Mit diesem Artikel setzen wir die Serie vom April und Mai zum Thema «Hunger» oder «Die tragische Notwendigkeit zu essen.» auf der Grundlage des Buches «Geopolitik des Hungers»1 von Josué de Castro fort. Das Thema hat nach wie vor hohe Aktualität, und mehr denn je zuvor ist der Mensch verantwortlich für das Phänomen Hunger. Im folgenden Artikel werden wir den Kontinent Europa und in einem späteren Artikel Asien behandeln. Seit der Antike ist Europa trotz des gemäßigten Klimas, reicher Böden und geringer Bevölkerungsdichte mit Hunger konfrontiert gewesen. Von den zahlreichen Ursachen kommt den Klimaschwankungen eine wichtige Bedeutung zu.
Zur Klimageschichte (2)
Im Neolithikum, einer mehrere Jahrtausende dauernden Warmzeit, entstand die Landwirtschaft, wir nennen das auch ‚neolithische Revolution‘. Die Alpengletscher erreichten um 1.500 v. Chr. ihre größte Ausdehnung. In der römischen Epoche erfuhr der Weinbau eine Blütezeit, weil die Gletscher sich vorübergehend etwas zurückzogen. Die Ausdehnung der Gletscher dauerte jedoch insgesamt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, also 3.500 Jahre an.
Das europäische Klima erlebte von 750 bis 1230 ein mittelalterliches Optimum, als sich die Gletscher wiederum etwas zurückzogen, man spricht auch vom «schönen XII. Jahrhundert». Es ist die Zeit der großen Rodungen in Westeuropa, die schon im XI. Jahrhundert beginnen. In der zweiten Hälfte des XIII. Jhdts. grassieren überall auf der Welt große Dürren, welche die Ernten verbrennen und an vielen Orten die Menschen zwingen, ihre Dörfer zu verlassen oder gar auszuwandern, wie viele indigene Gemeinschaften aus Texas, Colorado, Neu-Mexiko oder Arizona in Nordamerika. Darauf folgt eine kleine Eiszeit, die bis 1860 dauert, mit kalten und feuchten Jahren. Bei Wetterberuhigung fangen die Menschen wieder an zu roden und besetzen die Landstriche, die sie vorher verlassen hatten. Sintflutartige Regenfälle zerstören die Getreideernte im Winter 1315/16 und führen zu einer schrecklichen Hungersnot. Das ist der Beginn von 10 kalten und feuchten Jahren, und die Menschen in Europa hungern.
Bevölkerungsentwicklung
Im Jahr 1348 ergreift die ‚schwarze Pest‘, die zweifelsohne mit den Flöhen der Schiffsratten aus Asien eingeschleppt wurde, die von Unterernährung geschwächte Bevölkerung. Diese Pestepidemie dezimiert die Bevölkerung Europas, Chinas und Indiens. In der Provence fallen ihr 40 % der Menschen zum Opfer. Während einem Jahrhundert, bis 1450 sind diese Epidemien häufig. Sie reduzieren die europäische Bevölkerung auf die Hälfte und die landwirtschaftliche Produktion um 60 %. Der Hundertjährige Krieg mit England verschlechtert die Situation noch weiter und provoziert anhaltende landwirtschaftliche und wirtschaftliche Krisen und steigende Getreidepreise. Getreide ist Grundnahrungsmittel der Europäer. Die Länder werden von hoher Kindersterblichkeit und Massenauswanderung heimgesucht. Land liegt brach, die Generationen erneuern sich nicht. Frankreich braucht zum Beispiel ein Jahrhundert, bis 1560, um seinen Bevölkerungsstand von 1320 zwischen 17 und 20 Millionen wieder zu erreichen. Diese demographische, wirtschaftliche und soziale Wiederherstellung erklärt sich durch bessere Prophylaxe, weniger virulente Epidemien, bessere Ernährung, eine Renaissance der Landwirtschaft und relativ friedliche Zeiten bis zum Beginn der Religionskriege, die 100 Jahre dauern werden. Dieser Bevölkerungszuwachs, der entsteht, weil die Geburtenzahlen höher liegen als die Todesfälle, ruft steigende Nachfrage, wachsende Produktion und höhere Preise hervor. Aber die Bevölkerungszahlen stagnieren bis 1720, also während vier Jahrhunderten. Der katastrophale Winter 1693/94 bringt Europa wieder Hungersnot und mehr als 500.000 Tote. Die Vulkanausbrüche 1783 in Island und Japan beeinflussen das Wetter und damit den Lebensmittelanbau und verursachen Hungersnöte. Das Bevölkerungswachstum ist sehr langsam, die Erträge und die landwirtschaftlichen Techniken stagnieren. Klimatische Ereignisse wie Dürre, Kälte oder zuviel Regen lösen immer wieder Hungersnöte aus.
