KOMMENTAR: Sie gehen wenigstens bis zum Äußersten...»

22.04.2009, Veröffentlicht in Archipel 170

Wer sich mit den Praktiken des bewaffneten Kampfes befasst, kommt nicht um eine Auseinandersetzung mit der RAF herum. Allgemein auch «Baader-Meinhof Bande» genannt, wurde diese oft verkannt und mit mancherlei Klischees behaftet...

Dieser Text ist die Reaktion auf eine Publikation über die RAF von «Black-Star editions»1, in welcher der erste Teil einer Veröffentlichung von Steiner und Debray2 wieder aufgelegt wurde. Ein Aktivist der 1970er Jahre, der diese Broschüre in ihrer ursprünglichen Form gelesen hat, schickte den Herausgebern folgenden Text. Auch wenn wir nicht in allen Punkten mit den Ansichten des Autors einverstanden sind, drucken wir ihn dennoch ab, da er interessante Fragen über den bewaffneten Kampf aufwirft.

«Im Herbst 1977 habe ich kurze Zeit das Zeichen der Roten Armee Fraktion getragen.

Wer konnte bloß diesen kleinen Stern aus Bakelit, dekoriert mit Maschinengewehr und Initialen herstellen und verkaufen? Klar, es gab einen Anfang von Merchandising im Zusammenhang mit dieser Kultgruppe, ihre Sterne verkauften sich wie die Che-Poster zehn Jahre zuvor und schwarz-weiße «Palitücher» zehn Jahre danach. Man schmückte sich gerne mit Gewalt, wenn man ein Intellektueller mit zwei linken Händen war, vor allem aus dieser Babyboomgeneration, die weder die Zeiten der Resistance noch die des Algerienkrieges erlebt hatte. Eine Generation ohne Geschichte. Der Drang hin zum bewaffneten Kampf, vor allem bei zornigen jungen Männern (wobei es hier eine Tendenz zur Homogenisierung der Geschlechter gibt), ist Teil eines Übergangsritus, meist nur geträumt, doch manchmal auch umgesetzt. Das ist zum Beispiel das Thema von Sartres Stück «Die schmutzigen Hände». Diese rebellische Generation war fasziniert von der Minderheit, die zur Gewalt fähig war - Töten, Sterben und bis zum Äußersten gehen - und fühlte sich gleich-zeitig schuldig gegenüber ihr, weil sie, die Mehrheit, selbst nicht bereit war, so weit zu gehen. Über das mimetische, rivalisierende und dem Tod geweihte Wesen dieses «bis zum Äußersten gehen» hat man sich keine großen Gedanken gemacht; man ignorierte oder leugnete es. Töten und Sterben genügte, um Taten zu rechtfertigen und sie bis zum Unentschuldbaren zu entschuldigen.

Ewiger Ruhm auch für die Desperados in ihrem ungleichen Kampf gegen einen ganz und gar verabscheuenswürdigen Feind: Den amerikanischen Imperialismus, den deutschen Staat, die israelische Armee. Wir werden die Helden jetzt nicht an ihren kleinen Verfehlungen messen: Stalinismus, Autoritarismus, Nationalismus oder einfach niederschmetternde intellektuelle und gefühlsmässige Armut. «Sie zumindest gehen bis zum Äußersten». Am Ende der 1970er Jahre töteten die Guerilleros der Untergrundgruppen wie andere arbeiten gehen und lasen nebenbei nur noch Comic-Heftchen.

Sie lassen sich nicht unterkriegen Das Tragen dieses Sterns stand in diesem fernen und lang anhaltenden Herbst (dafür stehen Filme, Bücher und eben diese Broschüre) für einen Protest innerhalb der Linken, die sich damals in Auflösung befand. Es war eher eine Bestätigung dafür, dass sie sich nicht unterkriegen lassen, als eine Sympathiebekundung für die RAF. Je weniger wir sind, umso trotziger werden wir. Wir trotzen dem Zwang aufzugeben. Es ist dieser Überdruss bis hin zum Krankhaften und Selbstmörderischen, der Leute in die autonomen Gruppen und später in die Action Directe, aber auch in die Punkbewegung getrieben hat. Letztlich haben einige Jahre später die Heroindealer davon am meisten profitiert - mit den bekannten Konsequenzen.

