Die französische Genossenschaft «Atelier paysan» (bäuerliche Werkstatt) begleitet Bäuerinnen und Bauern bei der Selbstplanung und dem Selbstbau von Maschinen und Gebäuden, die sich für eine agrarökologische Lebensmittelproduktion eignen. Sie hat auch ein Buchmanifest für bäuerliche Autonomie und Ernährungsautonomie herausgegeben.
Archipel: Euer Buch «Reprendre la terre aux machines»1 (Die Erde den Maschinen entreissen) ist eines der besten Werke, die wir in letzter Zeit zum Thema bäuerliche Autonomie und Ernährungsautonomie gelesen haben. Es beginnt mit einer schonungslosen Bestandesaufnahme der modernen Landwirtschaft: Bauernsterben, Verlust der Artenvielfalt, Umweltverschmutzung, Treibhausgase, Mangel- und Unternährung... Wie konnte es zu dieser Krise kommen?
Atelier Paysan: Um die Agrarlandschaft zu beschreiben, verwenden wir im «Atelier paysan» nicht den Begriff «Krise». Es handelt sich vielmehr um den Kometenschweif eines landwirtschaftlichen Modernisierungsprozesses, der bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, selbst wenn er erst in der Nachkriegszeit richtig Fahrt aufgenommen hat. Die staatliche Politik hat mit Absicht einen agroindustriellen Komplex aufgezogen, um sich die Wertschöpfung des Agrarsektors anzueignen. Die Auswirkungen dieser Lenkungspolitik liessen nicht lange auf sich warten: Verfall der Lebensmittelpreise, extreme Zusammenballung der Höfe und Zerfall der bäuerlichen Gemeinschaften, wahnwitziges Streben nach Renditensteigerung. Kurz gesagt: Die Landwirtschaft wurde ausgebeutet. Man zielte darauf ab, den Agrarsektor nur noch als Absatzmarkt für die vorgelagerten Industrien (Agrochemie, Maschinenindustrie, Gentechnik) und als Lieferant der nachgelagerten Industrien (multinationale Konzerne für Endverarbeitung und Grossverteiler) zu nutzen.
Mit dem Versuch, die Schrumpfung der bäuerlichen Bevölkerung und ihres Know-hows angeblich zu verhindern, hat der Staat Einkommensbeihilfen eingeführt, die angeblich der Landwirtschaft und ihren Akteur·inn·en dienen sollen, in erster Linie jedoch der industriellen Logik folgen. Man kann sich die anbauflächenproportionalen Direktbeihilfen (erste Säule der gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union) als Mittel zur Förderung einer Expansionslogik vorstellen, aber auch als Kapitalisierungslogik via Subventionen für Investitionstechnologien (Landmaschinen, Drohnen etc.), die nichts anderes als eine Vergrösserung der Betriebe zur Folge hat.
Nach nunmehr mehreren Jahrzehnten ist dieses Modells unwiderruflich an seine physikalischen Grenzen gestossen, in Form von Umweltschäden, vor denen wir unsere Augen nicht länger verschliessen können. Die Debatte über die landwirtschaftliche Modernisierung nimmt jedoch weiter Fahrt auf, Robotisierung und Digitalisierung der Landwirtschaft werden angestrebt. Der Titel des Buches ist also sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne zu verstehen: Wir müssen die Erde, den Grund und Boden, der technologischen Logik entreissen, um sie wieder der Bearbeitung durch den Menschen zuzuführen, aber auch unser gesamtes Leben der industriellen Logik des kapitalistischen Wettbewerbs entziehen. Das bäuerliche Dasein verfügt über Werte, die zu einem gemeinsamen Projekt gehören, das weit über die Ernährungsfrage hinausgeht.
Welche Mechanisierung und Technologie sind für Bäuerinnen und Bauern sinnvoll?
Einerseits haben wir die zentrale Achse der Technologie gewählt, weil ihr im Kampf der Bauern und Bäuerinnen generell zu wenig Beachtung zukommt. Der Ursprung dieses blinden Flecks findet sich in der vorherrschenden Auffassung, Technik (und Wissenschaft) seien neutral, und in der Ideologie des Lösungsdenkens, die dazu neigt, jeden technologischen Fortschritt mit sozialem Fortschritt gleichzustellen. So erben wir aus der Tradition von Sozialismus und Arbeiterschaft die Illusion, Technologie diene der Befreiung, wie sie auch dem Kapitalismus zu eigen ist. In einem solchen Kontext ist es zwingend notwendig, dass wir wieder lernen, unsere technologischen Entscheidungen demokratisch zu hinterfragen. Die Mechanisierung ist ein tiefgreifend strukturierender Aspekt des agro-industriellen Modells, mit ihrem Hang, technologische Lösungen der menschlichen Arbeit vorzuziehen. Als letztlich nicht entscheidende Ursache der industriellen Logik hätte sich dieses Modell ohne die technologische Eskalation, die Gier nach fossilen Brennstoffen und den Wettstreit im materiellen Einsatz niemals durchsetzen können.
