LATEINAMERIKA : Die Auswirkungen des Zapatismus

von Raúl Zibechi ( Journalist, Uruguay), 17.02.2004, Veröffentlicht in Archipel 113

Um sie zu erkennen, muss man sich jenseits von öffentlichen Äußerungen und Programmen umhören, die Praktiken begreifen, die Lebensweisen und die sozialen Beziehungen, die sich im Inneren der Bewegungen bilden. Diese prägen die neue Art, Politik zu machen und lassen die Gesellschaftsform erahnen, die ihre neuen Mitglieder anstreben.

Man kann die Spuren des Zapatismus bei einigen der jüngsten und am wenigsten institutionalisierten Bewegungen erkennen, z. B. anhand bestimmter Themen, die in den Debatten der neuen sozialen Akteure einen zentralen Platz einnehmen: allen voran die Frage von Macht, Autonomie und Selbstverwaltung, der Rhythmus "außerhalb" und "innerhalb" und die Art und Weise, den sozialen Umbruch zu verstehen. Dies vermischt sich jedoch oft mit traditionelleren Ideen und Ansichten. Bis auf einige Ausnahmen, wie die Mesa de Escrache Popular de Buenos Aires, einige Nachbarschaftsversammlungen und einige Gruppen von Piqueteros 1 , beeinflusst der Zapatismus vor allem Debatten, die Themen wie Machtergreifung und Staatsgewalt betreffen, wirkt sich aber auch auf den internen Rhythmus der Bewegungen aus und auf die Art, wie der soziale Wandel empfunden wird.

Wir können die Spuren des zapatistischen Einflusses in einem großen Teil der Jugend- und Studentenbewegungen auf dem ganzen Kontinent verfolgen. Zwischen den indigenen Bewegungen des Kontinents und dem Zapatismus besteht eine starke Anziehung, zweifellos weil sie dieselbe Vision der Welt teilen. Im Gegensatz dazu ist der Einfluss des Zapatismus außerhalb dieser Bewegungen nicht so offensichtlich, obwohl die Krise der linken Parteien und die Schwierigkeiten, mit denen die populäre Bewegung zu kämpfen hat, die EZLN zu einer notwendigen Referenz gemacht haben. Im Allgemeinen sind die Spuren, die der Zapatismus in Lateinamerika hinterlässt, in der sozialen Bewegung in Argentinien, die zwischen dem 19. und 20. Dezember 2001 entstanden ist, deutlicher erkennbar als auf dem restlichen Kontinent. Vielleicht, weil sie die jüngste, am wenigsten institutionalisierte und offenste der Bewegungen in der Region ist.

Macht, Gegenmacht und Anti-Macht

Das Motto der Zapatisten, "wir wollen nicht die Macht übernehmen", wurde von Intellektuellen, politischen und sozialen Anführern übernommen, doch es wirkt sich auch auf die Debatten in einigen wichtigen Bewegungen des Kontinents aus.

Die linken politischen Parteien der Region, die sich im Forum von São Paulo zusammenfanden, weigern sich hingegen wei-terhin, die strategische Bedeutung dieser Debatte anzuerkennen und haben sie während eines Jahrzehnts totgeschwiegen. Auch gemäßigtere Strömungen, die dem "Dritten Weg" nahestehen, oder gewisse Guerilla-Bewegungen wollen die Strategie der Machtergreifung nicht überdenken. Sie ist für sie notwendiger Ansatzpunkt für Veränderungen. Sie bleiben der alten Polemik über den revolutionären oder dem reformistischen Weg verhaftet, der zum "letzten Ziel" führt.

Bei den Intellektuellen sieht die Lage nicht viel anders aus. Die Einflussreichsten von ihnen umgehen die Debatte. Andere reden mit einem anklagenden Ton mit: Sie werfen denen, die die These "nicht die Staatsgewalt übernehmen" vertreten, vor, dass sie "Schwäche" zeigen (das ist bei James Petras der Fall), oder dass sie Ideen vertreten, die "zur Niederlage führen" (wie es der argentinische Philosoph Ruben Dri behauptet). Weniger häufig waren die reellen Meinungsverschiedenheiten, die nicht darauf abzielten, den Gegner zu verteufeln, wie die Polemik zwischen Atilio Borón und John Holloway (Borón, 2001: Holloway, 2001).