Zwischen dem bewaffneten Kampf und der Anpassung an das System gab es einen weiten Raum, den die Land- und Stadtkommunen, die Bewegung der freien Radios oder die Anti-Atombewegung zu füllen versuchten. In Deutschland organisierte letztere Tausende von Aktivisten in Bürgerinitiativen. Ich habe sie ankommen sehen, ganze Busse voll, aus ganz Süddeutschland, im Morgengrauen auf dem Parkplatz des Frankfurter Stadions, am Tag vor der Demo gegen Kalkar3. Gruppenweise standen sie neben ihren Bussen, in ihren Schutzanzügen und Helmen, um den Wasserwerfern zu trotzen, das Logo ihrer jeweiligen Stadt auf die Brust geklebt. Die Kölner trugen den stilisierten Dom. Das war, entschuldigen Sie die Stereotype, fast etwas zu deutsch. Von Zeit zu Zeit hörte man den metallischen Klang einer Eisenstange, die auf Beton fiel. Diese Bürgerinitiativen waren da erfolgreich, wo die französischen Proteste gescheitert sind. Obwohl er gebaut wurde, ist der schnelle Brüter von Aachen, das Gegenstück zum «Superphenix», nie in Betrieb genommen worden, und das wiedervereinte Deutschland hat am 14. Juni 2000 den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen.4 Die Proteste in Deutschland waren in der Gesellschaft nicht so isoliert, nicht so hilflos, dass nur noch die Wahl blieb zwischen bewaffnetem Kampf und Kapitulation.

Ein Wettstreit In Italien und Deutschland lieferten sich die bewaffneten Untergrundgruppen mit viel Geballer einerseits einen Wettstreit untereinander und andererseits mit den offenen Protestbewegungen. Sie waren erpicht darauf, bei den Medien Aufmerksamkeit zu erregen, und es ging ihnen auch darum, neue Mitglieder zu gewinnen. Es gibt nichts Spektakuläreres als eine Untergrundgruppe, die viel Lärm macht. Mit den Festnahmen – voraussehbar, geplant, unvermeidbar - trotz aller Warnungen, kamen die Aufforderungen, oder gar Erpressungen um Unterstützung. Den intellektuell-militanten Kreisen in ihren warmen Stuben kam das gerade recht. Sie waren ja immer sehr darauf aus, den bewaffneten Aktivisten, die sie zum moralischen Über-Ich des außerparlamentarischen Feldes erhoben hatten, ihren Schneid und ihre Kühnheit zu beweisen. Das Hauptergebnis dieser Erpressung um Unterstützung war, dass die bewaffneten Gruppen eine Anzahl von Mitgliedern der Protestbewegungen um sich scharen konnten, die sie politisch, juristisch und materiell verteidigten. Dies erschien wie der eigentliche Zweck ihres Kampfes, wenn man von ihren endlosen antiimperialistischen und antikapitalistischen Tiraden absieht. Der Eklat, den sie in den Protestbewegungen verursachten, war wie ein Staatsstreich.

Das ist ein bekanntes Phänomen, auch an Tanzveranstaltungen und auf Pausenhöfen anzutreffen: Kurz vor seinem Tod begleitete ich meinen Vater, einen alten Boxer und Gauner in die Stadtquartiere von Paris, wo er seine Jugend verbracht hatte.

«Dein Vater, der hatte echt was drauf», vertraute mir ein alter Pétanque-Spieler an, «mit ihm ging’s immer hoch her».

«Aha, ihr seid zu Tanzveranstaltungen gegangen, um euch zu prügeln?»

«Nee ganz so war es nicht! ... Aber es gab immer so Leichtgewichte in unserer Gruppe, die mit den Starken Streit suchten. ...Und dann schrien sie um Hilfe!»

Es gibt immer wieder zänkische und schräge Individuen, die politische «Leichtgewichte» sind, die sich aber unbedingt interessant machen und ins Zentrum der Aufmerksamkeit drängen müssen. Sie fordern den Staat zu einer Auseinandersetzung heraus, die sie nicht aus eigenen Kräften führen können. Damit stellen sie ihre Freunde vor vollendete Tatsachen.

