LAND - WIRTSCHAFT: Hunger – über die Gründe für Unterentwicklung 1.Teil

von Jacques Berguerand (Longo maï), 19.05.2011, Veröffentlicht in Archipel 192

Mit diesem Artikel beginne ich eine Reihe von Buchvorstellungen, die um ein gemeinsames Thema kreisen und einigen hartnäckigen Mythen ein Ende bereiten. Nein, Hunger ist kein Schicksal, für welches das launische Klima, die Überbevölkerung der Erde oder irgendeine minderwertige Rasse verantwortlich gemacht werden müssten. Selbst wenn einige Kontinente vorteilhaftere Bedingungen haben als andere, bleibt Hunger eher das Resultat von sozialen und wirtschaftlichen – folglich politischen – als geographischen Faktoren: Hunger ist eine Plage, für die hauptsächlich der Mensch verantwortlich ist.

Beim ersten Buch handelt es sich um «Geopolitik des Hungers» von Josué de Castro, das 1952 auf Französisch (Editions Ouvrières) und 1973 in deutscher Übersetzung beim Suhrkamp Verlag erschienen ist.
De Castro wurde im November 1908 in Recife im Nordosten Brasiliens geboren. Er war Arzt und Professor für Physiologie an der Universität von Recife. 1946 publiziert er ein erstes Buch mit dem Titel «Geographie des Hungers», das sich mit seiner Herkunftsregion beschäftigt. Schon zu diesem Zeitpunkt prangert er den Neokolonialismus an, der den Anbau von Zuckerrohr für den Export bevorzugt und die ausreichende Lebensmittelversorgung des eigenen Landes vernachlässigt. 1952 erscheint das Buch, von dem wir sprechen werden. Er arbeitet mit der FAO (Food and Agriculture Organization) in Ernährungsfragen zusammen und wird zum Präsidenten des Exekutivrates ernannt. 1954 wird er im Staat Pernambuco als Abgeordneter ins brasilianische Parlament gewählt. In den 1960er Jahren publiziert er das «Schwarzbuch des Hungers». Darin denunziert er die internationale Aufteilung der landwirtschaftlichen Produktion, welche die westliche Welt empfiehlt. 1962 wird er zum Botschafter von Brasilien bei der UNO ernannt. Mit dem Militärputsch in Brasilien 1964 verliert er seine Staatsbürgerschaft und emigriert nach Frankreich, wo er 1968 Professor für Geographie an der Universität von Vincennes wird.
1972 nimmt er an der ersten weltweiten Umweltkonferenz in Stockholm teil. Bei dieser Gelegenheit stellt er einen Text über den Schutz der stark bedrohten Amazonas-Regenwälder vor. 1973 stirbt er in Frankreich, eine Woche nach dem Tod seines chilenischen Freundes Salvador Allende.
Sein Buch «Geopolitik des Hungers» erschien unmittelbar in der Nachkriegszeit während der Polarisierung von Ost und West. Es ist geprägt von einem naiven Optimismus und der Hoffnung, dass durch den Kommunismus ein neuer Mensch entsteht, ein sozialer Mensch, der nach kollektivem Wohlbefinden strebt. Der Einsatz von DDT zur Bekämpfung von Malaria in Griechenland, Brasilien und anderswo, der daraufhin die Entwicklung von Viehzucht in riesigen davon befallenen Zonen ermöglichte, wurde von Josué de Casto begrüßt. Damals war die Giftigkeit dieser chemische Substanz noch nicht bekannt, ebenso wenig die Tatsache ihrer Langlebigkeit, weshalb sie auch heute noch in der Muttermilch und im Embryo nachweisbar ist. Die Kritik am Einsatz von Chemie in der Landwirtschaft war noch nicht aktuell, im Gegenteil, er schien sogar zukunftsweisend.
Auch einige Worte, zum Beispiel «Neger», können schockieren. Sie geben Aufschluss über eine Epoche, in welcher der Kolonialismus noch nicht offen in Frage gestellt wurde, auch wenn die «Kolonien» schon ansatzweise dagegen revoltierten. Im Fall von Frankreich handelte es sich um Kamerun, Madagaskar und Algerien. Indien, bisher englische Kolonie, hatte sich gerade die Unabhängigkeit erstritten. Das Wort «Neger» fließt mehrmals aus Josué de Castros Feder, obgleich er eine schonungslose Anklagerede gegen den Kolonialismus und Neokolonialismus erhebt. Selbst Elisée Reclus, ein bekannter Anarchist, benutzte in seinen Schriften dieses Wort. Vielleicht war seine Verwendung zu dieser Zeit nicht so verpönt wie heute.
Reclus war möglicherweise einer der Wegbereiter der «Geopolitik», der vom Menschen und den sozialen Verhältnissen geprägten Geographie. Denn ein Jahrhundert zuvor leitete er eines seiner Bücher mit folgendem Satz ein: «Geographie ist nichts anderes, als durch Geschichte geprägter Raum, sowie Geschichte nichts anderes ist, als Geographie im Wandel der Zeit.»