Dort, wo die Debatte von den Parteilinken wieder aufgenommen wurde, war das Ergebnis wenig ermutigend. Die maoistische Kommunistische Revolutionäre Partei Argentiniens, die zur Gründung der Piquetero-Organisation "Corriente Clasica y Compartiva" angeregt hatte, der größten und am besten strukturierten Gruppierung von Arbeitslosen, widersetzt sich mit all ihrer Energie den Ideen des Buches "Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen" von John Holloway (Holloway, 2002), spricht sich aber wie die anderen linken Parteien für die EZLN aus. Ohne das klassische Schema hinter sich zu lassen, behaupten sie, dass die These "nicht die Macht übernehmen" "der herrschenden Klasse nützt", da sie vorhabe "die Masse von der Macht auzuschließen, so dass diese in den Händen der herrschenden Klasse verbleibt" (Nassif, 2002, S.71).

Der Ton, den die Partei der Sozialistischen Arbeiter (PTS) anschlägt - eine trotzkistische Organisation, die eine starke Präsenz in den besetzten Fabriken Brukmann und Zanón hat - ist noch aggressiver: Holloway und die Verfechter der Nicht-Übernahme der Staatsgewalt, seien Opfer des "methodischen Eklektizismus", der "Reformisten’" und der "Kleinbürger", wenn man bei den freundlichsten Bezeichnungen bleibt, die sie ihnen gegenüber gebrauchen (Rau, 2002, S.174).

Der Einfluss des Zapatismus in Argentinien und der durch die Medien vermittelte Einfluss seiner Hauptthesen haben eine Gegenbewegung ausgelöst, die sich vom akademischen Bereich bis hinein in die wichtigsten sozialen Bewegungen zieht, deren Stoßtrupp aber aus einigen Intellektuellen und den Parteien der alten Linken besteht.

Im Gegenteil dazu ist die Polemik über die Staatsgewalt in einigen wichtigen Bewegungen präsent, vor allem in den Bewegungen in Ecuador und Argentinien. Bei der Debatte wurde manchmal eher um das Thema herumgeredet, vielleicht um zu vermeiden, dass die Vorschläge der Zapatisten direkt abgelehnt würden, vielleicht wegen des enormen Prestiges, das Subcomandante Marcos genießt. In den beiden Fällen findet die Debatte aus unterschiedlichen Gründen statt. In Ecuador ist sie, wie wir sehen werden, das Resultat der Ereignisse des 21. Januar 2000, als die indigene Bewegung und nationalistische Militärs während einiger Stunden die Staatsgewalt übernommen hatten. Dieser kurze Überfall auf den Staat löste eine Krisensituation in den wichtigsten Organisationen der indigenen Welt aus. In Argentinien gaben die Ereignisse des 19. und 20. Dezember 2001 Anlass zur ideologisierten Deutung der Realität: Einerseits mit denjenigen, die geglaubt haben, hier eine vorrevolutionäre Situation vorzufinden, die es in Richtung Revolution – Machtübernahme – zu leiten galt. Andererseits jene, die behaupteten, dass diese Ereignisse Fragen aufwarfen, die die Gewissheiten der Revolutionäre herausforderten und dass es darum ging, diese Fragen offenzulassen, um soziale Kreativität zu fördern.

Die Auswirkung des "nicht die Staatsgewalt übernehmen" auf die Bewegung der Piqueteros und der Assembleas ist klar ersichtlich: Argentinien ist das Land, in dem die Thesen Holloways und der EZLN die Grenzen der Welt der Intellektuellen und Aktivisten überschritten haben, um in den vielfältigen Gruppen der sozialen Bewegung Gestalt anzunehmen, wodurch sie sich ungewöhnlich stark auf andere Länder Lateinamerikas ausbreiten. Ein neueres Dokument mehrerer MTDs (Bewegung der Arbeitslosen) der Coordinadora Aníbal Verón, eine der von Parteien und gewerkschaftlichen Zentralen unabhängigen Piquetero-Gruppen, erklärt: "Wir nehmen Abstand von den Visionen, die die Vorstellung von Macht auf die Eroberung des Staatsapparates limitiert, als Ziel und letztes Ende", und betont eine Auffassung der Macht, die von der zapatistischen Ideologie abgeleitet zu sein scheint: "Die Macht ist keine ‚Sache’, die uns fremd ist, bei der wir uns entscheiden müssen, ob wir dafür oder dagegen sind:Wir bevorzugen es, sie als eine soziale Beziehung zu verstehen. Die öffentliche Macht entsteht aus der und in der Basis, mit bewusster Demokratie und Beteiligung, mit Beziehungen, die einen Vorgeschmack geben auf die Gesellschaft, nach der wir uns sehnen" (MTDs, 2003).

