Vor 60 Jahren, in der Nacht zum 17. Jänner 1961, wurde Patrice Lumumba ermordet. Nur ein knappes Jahr zuvor war er – nach fast 80 Jahren brutaler Kolonialherrschaft – zum ersten Premierminister des Kongo gewählt worden. Bis heute gilt er als einer der wichtigsten Freiheitshelden der Dekolonisierungs-Ära der 1960er Jahre. Sein tragischer Tod markiert eine Zäsur in der jüngeren afrikanischen Geschichte. Zweiter Teil
Die letzten Monate
Nur wenige Tage nach den Unabhängigkeitsfeiern vom 30. Juni 1960 landen gegen den Widerstand der kongolesischen Regierung belgische Truppen im Kongo. Kongolesische Militärangehörige werden entwaffnet, Belgien unterstützt die Abspaltung des rohstoffreichen Landesteils Katanga. Lumumba versucht zu retten, was zu retten ist: Als er von der Abspaltung Katangas erfährt, fliegt er mit Präsident Kasavubu dorthin – doch der belgische Kommandant Weber, der später in die Ermordung Lumumbas involviert sein wird, erteilt ihnen keine Landeerlaubnis für den Flughafen der Provinzhauptstadt Elisabethville. Somit erreicht der Konflikt eine weitere Eskalationsstufe: Den höchsten Politikern des Landes wird durch einen Belgier der Zugang zur zweitgrössten Stadt ihres Landes verwehrt! Gleichzeitig entwickelt sich grosses Einvernehmen zwischen den katangesischen Führern, den belgischen Militärs und der Leitung der Union Minière, welche die mineralischen Rohstoffe der Region kontrolliert. Belgische und amerikanische Geheimdienste beginnen mit dem Armeechef und späteren Langzeitdiktator Mobutu zusammenzuarbeiten. Die Teile-Und-Herrsche-Strategie wirkt: Der Handlungsspielraum von Lumumba wird immer enger.
Am 12. Juli, einen Tag nach der Sezession Katangas, rufen Lumumba und Kasavubu die Vereinten Nationen um Hilfe an. UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, der wie Lumumba in der Kongo-Krise ums Leben kommen wird, beruft noch am selben Abend in New York eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats ein. Doch die verabschiedete Resolution ist zahnlos: Belgien wird nirgendwo im Text verurteilt, die Sezession Katangas mit keinem Wort erwähnt. So kommt es, dass Lumumba jenes Land um Unterstützung bittet, das im Sicherheitsrat der UNO das grösste Verständnis für sein Anliegen zeigt: die Sowjetunion. In der aufgeheizten Stimmung des Kalten Krieges schrillen bei den westlichen Geheimdiensten die Alarmglocken.
Nach einem Schlagabtausch mit Präsident Kasavubu wird Lumumba im September zu Hausarrest in Léopoldville verurteilt. UNO-Soldaten bewachen sein Anwesen, da zu diesem Zeitpunkt bereits sein Leben in Gefahr ist. Am 27. November, nach zweieinhalb Monaten Arrest, beschliesst Lumumba zu fliehen und heimlich Kinshasa zu verlassen, um zu seinem Verbündeten Antoine Gizenga im Norden des Landes zu stossen. Doch Armeechef Mobutu lässt ihn von Soldaten verfolgen und mit zwei seiner Mitstreiter verhaften. Er wird in eine Kaserne bei Thysville im Westen des Landes gebracht. Als er ankommt, ohne Brille und gefesselt, stopft ihm jemand ein zusammengeknülltes Stück Papier in den Mund: den Text seiner berühmten Rede. Lumumba wird auf Betreiben des belgischen Ministers d'Aspremont nach Katanga gebracht, mehrere Stunden verhört und gefoltert. Im Beisein von vier belgischen Polizisten, zwei Ministern Katangas und Moishe Tschombé, dem Präsidenten der abtrünnigen Provinz, werden Lumumba und seine Mitstreiter erschossen.
Um alle Spuren zu beseitigen, gräbt ein belgischer Polizeibeamter die Leiche n kurze Zeit später wieder aus, zerstückelt sie mit einer Säge und löst sie in Säure auf. Der kongolesische Autor Emmanuel Mbolela zu diesen Ereignissen: „Stellen Sie sich einmal vor, man hätte General de Gaulle auf Betreiben eines afrikanischen Landes auf diese Weise ermordet... Unvorstellbar! Stellen Sie sich vor, ein schwarzer Polizist würde sich in Fernsehinterviews damit brüsten, den leblosen Körper eines europäischen Staatsführers zerstückelt und in Säure aufgelöst zu haben – unvorstellbar...“ So unbeschreiblich diese Taten sind, so klar ist auch: Der Mord an Lumumba wurde nicht nur vom US-amerikanischen Präsidenten Eisenhower, vom CIA, von belgischen Militärs und Beratern bis hin zum belgischen König, gebilligt, gefördert und organisiert. Die Tat wurde auch von Belgiern mit durchgeführt.