Hunger – ein Tabu

Zuerst studiert Josué de Castro die Situation im Nordosten von Brasilien, wo die Monokultur von Zuckerrohr unheilvoll um sich greift. Die Bevölkerung dieser Gegend nimmt viele ursprüngliche Nahrungsmittelquellen nicht mehr in Anspruch, isst vor allem Maniok und weist zahlreiche Mangelerscheinungen auf. Bisher unbekannte Krankheiten wie Beriberi, Pellagra, die auf Vitaminmangel zurückzuführen sind und Kropfbildungen tauchen auf, die sich durch den Verzehr von raffinierten Produkten (Zucker, Reis, etc...) noch verschlimmern. Die Bevölkerung entlang der atlantischen Küste hingegen betreibt Fischfang. Ihre Nahrung enthält deshalb Proteine und sie erfreut sich einer besseren Gesundheit.
Von diesem Beispiel ausgehend wird er die Geographie der menschlichen Ernährung weltweit analysieren. Dabei vergleicht er jeweils die Mangelerscheinungen der regionalen Ernährungsweise, die oft an die soziale Organisationsform gebunden ist. Oft hat die Bevölkerung einer Zone, in der Viehzucht oder Fischfang betrieben wird, eine proteinreiche Kost und auch eine bessere physische Konstitution.
Seine «Geographie des Hungers» wird zu einer «Geographie der Elendsregionen».
In einer Studie von 1928 stellte der Völkerbund, die Vorläuferorganisation der UNO, fest, dass zwei Drittel der Erdbevölkerung hungert. Josué de Castro zufolge fehlt es nicht an landwirtschaftlich nutzbaren Flächen. Er widerspricht der Sicht der Malthusianer1 von einer überbevölkerten Erde und betont, dass Hunger der Grund einer Überbevölkerung ist und nicht das Gegenteil. Denn Hunger erhöht die Befruchtungsbereitschaft. Die Fruchtbarkeit entwickelt sich in umgekehrter Weise zur verzehrten Proteinmenge. Akuter Hunger vermindert die Produktion von Spermien, und die Menstruation der Frauen bleibt aus. Chronischer Hunger hingegen löst einen Wettstreit zwischen dem Nahrungsinstinkt und dem Fortpflanzungsinstinkt aus. Er erhöht den sexuellen Appetit. Verringert sich der eine, so vergrößert sich der andere. Es ist ein emotioneller Ausgleichsmechanismus. Überbevölkerung ist Ausdruck eines spezifischen universellen Hungers. Auch ausserhalb der Perioden von Hungersnöten ist die Ernährung permanent ungenügend und ungesund - die Menschen sind unterernährt. Epidemien tauchen in Form von Krankheiten auf, die sich auf Protein-, Vitamin- und Mineralstoffmangel in der Ernährung zurück führen lassen. Der Autor spricht von verschieden geartetem Hunger.

Proteinhunger

Heute weiß man, dass die Ernährungsweise auf den anthropologischen Aspekt des Menschen Einfluss nimmt. Dies hat nichts mit Rasse oder genetischem Erbgut zu tun. Es sind die Auswirkungen der Ernährung auf die körperliche Konstitution. Die Ernährung selbst hängt von den vorhandenen Nahrungsmittelvorräten und den Ernährungsgewohnheiten der verschiedenen Menschengruppen ab. Ein größerer Verzehr von tierischen Proteinen verbessert die Konstitution. In Kenia zum Beispiel existieren sehr sichtbare Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen nomadischer Tierzüchter und denen sesshafter Bauern.
In tropischen Gegenden mangelt es der hauptsächlich pflanzlichen Ernährung (Getreide, Wurzelknollen, Hülsenfrüchte) generell gesehen an Proteinen. Dies führt zu einer verminderten Widerstandskraft gegen Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Lungenentzündungen, Ruhr, Typhus, etc. Man weiß, dass Tuberkulose nicht nur auf Hygieneprobleme zurückzuführen ist, sondern auch auf Ernährungsmängel. Teilweise ist das Problem heute durch den Verzehr von Hühnerfleisch und vor allem Eiern geregelt. Fehlen tierische Proteine, liegt es nun an der ungenügenden Kaufkraft. Die Argumente von Josué de Castro haben leider nur dazu geführt, dass sich industrielle Hühnerzucht in den armen Ländern entwickelt, was keinesfalls die Probleme ihrer Nahrungsmittelabhängigkeit löst.
Ein erwachsener Mensch braucht im Durchschnitt 3000 Kalorien pro Tag. Nur etwa 50 tierische Arten von zwei Millionen bekannter Arten werden verzehrt und nur 600 von 350.000 bekannten Pflanzenarten werden genutzt. Eine Ernährung, die auf Getreide basiert, liefert viel Energie, ist aber relativ mineralstoff- und vitaminarm. Dies führt zu Mangelerscheinungen, auch wenn Getreideanbau an den Ufern von Tigris, Euphrat und Nil dort eine große Bevölkerungskonzentration ermöglichte. Die urtümlichen Bevölkerungsgruppen hatten oft sehr verschiedene Nahrungsquellen. Erst der Kontakt mit den Kolonialherren brachte eine einseitige Ernährung mit sich und so auch die damit verbundenen Krankheiten.