Es ist erwähnenswert, dass ein großer Teil jener, die sich auf die Coordinadora Aníbal Verón beziehen, Jugendliche sind, die durch die zapatistische Lektüre geprägt sind, da die Kommuniques des Subcomandante Marcos in der Mitte der 1990er Jahre die Jugendlichen fesselten, von den Studenten bis hin zu den Arbeitslosen. Eine der Besonderheiten im Fall von Argentinien in bezug auf den Zapatismus ist die Identifikation von Teilen der Rocker, dem Publikum und Rockgruppen mit Marcos und der EZLN.

Aber die Einflüsse dieser Debatte sind weitläufiger und erreichen andere Orte des Kontinents, vor allem dort, wo die indigene Bevölkerung bedeutend ist. Die jüngsten Schritte der ecuadorianischen Bewegung haben aufgrund der Revolte, die den Präsidenten Jamil Mahuad im Januar 2000 sein Amt kostete, eine Richtungsänderung gezeigt. Kurz nach dem Aufstand wurde in der indigenen Bewegung die Debatte über die Gestaltung der Macht verstärkt wieder aufgenommen.

Luis Macas, Anführer der "Konföderation der indigenen Nationen Ecuadors" (Conaie), hat daran erinnert, dass in der Sprache Quechua "ushay", die Macht, "die Kapazität" ist, "uns kollektiv zu entwickeln" (Macas, 2000; S. 151). Macas Behauptung stimmt bemerkenswert mit dem Vorschlag von Holloway überein, die Macht zu differenzieren in "Macht ausüben (als grundlegende menschliche Fähigkeit)" und "Dominanz" (Holloway, 2003).

Als Ergebnis einer Überlegung über dieselben Vorgänge schlussfolgert der Wirtschaftswissenschaftler Pablo Dávalos in seiner Arbeit, dass der Aufstand vom 21. Januar einen Zyklus beendete, während dem sich "die Dynamik der Macht in eine Bewegung integriert hat, deren Handeln immer durch ihre Fähigkeit koordiniert war, sich in eine soziale Gegenmacht zu verwandeln" (Dávalos, 2001).

Die Anführer der Conaie haben sich vom ursprünglichen Projekt der Indigenas entfernt, dem das Streben nach einem multinationalen Staat, der die Autonomie indigener Völker und Nationen garantiert, zugrunde liegt. Der Zerfall der drei Staatsgewalten im Januar 2000 hatte zur Folge, dass ein großer Teil der Anführer der "Versuchung" der Staatsgewalt erlag. In diesem Moment hat die Conaie die Schwelle überschritten, die eine soziale von einer politischen Bewegung unterscheidet, hat aber dadurch "all ihre historischen Errungenschaften" aufs Spiel gesetzt, da "eine Entwicklung in die Richtung der Macht bedeuten würde, das strategischste und langfristigste Projekt beiseite zu lassen, nämlich eine wirklich übernationale Gesellschaft aufzubauen". Die Conaie war für einige Zeit nicht mehr die "am realsten existierende Gegenmacht in der Gesellschaft, die fähig war, eine effektive Veto-Macht auf die unpopulärsten Initiativen der Eliten auszuüben" (Dávalos, 2001).

Noch schlimmer ist es, dass man durch die Entscheidung für die Macht dazu genötigt wird, "die reine Dynamik des Widerstands" aufzugeben und "Institutionen zu schaffen, die langfristig als Kontrollmechanismen gegen einen möglichen Widerstands anderer sozialer Akteure dienen können". Zusammengefasst kann die Bewegung nicht an die Macht gelangen, ohne ihre Position als Gegenmacht aufzugeben.

