Nach dem britischen Votum für den EU-Austritt steht nicht nur die Zukunft der europäischen Wirtschaftsmacht auf dem Spiel. Das Ressentiment gegen die EU ist zur geschichtsmächtigen Kraft geworden. Mit ihm können sich europaweit auch Linke identifizieren.
Die erste Aufregung hat sich inzwischen gelegt. Die Ankündigungen der Zentralbanken, die Finanzmärkte im Bedarfsfall mit einer unbegrenzten Menge frischen Geldkapitals zu fluten, haben ihre Wirkung nicht verfehlt und die Lage an den Finanzmärkten nach herben Einbrüchen fürs Erste entschärft. Der Teil der politischen Führungsschicht, der Europa zusammenhalten möchte, übt sich zur Beruhigung in Zweckoptimismus. «Die EU ist stark genug, um auch mit 27 Mitgliedern weiter voranzuschreiten», verkündete Angela Merkel und stellte bei der Gelegenheit auch gleich klar, wie die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Grossbritannien aussehen sollen, nämlich «eng und freundschaftlich». Allerdings betonte die Bundeskanzlerin gleichzeitig, dass es einen «deutlichen Unterschied geben muss zwischen einem Staat, der Mitglied der EU ist, und einem, der dies nicht mehr ist».
Hinter dieser Botschaft verbirgt sich ein handfester Konflikt, der die Entwicklung der kommenden Jahre bestimmen wird und den britischen EU-Austritt zu einer Hängepartie machen dürfte. Auf der einen Seite ist der Finanzplatz London für das globale Kapital und die europäische Wirtschaft viel zu wichtig, als dass die EU dessen Absturz riskieren dürfte. Verliert London alle mit der EU-Mitgliedschaft verbundenen Privilegien, dann mutiert der «Brexit» von einem Akt der Selbstbeschädigung des britischen Standorts zum kollektiven Selbstmord der Wirtschaftsmacht Europa. Auf der anderen Seite kann die EU Grossbritannien aber auch nicht zu weit entgegenkommen. Potentielle Nachahmer dürfen keinesfalls ermutigt werden, sonst zerlegt sich der europäische Zusammenhang selbst. Jean-Claude Juncker, François Hollande und vor allem Angela Merkel sind nicht ganz unschuldig am Ausgang des britischen Referendums und am politischen Dilemma, in dem sie jetzt stecken. Insbesondere die deutsche Regierung hat in der Euro-Krise den Briten schon mal vorgemacht, wie man die EU erfolgreich in eine Spielwiese kurzsichtiger Sonderinteressen und einer irrationalen Ideologie verwandelt, als sie, unter dem Applaus der deutschen Wählerschaft, verschuldeten südeuropäischen Ländern eine höchst destruktive Austeritätspolitik oktroyierte. Das schlechte Beispiel macht Schule. Wichtiger als das miese Vorbild einer engstirnigen Politik sind freilich die strukturellen Veränderungen, die das kapitalistische Weltsystem und dessen europäische Abteilung seit den achtziger Jahren und vor allem im Zuge des Finanzcrashs von 2008 erlebt haben.
Die City und das fiktive Kapital
Grossbritannien war das erste europäische Land, das besonders energisch auf den Finanzsektor als neuen Wachstumsantrieb setzte. Rein ökonomisch betrachtet hatte der Thatcherismus keinen anderen Inhalt, als die britischen Inseln um den Preis ihrer weitgehenden Deindustrialisierung in ein Mekka des fiktiven Kapitals zu verwandeln. Diese Neuausrichtung war zwar insofern von Erfolg gekrönt, als die britische Ökonomie zunächst auf dieser neuen Grundlage wieder Wachstum verzeichnen konnte, allerdings ging sie von Anfang an mit einer extremen sozialen und regionalen Zerklüftung einher. Der boomenden Region um die Hauptstadt standen die dem Verfall preisgegebenen ehemaligen Industriezonen Nordenglands gegenüber, den neuen Mittelschichten die ins Abseits gedrängten Unterschichten.
In den Nullerjahren profitierte die britische Wirtschaft dank der Stellung Londons als wichtigstem Finanzplatz Europas nicht nur vom US-amerikanischen Immobilienboom, sondern wie das übrige Europa auch erheblich vom innereuropäischen Defizitkreislauf, der damals ganz neue Dimensionen annahm. Bestimmte Regionen (vor allem im Süden Europas) reüssierten als Anlagestandort für Geldkapital und verschafften damit anderen Regionen (vor allem Deutschland und einigen seiner Nachbarländern) die Möglichkeit, im Gegenzug massenhaft Gütermarktwaren dorthin zu exportieren. Die Krise von 2008 zerstörte diese Win-win-Konstellation und schuf eine neue Situation. Wegen ihrer einseitigen Ausrichtung auf den Finanzsektor litt die britische Wirtschaft besonders stark und dauerhaft unter dem Einbruch. Vor allem gegenüber Deutschland, einem der wenigen Krisengewinnler der vergangenen sieben Jahre, verlor der britische Standort erheblich an Wichtigkeit und wieder hatten vor allem die an den Rand gedrängten Klassen die Zeche zu zahlen.