Mineralienhunger

Manchen Böden fehlen Mineralien, und dies wirkt sich auf die dort wachsenden Pflanzen aus. Die schwarze Erde in Zonen mit gemäßigtem und feuchtem Klima, vom Typ des ukrainischen Tschernosjom, sind phosphor- und kalziumreich, aber jodarm. Die roten Böden der feuchten tropischen Gebiete (Laterit) sind ebenso phosphor-, wie kalziumarm, oft auch eisenarm. All diese Mängel an Eisen, Kalzium, Phosphor, Natrium, Jod wirken sich auf die Gesundheit aus. Eisenmangel führt zu Anämie, die oft durch Wurmbefall verstärkt wird. Anämie ließe sich leicht mittels Proteinen und Eisen beheben. Heute weiß man auch, dass intensive Sonnenstrahlen im Körper Vitamin D produzieren, das wiederum zur Fixierung von Kalzium und Phosphor nötig ist. Kalzium ist äußerst wichtig für den Knochenbau und die Zahnbildung. Diese Mangelerscheinung findet sich häufiger in Gegenden mit gemäßigtem, kalten Klima, als in den Tropen. Die Eskimos bilden die Ausnahme auf Grund ihres großen Verzehrs an Fischöl, welches sehr Vitamin-D-haltig ist. Rachitis ist viel seltener in den sonnigen tropischen und äquatornahen Ländern anzutreffen. Gute Zähne sind dort auch sehr häufig. Auch Neurasthenie (Nervenschwäche) und gewisse Depressionen können durch diesen Mangel hervorgerufen werden. Auf den polynesischen Inseln konnte beobachtet werden, wie gesunde Menschen Rachitis bekamen, weil französische Missionare sie zwangen, Kleider anzulegen. Das dadurch vermehrte Schwitzen bedeutete Natriumverlust, weswegen regelmäßig Salz aufgenommen werden musste. Salz ist tatsächlich lebensnotwendig für das Gleichgewicht der menschlichen Körperflüssigkeit, in der unsere Zellen eingebettet sind. Diese Flüssigkeit ist dem Meerwasser ähnlich, wo das erste Leben entstand. Auch die Herdentiere der tropischen Zonen können einen spezifischen Hunger an Eisen, Kalzium, Phosphor und Jod aufweisen.
All diese Mangelerscheinungen wären leicht zu bekämpfen. Aber sie verschlimmerten sich in den Kolonien durch die Degradierung des Menschen zum Sklaven.

Vitaminhunger

Jeder Vitaminmangel hat soziale Konsequenzen. Fehlt Vitamin A, welches in tierischen Fetten enthalten ist, können Augenprobleme und sogar Erblindung auftreten. Eine einseitige Ernährung, die vor allem aus raffiniertem und geschältem Getreide (Reis, Weizen oder Mais), kann zu großem Mangel beim Vitamin-B-Komplex führen und Schädigungen im Nervensystem, an den Augen und der Haut auslösen, auch Krankheiten wie Beriberi und Pellagra treten auf. Starker Mangel an Vitamin C (Ascorbinsäure, in Zitronen und Kohl enthalten) bewirkt Skorbut und die Rückbildung des Zahnfleisches und somit Zahnausfall. Im ersten Jahrhundert berichtete Plinius, dass die römischen Heere wegen Skorbut am Rhein zu stehen kamen. Auch unter den Schiffsbesatzungen der spanischen Eroberer gab es zahlreiche Skorbutopfer. Skorbutbefallene Matrosen von Christoph Kolumbus, die schon dem Tod geweiht schienen, setzten die Befehlshaber auf der Insel Curacao aus. Auf der «Insel der Heilung» mussten sie zwangsweise ihre einseitige Ernährung mit konservierten und getrockneten Lebensmitteln gegen eine viel abwechslungsreichere eintauschen. Das Verzehren von Pflanzen und wilden Tieren ließ sie wieder gesunden. Am Ende des 18. Jahrhunderts machten japanischen Matrosen dieselben bitteren Erfahrungen. Nach der Hungersnot von 1848 in Irland gab es bedeutend mehr Blinde. Nach der schrecklichen Hungersnot, die 1898 im zaristischen Russland wütete, litten fast alle Kinder an Augeninfektionen und die Anzahl der Blinden war erschütternd hoch.
Hunger kann zum Teil als ein entscheidender Auslöser der großen französischen, russischen und chinesischen Revolution angesehen werden.

  1. Anhänger des englischen Ökomomen Malthus (1766-1834). Wirtschaftspolitische Bewegung