Ein Jahr später, im Januar 2001, wurde das ursprüngliche Projekt von einer erneuten Revolte der Basis, die nicht von den Anführern herbeigeführt wurde, mit bescheideneren Mitteln wieder aufgenommen. Die Anführer, die sich ein Jahr zuvor gezeigt hatten, haben unter dem Druck der Basis zurückstecken müssen, da diese bemerkte, dass eine andere Entscheidung bezüglich der Macht zur Spaltung der Bewegung führen würde. Eine Schlussfolgerung setzte sich durch: "Es ist wichtiger, ein Land zu verändern, welches vom Rassismus, der Autorität, der ungeteilten Macht zerrissen ist, als an die Regierung zu kommen" (Dávalos, 2001).

Koordinationen

In anderen Fällen, wie dem der uruguayanischen Jugend- und Studentenbewegung, konnte man die Sympathie der Jugendlichen für die Bewegung der Landlosen oder den Zapatismus in der von ihnen gewählten Organisationsform erkennen: Es war eine Koordination, die im Winter 1996 die Besetzung von Studienzentren organisierte. Es wurde festgelegt, dass die Koordination "nicht die Leitung der Bewegung ist, weil die Leitung von der Bewegung selbst abhängt". Stunden- und tagelang wurde über Vorschläge diskutiert. Die Repräsentanten wurden durch das Los ermittelt und die Zentralversammlungen über die Koordination gestellt (Zibechi, 1997; S.213).

Eine ähnliche Situation trat im April 2000 während eines Aufstands für das Wasser in Cochabamba auf. Dort "beratschlagte die vereinte Menge direkt" , schaffte "die Gewohnheit, die Macht zu delegieren" ab, bis hin zu dem Punkt, an dem die Menge die Rolle der Anführer neu definierte, die seitdem nichts weiter als die Transmissionsriemen sind (Gutiérrez, García, Tapia, 2000; S.117). In beiden Fällen ist die Organisation der Bewegung (sie gehen alle beide von der Form der Koordination aus) auf der doppelten Logik aufgebaut, die Macht so weit wie möglich zu verteilen und gleichzeitig dazu in ihren Inneren die sozialen Netze in den miteinbezogenen sozialen Teilgebieten wiederzuspiegeln. Diese doppelte Charakteristik hat sich einen Platz in den Köpfen und Herzen der meisten sozialen Bewegungen des Kontinents erobert.

Horizontale und gemeinschaftliche Organisation

Der soziale Wandel ist in zunehmendem Maße stärker an die Handlungsfähigkeit gebunden als an die Eroberung der Macht. Deshalb bekräftigen die Piqueteros der Coordinadora Aníbal Verón , dass ihre Produktionsinitiativen "einen Vorgeschmack" auf die Gesellschaft gäben, die sie sich wünschten.

Ein Bild, das in den neuen Bewegungen an Bedeutung gewinnt, ist das von vielen Medien gezeigte: Gruppen von Nachbarn, Arbeitslosen und Bauern arbeiten in Kollektiven oder gemeinschaftlich organisierten Unternehmen. Die Bandbreite erstreckt sich von selbstverwalteten Krankenhäusern über gemeinschaftlich geführte Bäckereien, Gemüsegärten in der Nachbarschaft bis hin zu kleinen Konservenfabriken. In einem Viertel im Süden von Buenos Aires haben die Arbeitslosen (die von 40 Dollar im Monat überleben müssen) selbst eine Ziegelfabrik aufgebaut, die es ihnen ermöglicht, ihre Wohnungen nach und nach in einen weniger bedenklichen Zustand zu bringen.

Diese ganz einfachen Bilder, die weit weniger "heroisch" sind als die, die wir aus den 1960er und 70er Jahren kennen, sind Teil der neuen politischen und sozialen Landschaft. Sie beinhalten die Idee, die Autonomie zu erweitern, indem einzelne Gebiete oder Kollektive ihre eigene Welt aufbauen und einen Freiraum gewinnen, wo sie versuchen, ihr tägliches Überleben zu sichern, aber gleichfalls solidarische und gleichberechtigte Beziehungen aufzubauen (Fernandes, 1996).