Weltweite Proteste
Lumumbas Tod löst wütende Proteste rund um den Globus aus. In Belgien kommt es zu hunderten Festnahmen. In Belgrad, Warschau und Kairo werden die belgischen Botschaften gestürmt. Währenddessen gleitet der Kongo in einen brutalen Bürgerkrieg ab. Mobutu festigt mit der Hilfe von Belgien und den USA schrittweise seine Macht. Moishe Tschombé rekrutiert ab dem Jahr 1964 unverhohlen weisse Milizen. Diese streben von Südafrika und Rhodesien aus eine Ausweitung der Apartheid und der weissen Vorherrschaft an. Das wohl berüchtigtste Beispiel eines weissen rassistischen Söldners ist Siegfried Müller, ein ehemaliger Soldat der Wehrmacht, der im Kongo furchtbare Massaker begeht. In den DEFA-Filmen „Kommando 52“ und „Der lachende Mann“ aus den Jahren 1965 und 1966 werden Müllers Verbrechen kritisch portraitiert. Mit unvorstellbarer Brutalität bekämpfen die Söldner die Anhänger Lumumbas, die so genannten Mulelisten. Pierre Mulele, nach dem die Bewegung benannt ist, setzt entschlossen das Erbe von Lumumba fort, doch wenige Jahre später fällt er wie viele andere dem Terror Mobutus zum Opfer. Eine Zeit lang kämpft auch Ché Guevara an der Seite der Aufständischen. Im Jahr 1965 sichert sich Mobutu die alleinige Macht. Jeglicher Widerstand wird gebrochen.
Ein Aspekt, der oft vergessen wird, ist die Rolle der Frauen, die im antikolonialen Widerstand kämpften. Jamila Amadou, Vertreterin der Afro-Deutschen Community aus Frankfurt, sagt: „Häufig wird über Patrice Lumumba, Thomas Sankara und andere Ikonen gesprochen – Menschen, die sich nicht aussuchten, dass sie zu Märtyrern werden. Doch man darf nicht vergessen, dass diese politischen Anführer meist von weiten Netzwerken umgeben waren, die von genauso engagierten Menschen getragen wurden. Diese Graswurzelbewegungen wurden und werden häufig von Frauen organisiert und vorangetrieben. Frauen waren vielleicht nicht in gleichem Mass auf politischen Bühnen und an Mikrophonen präsent, aber sie spielten im Aufbau des Kampfes und im Alltag eine entscheidende Rolle. Ich finde es ungemein wichtig, dass im Jahr 2021 diese Arbeit endlich gewertschätzt, sichtbar und hörbar wird.“
Eine Frau, die für die Unabhängigkeit des Kongo sehr wohl auf zahlreichen Bühnen und vor Mikrophonen stand, war Andrée Blouin. Von westlichen Medien wurde sie häufig als die „Frau hinter Lumumba“ charakterisiert – eine Bezeichnung, die ihr nicht gerecht wird. Andrée Blouin betonte stets, dass Dekolonisierung eng mit der Freiheit und Unabhängigkeit von Frauen zusammenhängt. Nachdem sie nach der Ermordung von Lumumba zum Tode verurteilt worden war, floh sie nach Paris, wo sie im Jahr 1986 starb.
Das Erbe Lumumbas
Nicht selten wird die Politik Patrice Lumumbas als „naiv“ bezeichnet. Es sei unrealistisch und utopisch gewesen, die wirtschaftliche Unabhängigkeit durchsetzen zu wollen. Lumumba habe sich unbotmässig verhalten und US-Präsident Eisenhower vor den Kopf gestossen. Diese These vertritt auch David Van Reybrouck in seinem bahnbrechenden Buch „Kongo. Eine Geschichte“. Doch wie kann ein wacher Gerechtigkeitssinn als „utopisch“ bezeichnet werden? Ist es nicht die Aufgabe eines Premierministers, nach Massstäben von Demokratie und Gerechtigkeit zu handeln? Oft wird auch ins Feld geführt, Lumumba habe ein sowjetisches Wirtschaftsprogramm verfolgt. Das entspricht nicht den Tatsachen, wie auch der renommierte US-amerikanische Politikwissenschaftler Stephen Weissman festhielt – Lumumbas Wirtschaftsprogramm war nach heutigen Massstäben eher keynesianisch und sozialdemokratisch inspiriert. Und wenn schon: Keine ausländische Macht hatte nach der Unabhängigkeit das Recht, eigenmächtig militärisch einzugreifen. Lumumba wollte die Schlüsselindustrien verstaatlichen; doch war das nicht auch in vielen westeuropäischen Ländern gang und gäbe? Sein zentrales Anliegen war es, der unbegrenzten Ausbeutung der Ressourcen des Landes ein Ende zu setzen.