Es geht nicht darum, jegliche Form von Technologie oder Mechanisierung abzuschaffen, sondern darum, zwischen Technologien zu unterscheiden, die mit den Grundlagen der bäuerlichen Landwirtschaft vereinbar sind, und solchen, die dem Kalkül der agro-industriellen Imperien dienen. So unterscheiden wir zwischen «industriellen» Technologien, die so komplex konzipiert sind, dass es den Nutzer·inne·n nicht möglich ist, sie abzuändern und zu reparieren, und den «bäuerlichen» Technologien, einfach in der Konzeption, gemeinsam nutzbar, von den Landwirt·inn·en abänderbar für eine vielseitige Nutzung in einer subtilen, viel Know-how erfordernden Agrarwirtschaft.
Wir brauchen eine Agronomie und Technologien, die sich dem menschlichen Know-how, dem naturwissenschaftlichen Wissen und den sich ändernden Boden- und Klimabedingungen ständig neu anpassen lassen. Die Industrie produziert mit ihrem Zwang zu Standardisierung und Konzentration der Produktion das Gegenteil. Bäuerliche Technologien gehören nicht zur Landwirtschaft der Vergangenheit, sondern sind unsere einzige Chance für die Zukunft.
Wie kommt es, dass sich das industrielle Modell trotz langjähriger Kritik aus vielen Disziplinen im Laufe der Jahre gehalten und gefestigt hat? Weil wir es mit einem mächtigen Gegner zu tun haben: einem etablierten agroindustriellen Komplex, der aus einer Koalition von Industrie, Staat und Forschungseinrichtungen besteht und relativ unsichtbar ist. Bisher wurden diese Sektoren einzeln und unkoordiniert angegriffen, weil es schwieriger ist, diesen Komplex in einer einzigen Logik zu begreifen. Das ist aber auch ein spannender Aspekt: Zahlreiche Angriffsstrategien sind daher noch nicht ausprobiert worden. Um sie herauszufinden, müssen wir kollektiv überlegen, wie wir die Ursachen erkennen können. Allzu oft konzentrieren wir uns reflexartig nur auf die Folgen für die Umwelt. Wir sind jedoch überzeugt davon, dass wir an den Umweltfolgen nichts ändern werden, wenn wir uns nicht mit den sozioökonomischen Ursachen befassen.
Es geht nicht um Werte, Moral und individuelle Verantwortung, wenn es auch bequemer und weniger konfliktträchtig ist, die Dinge so zu sehen. Wir sollten uns nicht täuschen. Unsere einzige Hoffnung liegt darin, endlich eine radikale Wende anzugehen. Ohne diesen Schritt tappen wir in die nächste Falle: Es besteht die Gefahr, dass jeder Fortschritt in unserem Widerstand vom Markt sofort als Zusatzangebot integriert wird, ohne dass der Staat intervenieren muss.
In diesem Zusammenhang argumentiert Ihr, dass die Produkte der alternativen Landwirtschaft dazu tendieren könnten, das Modell der industriellen Landwirtschaft zu stabilisieren anstatt es zum Einsturz zu bringen. Wie soll der Kampf der Bäuerinnen und Bauern weitergehen?
Der Schriftsteller und Widerstandskämpfer René Char sagte: «Hellsichtigkeit ist die Wunde der Sonne». Dieses Buch «Reprendre la terre aux machines» zu schreiben, war eigentlich Trauerarbeit. Sie hat uns gutgetan. In den Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern wollen manche diese Erkenntnis nicht hören oder empfinden sie als deprimierend. Andere sehen diese Feststellung als Befreiung. In unserer Zeit, da unzählige Schwellen unumkehrbar überschritten werden, müssen wir den Herausforderungen gewachsen sein und uns zu einer kritischen Hellsichtigkeit durchringen, auch wenn dies schmerzhaft ist. Aber Vorsicht: Wir sagen nicht, dass die Agrarökologie, die (neuen) bäuerlichen Alternativen, die nachbarschaftliche Vertragslandwirtschaft und alle Initiativen, die Alternativen zur Agrarindustrie aufzeigen, eingestellt werden sollen. Diese Bauern und Bäuerinnen müssen überleben, weil sie unverzichtbar sind, um aufzuzeigen, dass eine zukunftsfähige Produktion und ein zukunftsfähiger Konsum von Lebensmitteln existieren. Kritisch beobachten wir hingegen die Tendenz, dass die Agrarökologie sich selbst, allein durch ihre Existenz, als gesellschaftsverändernd erachtet. Dabei handelt es sich um eine politisch unhaltbare Illusion, die in keiner Weise zur Veränderung der Gesellschaft beiträgt. Zu glauben, die Promotion eines Marktangebotes mittels einer neuartigen kommerziellen Strategie werde die Marktlogik zum Einsturz bringen oder sich in irgendwelcher Art positiv auswirken, ist eine grundlegend neoliberale Ideologie. Die Industrie rückt schneller voran als wir, und wir verlieren an Boden: weniger Bäuerinnen und Bauern, weniger Know-how, mehr Ernährungs-Unsicherheit. (…)
Uns geht es darum, ein gemeinsames politisches Projekt zu formulieren, das über die Agrarfrage hinausgeht und sich mit der Ernährung für alle befasst.