Eine der Fragen, die die Bewegung der Piqueteros (von Holloway als "Stadt-Zapatisten" bezeichnet) durchläuft, ist "wie" man seine Lebensgrundlage erwirtschaftet. Eine ganze Reihe von Organisationen ist betroffen von der noch nicht zu Ende geführten Debatte über die Notwendigkeit einer Rotation der Aufgaben, über die Tatsache, dass Arbeitsgruppen keine Vorarbeiter haben, oder darüber, wie man die Arbeitsteilung und die Hierarchie der Kompetenzen abschwächen kann (Zibechi, 2003). Einige Kollektive, wie das MTD in Solano, lehnen sogar die Idee ab, dass es Anführer geben könnte. So unterscheiden sie sich auf radikale Weise von Bewegungen wie den Landlosen, die sie als Brüder und als Inspiration betrachten (Collectivo Situaciones, 2002b; S.42).

Neue Gruppen - "Hijos"

Seit Mitte der 1990er Jahre hat die Idee der horizontalen Organisation dank des doppelten Einflusses der zapatistischen Erfahrung und einer neuen Jugendkultur an Boden gewonnen. Anfangs handelte es sich um eine dumpfe Ablehnung zentralistischer und hierarchischer Praktiken der Linken und der Gewerkschaften. Nachdem die horizontale Organisationsform ins Rollen gebracht wurde, hat sie selbst an Bedeutung gewonnen, sich ausgedehnt und schließlich das tägliche Leben von Frauen-, Jugend- und zunehmend auch von Bauern- und Arbeitslosengruppen bereichert. Der Fall der Organisation HIJOS (die KINDER der während der Diktatur Verschwundenen) verdient es, hervorgehoben zu werden. In nur wenigen Jahren haben sie den Respekt der öffentlichen Bewegung, der Medien und der Intellektuellen gewonnen, und vor allem erreicht, dass die Aktion, die sie charakterisiert, die escrache (Ansammlung vor dem Domizil eines Peinigers, damit die Gemeinde von ihm erfährt) in Zeiten starker Mobilisation von breiten Teilen der Gesellschaft übernommen wurde.

Wenn man bei den Praktiken der HIJOS innehält, ist es wichtig, dass man betont, wie sie auf eine Art und Weise, die sehr der des Zapatismus ähnelt, versuchen, die sozialen Kämpfe aufrechtzuerhalten. HIJOS definiert sich als eine "horizontale Organisation nach dem Konsens-Prinzip". Sie hat die Asymmetrie zu ihrem Kennzeichen gemacht. "Es macht keinen Sinn, sich ständig am Feind zu orientieren: Wenn der Feind "weiß" sagt, müssen wir "schwarz" sagen, um das System zu bekämpfen"(Situaciones, 2002a). Sie versuchen nicht zu erreichen, dass die Justiz die Völkermörder bestraft, sie schlagen nicht einmal eine "öffentliche Bestrafung" vor, sondern etwas Tiefgehenderes: Dass jedes Viertel, in dem die Mörder wohnen, ihr Gefängnis sein soll, jeder Nachbar ihr Kerkermeister. Dadurch, dass HIJOS auf die soziale Bestrafung setzen, versuchen sie (meist erfolgreich), die Netzwerke und Organisationen in die escraches mit einzubeziehen, so dass diese monatelang mit ihnen zusammenarbeiten, sich von dem Takt, den das System und die Medien vorgeben, befreien und sich nur um den "inneren Takt" der sozialen Bewegung kümmern. Die Ergebnisse sind überraschend: Es haben nicht nur Dutzende von Nachbarschaftsversammlungen im Lauf des Jahres 2002 Hunderte von escraches gegen am Völkermord beteiligte Militärs durchgeführt, viele von ihnen mussten auch umziehen, da sie von den Nachbarn nicht mehr gegrüßt wurden, und es für sie sehr schwierig war, in ihrem Viertel Brot und Zeitungen zu kaufen.

Für HIJOS sind die horizontale Organisation und der Wiederaufbau von solidarischen Bindungen, die durch die Diktatur zerstört wurden, genauso wichtige Zielrichtungen, wie die Bestrafung von Völkermördern.