Der Tod Lumumbas wirkt bis heute in Form von neokolonialer Unterdrückung und Ausbeutung fort. Emmanuel Mbolela erklärt: „Damit Europa sich entwickeln kann, muss die Eigenständigkeit Afrikas gebrochen werden. Deshalb fliehen die Leute. Alle Reichtümer wurden ins Ausland geschafft – bis heute! Was zur Zeit von Leopold II die Baumwolle war, war zur Zeit des zweites Weltkriegs das Uran. Bis zum heutigen Tag werden Diamanten, Gold und Kupfer ausgebeutet – oft steuerfrei. Der Westen braucht das wertvolle Kobalt für die Herstellung von Elektroautos genauso wie das Coltan für Handys und Computer. Die Ausbeutung geht also weiter. Und dann wundert man sich, dass die Menschen ihre Länder verlassen? Wenn man die strukturellen Hintergründe für Flucht und Migration verstehen will, muss man zurückgehen in die Zeit von Lumumba.“
Lumumba lebt auch in Kunst und Literatur fort. Miriam Makebas Song „Lumumba“ wurde weltbekannt, der Komponist Paul Dessau schuf im Jahr 1963 das „Requiem für Lumumba“. William Kentridge hat ihn in einem eindrucksvollen Bilderzyklus ein Denkmal gesetzt. Raoul Peck und Cheick Oumar Sissoko haben ihn mit Filmen gewürdigt. Die deutsche Erstaufführung des Theaterstücks „Im Kongo“ von Aimé Césaire am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg am 24. Februar 1968 wurde Gegenstand lebhafter Debatten. Jean Paul Sartre sagte einst: „Seit Lumumba tot ist, hört er auf, eine Person zu sein. Er wird zu ganz Afrika.“
Black Lives Matter
Wird es Gerechtigkeit für Lumumba geben? Auf Betreiben seines ältesten Sohnes, François Lumumba, setzte das belgische Parlament 2001 eine Untersuchungskommission ein, die zu dem Schluss kam, dass selbst der damalige belgische König Baudouin von dem Mordkomplott wusste und es billigte. Die Kommission legte schliesslich fest, dass Belgien eine „moralische Verantwortung“ trägt. Doch aufgearbeitet sei der Fall damit noch lange nicht. Zwei der zwölf Personen, die den Mord durchgeführt haben, sind noch am Leben und müssten vor ein Gericht gestellt werden. Aktuell läuft eine Diskussion, ob ein Zahn, den der belgische Polizist Gerard Soete vom leblosen Körper Lumumbas entfernt und nach Belgien verschleppt hatte, an die Familie zurückgegeben werden soll. Juliana Lumumba, die Tochter von Patrice Lumumba und Journalistin, war zum Zeitpunkt der Ermordung ihres Vaters fünfeinhalb Jahre alt. Sie klagt an: „Wir, die Kinder von Lumumba, fordern die gerechte Rückgabe der Reliquien von Patrice Emery Lumumba in das Land seiner Vorfahren, damit wir als Kinder unseren Tribut der Trauer bezahlen können.“ Doch geschehen ist bisher nichts.
Im Juni vergangenen Jahres, zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit, wurden im Zuge der Black- Lives-Matter-Demonstrationen in Brüssel Statuen von König Leopold II beschädigt, Strassenschilder mit seinem Namen wurden übermalt. Vor der Brüsseler Kathedrale wurde ausserdem ein Denkmal für König Baudouin mit roter Farbe übergossen. Petitionen mit zehntausenden Unterschriften fordern, dass die Statuen König Leopolds weichen müssen. Die Vergangenheit reicht bis in die Gegenwart und greift nach der Zukunft. Denn an der Ausbeutung des Kongo hat sich kaum etwas geändert. Das Erbe Lumumbas lebt indes fort – und zwar bei weitem nicht nur in afrikanischen Debatten, sondern letztlich als globale, universalistische Gerechtigkeitsperspektive, die nichts an Aktualität eingebüsst hat.
Alexander Behr