Hungersnot und soziale Organisation.
Im Mittelalter erreichen die Hungersnöte ihr größtes Ausmaß. Die wichtigsten Ursachen liegen im Feudalsystem mit seinem unproduktiven Großgrundbesitz und darin, dass die meisten Menschen Leibeigene sind. Sie sind dem Klima und den feudalen Verhältnissen ausgeliefert. Hunger war eine der wichtigsten Ursachen für die französische, die russische und die chinesische Revolution. Der soziale und bäuerliche Aufruhr nährte sich aus einer andauernden Versorgungskrise. Diese wurde durch die Feudalordnung hervorgerufen, die mit ihrer unerträglichen Steuerlast und ihrer ungleichen Besitzstruktur die Entwicklung des ländlichen Raumes und die eigenständige Organisation der Dorfgemeinschaften verhinderte. Sie konnten sich deshalb gegen die Klimaereignisse nicht wehren. 1789 zählte Frankreich 27 Millionen Einwohner, davon 22 Mio. Land- und 5 Mio. Stadtbewohner. Der städtische Aufschwung, bei zuerst geringer landwirtschaftlicher Produktion, hatte den ländlichen Aufschwung zur Folge. Die Nachfrage hat das Angebot stimuliert, im Gegensatz zu heute, wo eine bedeutende Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität einen dramatischen zahlenmäßigen Rückgang der Bauern und Bäuerinnen nach sich zieht. Die wichtigsten Reformen während der Revolutionsjahre bestanden darin, das Land an frei gewordene Bauern zu verteilen, damit sie es bebauen, sich sattessen und die neuen Städter ernähren können.
Im Mittelalter wurde in England zuerst das Land an Kleinbauern verteilt und dann von den Adeligen wieder weggenommen. Sie schickten die Kleinbauern in die neuen Fabriken und betrieben auf dem Großgrundbesitz Schafzucht, um Wolle zu produzieren. England importierte fast sein gesamtes Getreide und mit der industriellen Revolution wurde es zu 60 % von Nahrungsmittelimporten abhängig, um seine wachsende, städtische Bevölkerung zu ernähren. 1879 war ein sehr kaltes Jahr in England, die Ernten wurden zerstört. Hunderttausende Tonnen Getreide mussten aus Russland und Nordamerika importiert werden.
Die katastrophal schlechte Kartoffelernte bewirkte 1846 in Irland eine Hungersnot. Eine Million Menschen starben, eine weitere Million wanderte nach Amerika aus. Die heutige Republik Irland war damals eine englische Kolonie und produzierte für die Metropole. Der Boden war Grundbesitz einiger weniger Engländer, die Iren bearbeiteten ihn als einfache Pächter. Die industrielle Revolution im 18. und 19. Jahrhundert ließ das Proletariat in den Städten wachsen. Andauernde Hungersnöte waren Ursachen für viele Krankheiten, wie Tuberkulose, Rachitis, Blutarmut, usw. Charles Dickens hat die Armut und das Elend des britischen Industrieproletariats sehr gut beschrieben.
Insgesamt förderten die Länder Europas eher die Entwicklung der Industrie und der Städte, und obwohl die Mehrheit der Bevölkerung bis Ende des zweiten Weltkriegs auf dem Land lebte, mussten Nahrungsmittel schon immer importiert werden. Erst nach Kriegsende und mit Schaffung des Gemeinsamen Marktes und der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) in den 1960er Jahren, erlebte die landwirtschaftliche Entwicklung ihren eigentlichen Aufschwung. Um die Selbstversorgung mit Lebensmitteln in Europa zu erreichen, wurde die Zahl der Bauern und Bäuerinnen drastisch gesenkt und die Höfe vergrößerten sich. Diese Politik wird heute von den Bauern selbst sehr stark infrage gestellt, denn sie sind deren erste Opfer.