"Die horizontale Ausrichtung ist eine spezielle Vision der Demokratie. Man könnte sagen, dass sie ein Weg ist, und gleichzeitig eine Art und Weise, wie man diesen Weg entlang geht (...) Die horizontale Ausrichtung ist auf grundlegende Weise eine Anstrengung, eine Forderung an jeden Einzelnen, das Beste von sich zu geben, sich nicht auf dem Know-how der anderen auszuruhen, die Entscheidungen und den Takt des Kollektivs zu akzeptieren. Alle Organisationen zeigen in ihrer Art zu arbeiten das Ziel, das sie erreichen wollen. Die Art, wie man Politik macht, ist ein Zeugnis (oder sollte eines sein) für die Welt, die Gesellschaft, in der sie leben wollen" (Zibechi, 2003; S.58).

HIJOS ist auf eine gewisse Weise die "am reinsten" zapatistische Organisation der nicht-indigenen Welt Lateinamerikas. Natürlich handelt es sich um ein sehr spezielles Kollektiv. Seine Mitglieder sind alle Kinder der Aktivisten der 1960er und 70er Jahre, der Verschwundenen, derer, die ins Gefängnis oder ins Exil geschickt wurden – das sind aktive und geprägte Jugendliche, von denen viele Studenten sind. Zu den Texten, auf die sie sich beziehen, gehören an erster Stelle die Kommuniques der ELZN.

Visionen des sozialen Umbruchs

Auf eine ganz andere Art gewinnt eine weitere Idee des sozialen Wandels an Terrain. Es handelt sich nicht um einen deutlich abgegrenzten, präzisen Vorschlag, sondern um die Überzeugung, dass die Veränderungen an die Wiederherstellung von Beziehungen geknüpft sein sollen, die das System seit Jahrhunderten tagtäglich zerstört. Und andererseits geht es um das Gefühl, dass die Veränderungen "unsere eigene Sache" sind oder es gibt sie nicht.

Die vor kurzem getroffene Entscheidung der EZLN, die Aguascalientes 2 zu schließen und an ihrer Stelle Caracoles als Orte lokaler und regionaler Autonomie aufzubauen, wird eine stimulierende Anregung sein. Die Zapatisten haben beschlossen, eine tatsächliche Autonomie in Gang zu bringen, ohne darauf zu warten, dass sie vom mexikanischen Staat genehmigt wird. Dieser Weg unterscheidet sich nicht besonders von jenem, dem sie früher folgten, auch nicht von jenem, auf dem die indigenen Ecuadorianer (aber auch andere Teile des Kontinents und Mexikos) voranschreiten. Diese beschlossen, sich verstärkt in die Gemeinden zu begeben, in denen sie die ethnische Vorherrschaft besitzen, um von dort aus den Grundstein für die neue Gesellschaft zu legen.

Die Idee, neue Beziehungen zwischen den Menschen und der Umwelt zu schmieden, in Freiräumen, die die sozialen Bewegungen kontrolliert, ist tief in das Bewusstsein vieler Gruppen und Organisationen eingedrungen. Marcos’ Metapher, nach der es Leute gibt, die "ihr Leben damit verbringen sich vorzustellen, dass ein Steuerruder existiert und dafür zu kämpfen, es zu übernehmen" , während andere "eine Insel nicht zu einem Zufluchtsort für die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse machen, sondern zu einem Schiff, um eine andere Insel zu besuchen, und noch eine, und noch eine...", diese Metapher beginnt zu einer Lebenseinstellung für einen beträchtlichen Teil derer zu werden, die ihr Leben der Aufgabe widmen, die Welt zu verändern; angefangen mit der sozialen Bewegung.

Raúl Zibechi

Journalist, Uruguay

Spanische Originalversion des Artikels: : "Los impactos del zapatismo en América Latina", La Fogata, 12-12-2003

  1. Aguascalientes war ein Treffpunkt zwischen der Zivilgesellschaft und der aufständischen zapatistischen Armee. Im August 2003 kündigte die EZLN an, sie durch Caracoles zu ersetzen. Es handelt sich um eine bedeutende Änderung der Strategie, um einen ersten Schritt, die EZLN als bewaffnete Bewegung durch eine zivile politische Kraft zu ersetzen.