Politische Machtverwalter und bewaffnete Aktivisten hatten ein gemeinsames Interesse, nämlich den offenen Protest abzulehnen, herabzusetzen und zu verschleiern. Sie maßen sich aneinander, und jeder Einzelne wurde entweder in die Kategorie des «Alles» der Anpassung, d.h. Diplom, Karriere, Geld, Erfolg oder in die Kategorie des «Nichts» des bewaffneten Kampfes, d.h. Tote, Gefängnis, eingeteilt. Es ist beispielsweise bezeichnend, dass die altehrwürdigen Achtundsechziger der Zeitung Libération den Anti-Atom-Protest totschwiegen und mit der ganzen Herablassung derer behandelten, die schon alles erlebt haben, während ihre Titelseiten andauernd mit Sensationen über die bewaffneten Gruppen oder den Gangster Mesrine gefüllt waren.

Helden oder Märtyrer? Bewaffnete Aktivisten können Helden oder Märtyrer sein, und es besteht kein Zweifel, dass die Gefangenen der RAF, mit der großen Anzahl an Gefangenen, die in den 1970er Jahren in Stammheim einsaßen, das Heldentum bis zum Märtyrertum getrieben haben. Was sie nicht unbedingt sympathischer und ihr Vorgehen nicht sinnvoller macht. Das war ihnen aber nicht wichtig, denn sie genossen es auf narzistische Weise als verrückt zu gelten, unübertroffen in besagtem Wettstreit. Auf gewisse Weise wird die Politik zugunsten der Ästhetik verlassen: «live fast, die young, make a beautiful body».5 Das eignet sich gut für Artikel, Bilder, Filme und Romane. Aber die Konsequenzen dessen zu tragen, was als Happening inszeniert oder als persönlicher Trip gelebt wurde, kann dem Freundeskreis nicht als solidarische Daueraufgabe aufgebürdet werden. Dieser ist kein manipuliertes, gleichgeschaltetes Fußvolk, das ständig bereit ist, seine eigenen politischen Projekte zurückzustecken, um hier die Roadies zu stellen oder seinen verlorenen Kindern zu Hilfe zu eilen. Egotrips müssen auch selbst ausgebadet werden, das ist der Preis für den Ruhm. Dem Einzelnen ist es dann immer noch freigestellt, seinen Freunden oder Vorbildern im Unglück beizustehen.

Meine Freunde und ich haben beim Mord an Admiral Carrero Blanco durch die ETA applaudiert. Wir haben auch nie eine Träne über das Schicksal des ehemaligen SS-Mitgliedes Hans Martin Schleyer vergossen. Die unnötige und brutale Exekution von Aldo Moro hat uns angewidert. Was auch immer die Motive gewesen sein mögen bei den Morden an Georges Besse, dem ehemaligen Präsidenten und Gründer von Eurodif6 und Verwaltungsratsvorsitzenden Renaults oder an General Audran, der verschiedene Funktionen in der militärischen Rüstung innehatte, trafen die Attentate zum falschen Zeitpunkt zu unklare Personen, die zu wenig symbolische Bedeutung hatten. Das löste nur noch Sarkasmus aus. Ein bisschen wie kürzlich die Ermordung des Präfekten Erignac. Die Nachahmung war augenfällig, die Bekennertexte in einem marxistisch-leninistischen Jargon abgefasst, dass man denken konnte, sie seien das Produkt eines verrückt gewordenen Bürokraten.