Ein teurer Ausstieg
Ähnlich wie auf dem Kontinent reagierten weite Teile der Bevölkerung auf die sozialen Verwüstungen mit einer nostalgischen Sehnsucht nach der «guten alten Zeit» des Fordismus1, als die britische Wirtschaft noch den Charakter einer weitgehend geschlossenen Nationalökonomie mit breitem industriellen Fundament hatte. Mehr noch als in Kontinentaleuropa mutierte die EU dabei zum ideologischen Sündenbock für das gescheiterte neoliberale Modell und die inneren Widersprüche einer von der Dynamik fiktiver Kapitalschöpfung getragenen Weltwirtschaft. Dass der EU-Austritt weder dem Vereinigten Königreich neue Spielräume gegenüber dem globalisierten Kapital eröffnet noch die Chancen für eine Umverteilungspolitik erhöht, liegt auf der Hand. George Osborne, seines Zeichens Schatzkanzler jener Regierung, die aus rein innenpolitischen und taktischen Erwägungen das Referendum auf den Weg gebracht hatte, stellte wenige Tage nach dem Referendum schon mal klar, was nun ansteht: Um die Kapitalflucht zu verhindern, ist eine starke Absenkung der Körperschaftssteuer anvisiert, die durch Steuererhöhungen bei den Normalverdienern gegenfinanziert werden soll. Die britische Regierung versucht den Folgen des EU-Referendums gegenzusteuern, indem sie einen Steuerdumping-Wettbewerb mit der EU eröffnet. Selbst Nigel Farage, der entschiedenste Vorkämpfer für den Ausstieg, räumte implizit ein, dass der EU-Austritt den Brit _innen teuer zu stehen kommen wird, indem er angesichts seines grossartigen Triumphs sicherheitshalber seinen Rückzug ins Privatleben verkündete.
Identitärer Wahnsinn
Handelt es sich beim EU-Ausstieg also um einen reinen Pyrrhussieg seiner Fürsprecher? Leider nicht. Der identitäre Wahnsinn und der Fremdenhass, für den die «Brexit»-Bewegung wesentlich steht, haben gute Chancen, der weiteren Entwicklung in Großbritannien und Europa ihren Stempel aufzudrücken. Dem Kapital können die Austrittsbefürworter nicht zeigen, was eine Harke ist, umso entschiedener kühlen sie ihr Mütchen an den Zuwanderern aus Ost- und Südeuropa und den Flüchtlingen. Noch mimen die Regierungen in Paris und Berlin Entschlossenheit im Kampf gegen den britischen Festungsbau. Frankreichs Präsident Hollande jedenfalls tönte, was künftige Verhandlungen angeht: «Es sind die vier Freiheiten oder keine.» Wenn Grossbritannien vom freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital profitieren will, muss es auch die Freizügigkeit von Personen gegenüber der EU akzeptieren, so der Tenor. Das letzte Wort ist damit aber sicherlich noch nicht gesprochen. Der ehemalige Leiter des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn machte vergangene Woche die Armutsmigration innerhalb der EU für das britische Ausstiegsvotum verantwortlich und deutete damit bereits an, auf welchem Gebiet die EU-Kernstaaten den Briten entgegenkommen könnten. Die Freiheit des Kapital- und Güterverkehrs ist für das Weiterfunktionieren des kapitalistischen EU-Systems unverzichtbar, über alles andere lässt sich reden. Mit dem britischen Ausstieg drohen eine neue Runde im Lohn- und Sozialdumping und ein Dammbruch in Sachen Rassismus und Ausgrenzung.
Restauration des Nationalstaats
Das britische Referendum markiert einen historischen Einschnitt. Zum ersten Mal hat der Neonationalismus auf der grossen europäischen Bühne über den Globalismus neoliberaler Prägung triumphiert. Damit ist die Ideologie der Restauration des Nationalstaats endgültig von einer Randstörung zu einer geschichtsmächtigen Kraft geworden. Nach dem Motto «Die Niederlagen unserer neoliberalen Feinde sind unsere Siege» versucht ein nicht unerheblicher Teil der europäischen Linken schon geraume Zeit, auf der allgemeinen Anti-EU-Welle zu reiten und hat den Nationalstaat für sich wiederentdeckt. Pablo Iglesias, der Kopf von Podemos, zum Beispiel, führt permanent das Wort «patria» im Munde. Hierzulande ist die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, prominenteste Vorkämpferin des Linksnationalismus. Wie die meisten Vertreter_innen dieser Richtung begründet auch sie ihre Affirmation des Nationalstaats mit der Verteidigung der Demokratie. «Demokratie lebt nur in Räumen, die für die Menschen überschaubar sind», war einem Vorabdruck aus ihrem neuen Buch «Reichtum ohne Gier» zu entnehmen; und diesen überschaubaren, heimelig imaginierten Raum sucht Wagenknecht in der Nation. «Nicht die Politik muss sich internationalisieren, sondern die wirtschaftlichen Strukturen müssen dezentralisiert und verkleinert werden». Der Kapitalismus ist über die nationalstaatliche Ordnung, die er einst selbst hervorgebracht hat, längst hinausgewachsen. Die Vorstellung, das System des kapitalistischen Reichtums liesse sich dadurch domestizieren, dass es in seine politischen Kinderschuhe gepresst wird, ist gleichermassen utopisch wie reaktionär. Wenn griechische oder spanische Linke den EU-Exodus und die Wiederherstellung der nationalen Souveränität propagieren, damit «das Volk» sein Schicksal in die eigene Hand bekommt, dann läuft ihr Befreiungskonzept auf einen Marsch in eine wasserlose Wüste hinaus. Es gibt tausend gute Gründe, die Diktatur einer ausser Rand und Band geratenen Ökonomie und eine EU-Politik, die im Dienst dieser Herrschaft steht, zu bekämpfen. Ein solcher Kampf lässt sich aber von vornherein nur im transnationalen Rahmen führen.
- Nach dem amerikanischen Grossindustriellen H. Ford: industriepolitische Konzeption der weitestgehenden Rationalisierung u. Standardisierung der Produktion