu erwartenden Ergebnisse des Dialogs zwischen der Regierung von Juan Manuel Santos und der Guerilla FARC1. Nachdem die Regierung von Alvaro Uribe acht Jahre lang den bewaffneten Konflikt außer Acht gelassen hatte, sind diese Gespräche eine wirkliche Hoffnung für ein Land, das fünf Jahrzehnte lang im Kriegszustand gelebt hat.
Trotzdem besteht in Kolumbien ein andauernder sozialer Konflikt. Dieses Land schiebt seit mehr als einem Jahrhundert ein ungelöstes Problem vor sich her, von dem zahllose Konflikte ausgehen, die zu einem sozialen Aufstand führen können: der Agrarkonflikt und die Konzentration des Bodens. Ohne eine grundlegende Lösung dieses Konfliktes wird es in Kolumbien keinen beständigen Frieden geben. Die wirkliche Ursache für den Krieg liegt in der einseitigen Verteilung des Bodens und in dem bereits historischen Versagen des Staates in den Gebieten, die von Indios, schwarzen Gemeinschaften und Kleinbauern bewohnt werden.
Wie jemand, der keine Identität hat, so lebt Kolumbien in zwei unterschiedlichen Realitäten: Die der offiziellen Wirtschaftsdaten, die durch staatliche Propaganda der Welt die Vorstellung vermitteln, dass dieses Land Fortschritte macht, und die soziale und wirtschaftliche Realität in der 62 Prozent der Bevölkerung leben: Armut, Dürftigkeit und Elend. Zwei andere Realitäten, die die Kolumbianer täglich vor Augen haben, sind die Friedensgespräche zwischen der Regierung und der FARC, die bei Millionen von Menschen Illusionen wecken und bei anderen Ablehnung und die ständige Angst, in der Indios, Schwarze, Gewerkschafter, Umwelt- und Menschenrechts-Aktivist_in-nen und alle, die sich nach einem Land mit sozialer Gerechtigkeit sehnen.
Die sozusagen natürliche Opposition in Kolumbien, die Linke, die nie an der Macht war, begrüßt die Möglichkeit, dass die Friedensgespräche einen verbindlichen Vertrag erzielen, der dem fünfzigjährigen Krieg ein Ende setzt. Gleichzeitig warnen aber die Kommentatoren der Linken wie Politologen, Soziologen, Wirtschaftsfachleute und Gewaltanalytiker davor, dass der Frieden in Kolumbien nicht nur mit dem Schweigen der Waffen erreicht werden kann, weil die Ursachen des Konfliktes die soziale Ungerechtigkeit und die Gewalt gegen Millionen Menschen sind, die nie zu den Waffen gegriffen haben. Der Staat lässt die Mehrheit seiner Bevölkerung unbeachtet und die politische Korruption hat in den letzten Jahren zu undurchschaubaren Allianzen zwischen Politikern, Drogenhändlern und Todesschwadronen geführt.
Vertreibunge
In den letzten 25 Jahren wurden nach Angaben des CODHES – dem Komitee für Menschenrechte und Vertreibungen - 5,5 Millionen Menschen gewaltsam von ihrem Land vertrieben. Die Mehrheit wurde von rechtsextremen paramilitärischen Gruppen vertrieben, andere von der offiziellen Armee oder von der Drogenmafia und schließlich von Kämpfern der FARC und des ELN2.
Bei der Mehrheit der Vertreibungen kam es zu extremer Gewalt, bei der weder schwangere Frauen noch Kinder geschont wurden. Die paramilitärischen Gruppen haben in vielen Fällen erwiesenermaßen in Abstimmung mit der legalen Armee gehandelt, die den Zugang von Todesschwadronen in die Dörfer gebilligt hat. Diese paramilitärischen Truppen hatten bis zu 200 Männer und konnten unbehelligt Massaker in den Dörfern anrichten. Auf bestialische Weise haben sie oft mehr als 40 Menschen auf dem Dorfplatz vor den Augen der ganzen Bevölkerung ermordet. Nach derartigen Gräueltaten haben die Einwohner der Dörfer oft ihre Häuser, ihr Land, ihre Hütten und Tiere hinter sich gelassen, um in eine kleine oder größere Stadt zu flüchten, wo sie die Bevölkerung der Armutsviertel vergrößern.