«Action Directe» Der Vorteil von «Action Directe» (AD) war, wenn man das so sagen kann, dass sie so spät auftauchte, dass es nicht mehr viel zu verderben gab und auch keine Militanz mehr, an die man sich klammern konnte. Niemand nahm «das» mehr ernst, trotz des Blutes und der Toten. Es ist furchtbar, dass Menschen starben – die «Feinde» miteingeschlossen – , und das Szenerio für alle, außer für die Akteure, lediglich einem tragikomischen Groschenroman glich. Die Dilettanten der AD machten sich ihren Roman oder wie man heute sagen würde, «ihren Film», und die Zuschauer liessen von Zeit zu Zeit belustigte Kommentare verlauten. Erst durch die Gefängnisaufenthalte und die schlechte Behandlung verblasste mit den Jahren die Albernheit ihres Unterfangens. Nach und nach gewannen die Inhaftierten von AD durch ihre Würde, ihr Durchhaltevermögen und ihr Leiden das Mitleid, den Respekt und die Unterstützung selbst der kommunistischen Partei sowie der weiter links stehenden kommunistischen Liga und sind somit quasi in den Schoß der Familie zurückgekehrt. Und wofür all das? Am Ende des Kampfes steht der Beitrittsantrag zur neuen «Antikapitalistischen Partei», die gerade in Frankreich gegründet wurde. Und dies, wo doch seit dreißig Jahren die Kritik an der Industriegesellschaft und die grün-libertären oder öko-anarchistischen Analysen nie aufhörten, sich bewahrheitet und verbreitet haben. Dreißig Jahre bewaffneter Kampf, Gefängnis, politische und juristische Unterstützungsarbeit, um so wenig gelernt zu haben! Das Einzige, was einen davon abhalten kann, diese lange und verschachtelte Episode der Geschichte als verlorene Zeit zu empfinden, ist wohl die folgende Lehre, die wir daraus ziehen können: Der bewaffnete Kampf und die Guerilla-Phantasterei sind an sich kein Beweis für Radikalität. Alte Marxisten fassten dies in dem Satz zusammen: «Tout ce qui bouge, n’est pas rouge» - «Nicht alles was sich bewegt, ist rot».

Ich erinnere mich übrigens daran, wie wir gegen die Ausweisung aus Frankreich von Klaus Croissant, einen Anwalt der RAF, demonstrierten und gleich danach durch sein eigenes Geständnis erfahren haben, dass er ein Stasispitzel war. Auch die RAF profitierte von der Stasi, die letzten «Überlebenden» fanden in der DDR Zuflucht und wurden erst nach dem Fall der Berliner Mauer dort aufgestöbert.

Ein Bewusstsein der Revolte

An was möchte uns eure Broschüre erinnern? Dass man das Recht hat sich aufzulehnen. Dass man nicht unbedingt warten muss, bis man in der Mehrheit ist. Dass es manchmal nötig ist, sich gegen eine Mehrheit aufzulehnen.

Aber kein semantischer Taschenspielertrick kann eine Handvoll sozial Isolierter in Proletarier oder revolutionäre Subjekte verwandeln. Man gewinnt nicht, ohne zahlreich zu sein, und auch nicht, wenn man gegen viele ist. Das revoltierte Bewusstsein ist einsam, es ist nicht die RAF, die es verkörpert, sondern die «Weiße Rose», diese Gruppe von Studentinnen und Studenten, die 1943 wegen ihrer Anti-Nazi Propaganda an der Universität München verhaftet und hingerichtet worden sind.

  1. Auf
http://www.infokiosques.net
  1. «La Fraction Armée Rouge, Guérilla urbaine en Europe occidentale», erschienen 1987 bei Méridiens Klincksieck sicherlich das beste auf Französisch erschienene Werk – vergriffen und nicht zu finden. Es wurde 2006 wieder aufgelegt bei L’Echappée unter dem Titel «RAF, Guérilla urbaine en Europe occidentale» 2005 als Broschüre veröffentlicht durch «Black Star» (black-star(at)no-log.org) hier auch in digitalisierter Form zu finden mit einer aktualisierten Zeittafel ab dem Erscheinungsdatum der Wiederveröffentlichung, neuesten Informationen sowie dem vorliegenden Text.

  2. Der 24. September 1977 (Anm: BS editions)

  3. Die neunzehn gebauten AKWs sollten eigentlich bis zum Jahr 2020 stillgelegt werden. (Anm. BS editions)

  4. schnell leben, jung sterben, eine schöne Leiche abgeben

  5. Eurodif (European Gaseous Diffusion Uranium Enrichment Consortium) ist eine Urananreicherungsanlage, eingebettet in die Atomanlage Tricastin in Pierrelatte im Südosten Frankreichs. Sie wurde 1973 von Georges Besse gegründet, 1979 eingeweiht und von einer Filiale der Areva NC, Eurodif AG betrieben. (Anm. BS editions nach einem Artikel auf Wikipedia)