Bilanz und Perspektiven der Diskussionsgruppe zum Thema «Krise und Ideologie»: Ich möchte hier auf zwei Punkte zurückkommen, die in den Diskussionen von Ernst Lohoff und Norbert Trenkle der Gruppe Krisis entwickelt wurden und die meiner Meinung nach ausschlaggebend sind für viele der Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Analyse der heutigen Situation.
Viele Unstimmigkeiten betreffend der politischen oder geostrategischen Lage finden ihren Ursprung in einer falschen Auffassung dessen, was das Wesen des Kapitalismus ausmacht.
Grob zusammengefasst kann man diese verschiedenen Analysen an zwei Fragen klarmachen:
- Was heisst Herrschaft im Kapitalismus, wie ist sie strukturiert und wie wird sie ausgeübt?
- Wie ist das Verhältnis zwischen Individuum und System, wie können wir handeln, wenn wir davon ausgehen, dass wir von einem einzigen, allgemein gültigen abstrakten Prinzip beherrscht werden?
Was die Frage der Herrschaft angeht, so meinen Viele, der Kapitalismus sei seinem Wesen nach eine äussere Herrschaft, dominiert von einem oder mehreren Zentren, der Völker oder Regionen der Welt besetzt und kolonialisiert, die an sich nicht kapitalistisch seien.
Es ist dieselbe Auffassung der Herrschaft, die behauptet, dass das typische Merkmal des Kapitalismus die Beherrschung eines Teiles der Bevölkerung über den Rest sei, es handle sich also um eine personifizierte und äusserliche Herrschaft. Diese findet ihren Ausdruck in Slogans wie «Wir sind die 99 Prozent», die von der occupy-Bewegung propagiert wurden, oder in den üblichen Behauptungen, die Schuld am Ganzen liege bei den Banken, den «Banksters» und den Börsenfreaks von der Wall Street.
Ein weltumspannendes System
Entgegen diesen Anschauungen wollten wir ein anderes Verständnis der Struktur des heutigen Kapitalismus darlegen und zur Diskussion stellen. Um die Formulierung wieder aufzugreifen, die im Vortrag vom ersten Tag benutzt wurde, handelt es sich beim Kapitalismus heute um einen «fait social total», d.h. um ein weltumspannendes System, das keinen aussenstehenden Standpunkt mehr hat. Die Tatsache, dass der Grossteil der Weltbevölkerung gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um überleben zu können, hat zur Folge, dass wir alle in einem weltumspannenden ökonomischen System integriert sind. Wir sind Teil einer spezifischen Art der Vergesellschaftung, in der die Individuen über das Produkt ihrer Arbeit in gegenseitige Beziehung treten. Und obwohl die Kluft zwischen Arm und Reich immer grösser wird, kann es nicht ausreichen, den bestehenden Reichtum umzuverteilen, um die Situation zu verändern. Es ist das grundlegende Prinzip der Art der Reichtumsproduktion im Kapitalismus, das in Frage gestellt werden muss; es ist seine eigene Logik, die zu Katastrophen führt. Wir bleiben eingeschlossen in einer Welt, die sich über die Arbeit vergesellschaftet, obwohl gleichzeitig mehr und mehr Arbeit überflüssig wird. Man könnte sagen, dass sich im Kapitalismus heute ein Paradigmenwechsel vollzogen hat: Für die Bevölkerung und ganze Länder steht heute nicht mehr die Ausbeutung auf dem Spiel, sondern der Ausschluss.
Angesichts dieser Gedanken ist zu bedauern, dass in unseren Diskussionen zu heutigen Ereignissen und politischen Auseinandersetzungen diese oft nicht im veränderten historischen Kontext analysiert werden. Der Kolonialismus zum Beispiel war konstitutiv für die Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus, sowohl ökonomisch als auch in der Mentalitätsgeschichte, aber seine Form ist im globalisierten Zeitalter nicht mehr dieselbe. Es wäre auch wichtig, alle politischen Auseinandersetzungen, die hier erörtert wurden, mehr im Rahmen des sich verändernden Kapitalismus zu sehen, der heute immer weniger auf dem Ausnutzen lebendiger Arbeit beruht als auf der Produktion von fiktivem Kapital in der Finanzindustrie.
Diskussionsform und Perspektive
Gewisse Teilnehmer_innen empfanden den von uns organisierten Teil des Treffens zu abstrakt, abgehoben von der Realität und in einem unverständlichen Jargon vorgetragen. Ich teile diese Ansicht überhaupt nicht, auch wenn man sich natürlich immer wieder überlegen muss, wie solche Inhalte vermittelt werden können, was nicht unbedingt einfach ist. Aber wenn man sich das Beispiel nochmals anschaut, das ich gewählt habe, d.h. den Begriff der Herrschaft im Kapitalismus, die man als eine «subjektlose Herrschaft» bezeichnen könnte, wird sofort klar, wie wichtig es ist, andauernd unsere Praxis mit theoretischen Überlegungen zu konfrontieren. Es braucht ein permanentes Hin und Her zwischen Praxis und Theorie, um unsere heutigen Auseinandersetzungen in einer sich verändernden Welt zu reflektieren. Persönlich bin ich etwas frustriert über die Tatsache, dass wir es auf diesem Treffen nicht geschafft haben, diese Konfrontation weiterzuführen. Das Ganze blieb mehr auf einem Niveau der Darstellung verschiedener Standpunkte. Dieses Gefühl der Frustration wird etwas geschmälert durch zahlreiche Kontaktaufnahmen und informelle Gespräche, die stimulierend waren.
Fortsetzung folgt
Wir werden weiterhin Seminare, Lese- und Diskussionsgruppen zu radikaler Kapitalismuskritik organisieren und dies sowohl zu dem, was man als die «objektiven» Seiten des Kapitalismus bezeichnen kann, sowie über die Konsequenzen seiner Zerfallserscheinungen für die moderne Subjektivität. Natürlich sind Alle, die Interesse an solchen Diskussionen haben, eingeladen daran teilzunehmen. Zum Diskutieren besuchen wir auch gerne andere Gruppen, die Ähnliches organisieren.