In Spanien entwickelten sich im Süden unter dem günstigen Einfluss der Araber Mischkulturen mit vielfältigen Gemüsearten und Früchten. Durch die Reconquista und die Vertreibung der Araber entwickelte sich ein feudales Latifundiensystem auf den besten Böden, dem ein landloses Proletariat mit chronisch schlechter Ernährung gegenüberstand.
Die Situation in Italien ähnelt der spanischen. Im Norden ist die Po-Ebene bevölkert und gut entwickelt, der arme Süden mit anhaltenden feudalen Strukturen weist eine arme Bevölkerung auf. Italien musste lange Zeit und auch heute noch einen großen Teil seines hohen Weizenbedarfs importieren.
Die Bevölkerung der zentral- und osteuropäischen Länder war schlecht ernährt, obwohl landwirtschaftliche Überschüsse exportiert wurden. Die Überreste der Feudalzeit in Form von Großgrundbesitz ließen zahlreiche Bauern ohne Land. Sie dienten als Arbeitskräfte für die landwirtschaftlichen Arbeiten auf diesen Gütern. Von der schwach entwickelten Industrie profitierte nur eine Elite. Die restliche Bevölkerung verarmte auf dem Land.
Krieg in Europa
Vor dem zweiten Weltkrieg litt ein Drittel der europäischen Bevölkerung an chronischem Hunger. Immer größere Nahrungsmittelimporte waren notwendig. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929, welche die Wirtschaftsstruktur des Kontinents zerstörte, waren die europäischen Länder gezwungen, diese Importe deutlich zu verringern. Die Ernährung verschlechterte sich und bestand überwiegend aus Mais, Roggen und Kartoffeln. Die protektionistischen Maßnahmen fast aller Länder ließen Produktion und Verbrauch einbrechen. Paradoxerweise entstand sogar Überproduktion, weil es sich viele Menschen nicht leisten konnten, Lebensmittel zu kaufen.
Zu Beginn des Krieges beschlagnahmte das nationalsozialistische Deutschland die Ressourcen und Nahrungsvorräte von Polen, Norwegen, Holland, Dänemark, Belgien und Frankreich. Rumänien, Ungarn und Bulgarien wurden zu deutschen Satellitenstaaten degradiert. Die durchschnittliche Tagesration betrug hier weniger als 1000 Kalorien. Folge der Lebensmittelknappheit war das Erblühen des Schwarzmarkts. Tuberkulose, Anämie, Rachitis und Krankheiten aufgrund von Vitamin- und Kalziummangel breiteten sich aus. Am Ende des Krieges war die landwirtschaftliche Produktion auf 50 Prozent geschrumpft. Im besiegten und geteilten Deutschland war es unmöglich, den internen Tausch zwischen den Regionen wiederherzustellen: Vor dem Krieg lieferte der Osten seine landwirtschaftlichen Überschüsse an den Westen. In Frankreich gab es bis 1949 Lebensmittelkarten. Die Vereinigten Staaten konnten während des Krieges ihre Getreideproduktion verdoppeln und setzten danach den «Marschallplan» und die Vorherrschaft des Dollars durch.
In einem späteren Artikel werden wir den asiatischen Kontinent mit großen Hungersnöten unter dem Blickwinkel des britischen Kolonialismus in Indien im 19. Jahrhundert betrachten, ausgehend von dem Buch «Génocides Tropicaux – Aux origines du sous-développement» von Mike Davis3.
- Erschienen 1952 im Verlag Ouvrières
- Die Angaben über Klima und Bevölkerungsentwicklung in diesem Artikel stammen aus zwei Büchern von Emmanuel Le Roy Ladurie: «Histoire du climat depuis l’An Mil», Flammarion; «Histoire de la France Rural», Seuil
- La Découverte, 2001