Ländliche Gebiete vom Staat vergessen
Seit zwei Jahrhunderten, seit der Unabhängigkeit Kolumbiens von der spanischen Krone, entzündeten sich in den ländlichen Gebieten zahllose Kriege um die Herrschaft über das Land, die immer in den Händen von Großgrundbesitzern geblieben ist und an der heute auch Drogenhändler, Großbetriebe, korrupte Politiker und einige multinationale Konzerne beteiligt sind. Während des zwanzigsten Jahrhunderts versprachen die Politiker jedes Mal dann eine Landreform, wenn ein gewaltsamer Konflikt Tausenden das Leben gekostet hatte. Das war auch der Fall in den 1950er Jahren des letzten Jahrhunderts, als Vertreter der sich bekämpfenden konservativen und liberalen Parteien ein Friedensabkommen schlossen. Aus diesem Verrat an den Bauern, die für die liberale Partei gekämpft hatten, entstand Anfang der sechziger Jahre die FARC.
Die Kolumbianische Organisation «Es lebe die Stadt» schrieb im September 2013 in ihrer «Konjunkturanalyse 2014-2017, Kolumbien: Von Krieg in einen Rechtsstaat: Die Art des ländlichen Entwicklungsmodells und die Boden-Eigentumsfrage sind die wichtigsten Faktoren für diesen Konflikt». Ebenso zeigen die Zahlen des PNUD3 von 2011 über die Bevölkerungsentwicklung, dass 1,15 Prozent der Bodeneigentümer 52 Prozent des Bodens und 70 Prozent der bewirtschafteten Flächen des Landes besitzen.
Dies ist, nach Ansicht der Experten, der wirkliche Knoten des kolumbianischen Konfliktes.
Proteste, Bauernstreik und Freihandelsabkommen
In den letzten zwei Jahren haben sich die Kolumbianer trotz brutaler Polizeirepression gegen die Maßnahmen der Regierung erhoben, obwohl sich das Land in den Augen der internationalen Öffentlichkeit in einem wirtschaftlichen Wachstum befindet. In den Augen der Stadt- und Landbevölkerung profitieren davon aber nur Großunternehmer und multinationale Konzerne. Gleichzeitig wurden Gesetze zum Nachteil der Studenten, der Bauern, der schwarzen Gemeinschaften und der Indios erlassen.
Die große Mobilisierung der Studenten richtete sich gegen die Studienreform, mit der ein ultraliberales Modell zum Vorteil der Kinder der reichsten Familien des Landes eingeführt werden sollte. Die Kaffeeproduzenten ihrerseits erreichten ein Abkommen, nachdem auch ihr Sektor von den neuen Regierungsmaßnahmen betroffen war. Die Bauern der Region Catatumbo im Nordosten des Landes, eine der reichsten Regionen im Hinblick auf die natürlichen Vorkommen, aber mit einer sehr armen bäuerlichen Bevölkerung, erreichten von der Regierung das Versprechen, dass sie Maßnahmen gegen die Armut der Bevölkerung ergreifen und das Gebiet zum bäuerlichen Schutzgebiet erklären werde.
Zu einer großen landesweiten Mobilisierung der Bevölkerung kam es Ende August diese Jahres in allen ländlichen Gebieten. Nachdem die Regierung von Juan Manuel Santos alle Vereinbarungen nicht erfüllt hatte, haben die Landarbeiter einen landesweiten Agrarstreik durchgeführt, bei dem Tausende auf die Straße gingen um die katastrophalen Folgen der Freihandelsabkommen zu denunzieren. Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts war es nicht mehr zu einer vergleichbaren Repression durch die «Esmad» gekommen, den Aufstandsbekämpfungs-Einheiten des Landes, mit 12 Toten, 262 Verletzten und mehr als 600 Verhafteten. Der Präsident bestritt, dass es diesen Streik überhaupt gebe, indem er behauptete, dass dieser «nationale Bauernstreik nicht existiert». Die Folge war, dass die Kolumbianer der Städte massiv auf die Straße gingen, um die Bauern zu unterstützen. Tagelang kam es zu Demonstrationen der Stadtbevölkerung mit Kochtopfdeckeln, die mit extremer Gewalt unterdrückt wurden.
Sergio Coronado von der kolumbianischen Koordination Europa/Vereinigte Staaten, CCEEU, war kürzlich in Brüssel auf Einladung der Generalversammlung der OIDHACO4 und der Entwicklungskommission des Europäischen Parlamentes, um über «Unternehmen und Menschenrechte» zu sprechen. Bei der Gelegenheit gab er uns seine Einschätzung von dem andauernden Landkonflikt in Kolumbien: «Zwischen der Regierung und den Bauern gibt es keinen Dialog, weil die Regierung die Bauern völlig ignoriert. Von der derzeitigen Landwirtschaftspolitik profitieren einzig und allein die großen Agrarbetriebe und das ganze ländliche Entwicklungskonzept ist nur für sie gemacht. Es übergeht völlig die Bedürfnisse der Landbevölkerung». Coronado fügt hinzu, dass für ihn «die Freihandelsverträge, die Kolumbien unterzeichnet hat, die multinationalen Konzerne gegenüber den kolumbianischen Landwirtschaftsbetrieben begünstigen, da diese von den kolumbianischen Gesetzen Erleichterungen erhalten und die Märkte des Landes mit Produkten überschwemmen, die aus den Vereinigten Staaten und Europa kommen, wo sie mit hohen staatlichen Subventionen produziert werden.»