Welche Wege gibt es, um eine neue Politisierung der Bewegung für bäuerliche Landwirtschaft zu erreichen?
Wir haben drei Achsen für gemeinsame Überlegungen und kollektive Aktionen skizziert. Auf der ersten Achse geht es darum, die Mechanismen des weltweiten Freihandels und insbesondere seine Auswirkungen auf die Produktionskosten der Lebensmittel zu erkennen. Hier gibt es ermutigende Aspekte, da Vorschläge von Gewerkschaften für Kampfmassnahmen bereits auf dem Tisch liegen. Geht es dabei jedoch um den europäischen Freihandelsraum, fällt die Kritik sehr zurückhaltend aus, da sie als «Thema» der extremen Rechten betrachtet wird. Wir tun uns schwer damit, in diesem Zusammenhang Kritik zu äussern, da wir fürchten, dass wir so Wasser auf die Mühlen der extremen Rechten giessen könnten.
Die zweite Achse befasst sich mit der technologischen Frage als zentraler Hebel und strukturierendes Element des agro-industriellen Modells. Es muss eine breite Bürger·innenbewegung entstehen, ähnlich wie bei der Auseinandersetzung gegen die Gentechnologie. Wir sind optimistisch, dass diese Bewegung zustande kommen kann. Die Schreckensvision einer Landwirtschaft mit mehr Robotern als Bauern auf den Feldern könnte mobilisierend wirken, auch über die Nahrungsmittelproduktion hinaus. Es geht auch um Fragen, die mit der Landschaft, dem Leben in ländlichen Gebieten, unserem Erbe und unserem Know-how zu tun haben. Im Kontext des Zusammenbruchs gehen viele Menschen schon heute intuitiv davon aus, dass auf unserem Planeten die bäuerliche Welt vielleicht unsere einzige Überlebensmöglichkeit ist.
Die dritte Achse schliesslich liegt in einem Schlüsselwort: Sozialisierung. Unser Zugang zu Nahrungsmitteln muss von unserem individuellen Einkommen abgekoppelt werden. Lebensmittel und Landwirtschaft müssen aus der Wettbewerbs-Logik herausgelöst werden. Auch auf dieser letzten Achse gibt es bereits zahlreiche Versuche, Grund und Boden partiell zu sozialisieren – kollektiver Kauf von Land und Bauernhöfen, Schulkantinen, Volksküchen etc. Wir sollten uns unter einem gemeinsamen Banner zusammenfinden, um auf eine bewusste Intensivierung dieser Sozialisierung hinzuarbeiten. Wir können die Lebensmittelproduktion mit einer sozialen Sicherheit ausstatten. Es geht darum, direkte und radikal demokratische, institutionelle Mechanismen zu finden, um Mehrwert, der in anderen Sektoren entsteht, auf die Nachfrage nach Nahrungsmitteln umzuverteilen, so wie es (in Frankreich, Anm. der Übersetzer·innen) bereits mit dem Gesundheitswesen der Fall ist2. Ein konkretes Beispiel, über das wir im «Atelier Paysan» im Rahmen eines nationalen Kollektivs nachdenken: Man könnte, unter Beibehaltung eines Preis- und Marktsystems, eine universelle Zulage für Ernährungssicherheit bereitstellen, die nur für eine bestimmte Art von bäuerlicher Landwirtschaft ausgegeben werden darf. Hinter dieser Idee einer durch lokale Versammlungen vereinbarten Konvention verbirgt sich ein enormes politisches Potenzial für einen gemeinsamen Zugang zu einer guten Ernährung. (…)
Mathilde Vandaele
Der Artikel ist erschienen in «Moins!», Zeitung für Politische Ökologie in der französischen Schweiz, Nr. 59, Juli-August 2022, übersetzt für Archipel von Erika Schuhmacher und Hannes Lämmler.
«Reprendre la terre aux machines», Editions Seuil, collection Anthropocène, Paris, 2021
In Frankreich wird die «Couverture médicale universelle CMU» – die universelle Krankenversicherung – von der «Sécurité sociale», der Institution der staatlichen Sozialversicherung, getragen und bietet den ärmeren Bevölkerungsschichten kostenlos einen Versicherungsschutz bei Krankheit und Unfall.