Es war eine unglaubliche Situation und vielleicht kann sie gerade deswegen die Kraft der aktuellen Flüchtlingsbewegung und die Angst der Regierungen am besten beschreiben.
Über 1.600 Flüchtlinge wurden am Samstag, den 26. September 2015, zum kleinen Bahnhof von Botovo (Kroatien) gebracht, der ausserhalb des Dorfes direkt an der ungarischen Grenze liegt. Sie wurden von vielen Polizisten, Feuerwehrleuten, Rot-Kreuz-Mitarbeiter_innen und über 150 Aktivist_innen der Open Border Caravan erwartet.
Hunderte junger Menschen, hauptsächlich aus Syrien und Afghanistan, aber auch Familien mit vielen Kindern, sehr alte Menschen, sogar Behinderte mit Rollstühlen, verliessen den von der kroatischen Regierung bereitgestellten Sonderzug. Die meisten Flüchtlinge hatten sich zuvor im kroatischen Lager Opatovac, nahe der serbischen Grenze, aufgehalten, nachdem sie von der Türkei mit Booten die griechischen Inseln erreicht hatten, um dann zu Fuss Nordgriechenland und Mazedonien Richtung Serbien zu durchqueren.
«Offizielle» Fluchthilfe
Jetzt standen sie vor einer merkwürdigen Grenzüberquerung. Zuerst trafen sie auf örtliche Unterstützer_innen und Akti-vist_innen der Open Border Caravan, erhielten auf der einem Marktplatz gleichenden Strasse Getränke, Essen und Kleidung sowie Informationen über die W2eu - Besucherkarte von Welcome to Europe. Dann wurden die 1.650 Flüchtlinge von der kroatischen Polizei durch einen kleinen dunklen Wald zur grünen Grenze mit Ungarn geführt. Die gesamte Grenze war mit Nato-Draht gesichert, doch die bewaffneten ungarischen Soldaten öffneten einen kleinen Spalt im Zaun und forderten die Flüchtlinge auf, diesen (mit nicht mehr als zwei Personen nebeneinander) zu durchqueren. Schliesslich brachten die ungarischen Soldaten alle quer durch ein Feld zu einem weiteren bereit stehenden, 20 Waggons zählenden Zug. Ungarische Helfer_in-nen reichten den Flüchtlingen noch etwas Nahrung durch die Fenster.
Es dauerte einige Stunden bis der Zug in Richtung Hegyeshalom an der österreichischen Grenze abfuhr. Doch das ganze Prozedere lief offensichtlich mit einer gewissen Routine ab, als sei dieser «illegale Grenzübertritt» bereits einige Male während der vergangenen Tage organisiert worden. Über 30.000 Flüchtlinge nutzten diesen Weg und sicher werden noch mehr folgen.
Wir, Aktivist_innen der Open Border Caravan, konnten nicht wirklich glauben, was wir da erlebten. Wir waren gekommen, um den Flüchtlingen bei ihrem Grenzübertritt zu helfen, wenn nötig auch still und heimlich. Was wir sahen, waren zwei Staaten, die das selbst auf befremdlichste Weise erledigten. Wir beschlossen, vorsichtig zu sein und diese für die Flüchtlinge grossartige Tatsache keinesfalls zu stören. Wir hatten eigentlich geplant, eine sichtbare Aktion für die Bewegungsfreiheit zu machen – vor Ort war uns aber sofort klar, dass es in diesem Fall besser wäre, «politisch unsichtbar» zu bleiben und lediglich als Helfer_innen aufzutreten. Ein Mitglied der örtlichen Feuerwehr gab eine logische Erklärung für den Vorgang: Würden die Flüchtlinge die offiziellen Grenzübergänge benutzen, müssten sie angehalten werden, die Behörden wären zu deren Registrierung verpflichtet und wären gezwungen – im Falle Ungarns – von allen, gemäss dem Dubliner Abkommen, Fingerabdrücke ab zu nehmen. Im Falle eines «illegalen» Grenzübertritts entfallen solche Verfahren und die Leute können einfach weiter. Niemand konnte sich vorstellen, dass bürokratische Staaten dermassen kreativ sein können und sogar einen Weg über die grüne Grenze organisieren würden, um Flüchtlingsunruhen zu vermeiden.
Schockierende Bilder
Offensichtlich haben die Länder aus zwei früheren Erfahrungen gelernt: Erstens aus dem notwendigen Rückzug des mazedonischen Militärs von der griechischen Grenze nach anhaltenden Protesten der Flüchtlinge und dem Sturm der provisorischen Grenzzäune. Das hatte eine grosse mediale Aufmerksamkeit erzeugt und die Bilder von Soldaten, die auf Flüchtlingsfamilien mit Kindern einprügelten, waren in allen Nachrichten. Zweitens aus den Ereignissen an der ungarisch-serbischen Grenze als Orbán die letzte Lücke im neuen Stacheldrahtzaun schliessen liess. Wieder gingen Bilder um die Welt, die zeigten, wie mit Einsatz von Tränengas die Festung Europa gegen Asylsuchende «verteidigt» wurde. Weder die kroatische noch die ungarische Regierung wollten die Wiederholung solcher Szenen riskieren. Sie sahen, dass weitere zehntausende Flüchtlinge unterwegs waren und stärker werden würden, sollten sie aufgehalten werden. Getrieben von dieser Angst versuchten sie eine Lösung mit der Schaffung eines «illegalen» Zugangs über die grüne Grenze zu finden.
Es ist nur schwer vorstellbar, dass die Regierungen in Österreich und Deutschland nichts von dem staatlich organisierten Grenzschmuggel zwischen Kroatien und Ungarn wussten. Damit sieht das gesamte europäische Grenzregime noch hilfloser und chaotischer aus als je zuvor.
Ausgehend von den Erfahrungen des vergangenen Jahres wird die Flüchtlings- und Migrant_in-nenbewegung über die Ägäis nicht vor Ende Oktober aufhören. Wir können uns auf weitere intensive Wochen an der Balkanroute und jenseits von ihr, samt unvorhersehbarer Konsequenzen für den Kampf um Bewegungsfreiheit einstellen. In allen Transit- und Zielländern sind wir jeden Tag gefordert, unsere Unterstützung und Zusammenarbeit mit den neuen Bürger_innen fortzusetzen.