Genau gegen diese Freihandelsverträge richten sich die Forderungen der Bauern: Ihre Kosten für die Produktion sind höher, als der Erlös aus dem Verkauf ihrer Produkte. Die Betriebsmittel sind in Kolumbien bis zu 80 Prozent teurer als auf dem internationalen Markt. Der Preis für Diesel, den sie bezahlen, um ihre Produkte in die Städte zu transportieren, ist einer der höchsten in ganz Lateinamerika. Dazu kommt, dass amerikanische und europäische Firmen den kolumbianischen Markt mit Milch, Kartoffeln, Reis und Gemüse zu Dumpingpreisen überschwemmen. Die Bauern sehen keinen Ausweg mehr aus dem Ruin, vor dem sie stehen.
Neue Verhandlungen gefordert
Das kolumbianische Landwirtschaftsinstitut ICA, das eigentlich Maßnahmen zum Schutz der einheimischen Landwirte erlassen müsste, hat auf der Grundlage der Resolution 970 tausende Tonnen Saatgut zerstören lassen, welches von einheimischen Bauern für ihre nächste Aussaat aufbewahrt worden war. Es stützt sich dabei auf die von Kolumbien unterzeichneten Freihandelsverträge, in denen sich das Land verpflichtet hat, nur registriertes Saatgut zuzulassen, das in der Hand von nordamerikanischen Firmen ist. Die auf dem Rücken der Kolumbianer beschlossene Resolution kriminalisiert die Verwendung von bäuerlichem Saatgut unter Androhung hoher Strafen bis zu Gefängnisstrafen.
Mit dem Agrar-Streik in diesem Jahr haben die Bauern erreicht, dass die Regierung diese Resolution außer Kraft gesetzt hat damit sie ihr eigenes Saatgut wieder verwenden können. Trotzdem sind die Bauern sehr misstrauisch gegenüber dem Kompromiss, da Santos dafür bekannt ist, Vereinbarungen nicht einzuhalten.
Dieser Streik hat den Präsidenten veranlasst, die Hauptstadt Bogota mit 50.000 Soldaten zu besetzen, was einem Ausnahmezustand gleichkommt. Er hat aber erreicht, dass die schweren Folgen der Freihandelsverträge mit den Vereinigten Staaten und mit Europa auf die politische und soziale Agenda des Landes gekommen sind. «Kolumbianische, europäische und belgische Organisationen haben die europäische Union auf die Gefahren für die Bevölkerung hingewiesen, wenn sie nicht die schweren Menschenrechtsverletzungen, die Gewalt in den ländlichen Gebieten und die soziale Ungleichheit berücksichtigt, die in Kolumbien herrscht, und darauf, dass ein Abkommen, welches ausschließlich europäische Firmen begünstigt, ein schwerer Fehler ist», erklärte Belèn Torres vom «Komitee Daniel Gillard». «Wir haben ebenfalls auf die Gefahr eines sozialen Konfliktes hingewiesen, weil dieses Abkommen, das im vergangenen 1. August in Kraft getreten ist, die Bauern ruiniert und negative Auswirkungen für die Indios, die schwarzen Gemeinschaften, die Umwelt und die Ernährungs-Souveränität von Millionen Kolumbianern haben wird». Eine der wichtigsten Forderungen der Landbevölkerung ist, dass die Verträge neu verhandelt werden müssen. Präsident Santos hat sich bisher dazu nicht geäußert. Die Betroffenen in Kolumbien befürchten, dass dies nicht gewollt und nicht möglich ist.
- FARC: Die «Revolutionären Bewaffneten Kräfte Kolumbiens» sind die älteste und größte kommunistische Guerilla in Kolumbien
- ELN: Die Armee für die Nationale Befreiung ist die zweitwichtigste Guerilla-Bewegung in Kolumbien nach der FARC. Im Jahr 2009 hatten sie ungefähr 1500 bewaffnete Kämpfer
- PNUD: Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. Es hat die Aufgabe, Entwicklungsländer durch Beratung und Analysen zu unterstützen und ihre Interessen bei Geldgebern zu vertreten
- OIDHACO: das internationale Büro der Menschenrechtsaktion Kolumbien vertritt bei den Institutionen der Europäischen Union und der Vereinten Nationen Fragen des Rechtsstaates, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und des Friedens in Kolumbien
- Kolumbianische Journalistin spezialisiert in der Verteidigung der Menschenrechte, Pressesprecherin der Organisation «Oidhaco» und Mitglied des Komitees «Daniel Gillard»