Als am 28. April 2021 der Nationalstreik wegen einer geplanten Steuerreform seinen Anfang nahm, dachte niemand, dass der Widerstand der kolumbianischen Bevölkerung so lange andauern würde. «Wir sind Zeug·inn·en eines tiefgreifenden Wandels» – stellt der Konfliktforscher Victor Barrera im Gespräch fest.
Es werden immer neue Gräueltaten von Polizei und ultrarechten Zivilist·inn·en bekannt. Letztere, die sogenannten «Gente de Bien» – die «guten Leute» oder «Leute aus gutem Haus» – formieren sich, um unter Polizeischutz Demonstrant·inn·en zu erschiessen oder verschwinden zu lassen. Auf Twitter reden Politiker·innen wie Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez und Mitglieder des «Centro Democrático» von «sozialer Säuberung» oder rufen zum Mord an der eigenen Bevölkerung auf. Augenzeug·inn·en berichten von Leichen, die in Flüssen auftauchen, nachdem sie mutmasslich zu Tode gefoltert wurden. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen zählten mindestens 327 Vermisste und 83 Ermordete in den ersten zwei Monaten des sozialen Aufstands. Sexuelle Übergriffe durch Polizisten und Angriffe auf Journalist·inn·en gehören zur Tagesordnung.
Der soziale Aufstand spaltet Kolumbien. Das politische Establishment, das auch die Medien kontrolliert, will seine Macht nicht verlieren. Währenddessen findet der Protest immer mehr Zustimmung in der Bevölkerung. Victor Barrera arbeitet als Politikwissenschaftler der Universität Javeriana in Bogota und koordiniert im «Centro de Investigación y Educación Popular» (CINEP) den Bereich Staat, Konflikt und Frieden. Seit Längerem erforscht er den sozialen Protest in Kolumbien und versucht, den Widerstand der kolumbianischen Bevölkerung einzuordnen.
Samina Stämpfli: Herr Barrera, es gibt einen Streikspruch in Kolumbien: «Die Regierung ist gefährlicher als das Coronavirus.» Kann man in Anbetracht des schlechten Krisenmanagements und der aktuellen Proteste sagen: Der Streikspruch trifft zu, das eigentliche Problem ist die Regierung? In Anbetracht dessen, wie die Regierung mit der Pandemie umgeht, die heute mit mehr als 600 Todesfällen pro Tag zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems und zur Verschlechterung der Lebensbedingungen von Millionen Kolumbianer·inne·n führt: Ja, die Regierung ist das Problem. Und anstatt Räume für Dialog und demokratische Verhandlungen zu schaffen, begegnet sie den Aufständen mit Gewalt.
Die Aufstände werden von der Regierung als «Terrorismus und Vandalismus» dargestellt. Durch diese Herangehensweise werden die Demonstrant·inn·en zum «inneren Feind» gemacht. Anstatt auf die legitimen Forderungen des Volkes einzugehen, ignoriert der rechte Präsident Iván Duque erneut die vom Verfassungsgericht gestützte Forderung, das Recht auf sozialen Protest in Kolumbien zu gewährleisten. Die Übergriffe und die Polizeigewalt, die weltweit kritisiert werden, sind aber nicht nur das Ergebnis einer unkontrolliert agierenden Strafverfolgungsbehörde. Sie sind das Ergebnis politischer Entscheidungen von Präsident Iván Duque und einigen Mitgliedern des «Centro Democrático», mit Blick auf die kommenden Präsidentschaftswahlen 2022.
Die Proteste zu unterdrücken gelingt der Regierung diesmal aber nicht: Gemäss Umfragen befürworten aktuell 75 Prozent der Bevölkerung den Protest. Wir sind Zeug·inn·en eines tiefgreifenden Wandels in der Art und Weise, wie die kolumbianische Gesellschaft den Protest als Grundrecht versteht und schätzt. Das zeigen diese Meinungsumfragen immer wieder. Obwohl Strassenblockaden und die Gewalt bei den Protesten oft auch missbilligt werden, besteht konstant eine hohe Unterstützung für den Protest. Die Bevölkerung kritisiert die Übergriffe und die unverhältnismässige Gewaltanwendung durch die nationale Polizei gegen die Demonstrant·inn·en. Dies ist ein wichtiger Punkt, der zeigt, dass die Kolumbianer·innen heute nicht mehr bereit sind, die bestehenden Missstände als eine Art «kleineres Übel» passiv hinzunehmen.
Die Zeit, als alles dem Ziel, die FARC zu besiegen, untergeordnet wurde, ist mit der Demobilisierung 2016 beendet worden. Heute sehen wir eine Gesellschaft, die nicht mehr empfänglich ist für die stigmatisierenden und kriminalisierenden Diskurse der Regierung, mit denen jahrelang die Verbrechen der Ordnungskräfte in Kolumbien gerechtfertigt wurden.
Woher diese Veränderung?
In Kolumbien haben immer mehr Bürger·innen und verschiedene Bevölkerungsgruppen wie zum Beispiel die Indigenen oder die Kleinbäuer·inne·n im sozialen Protest einen Mechanismus gefunden, ihre Forderungen auszudrücken und konkrete Antworten von der Regierung zu verlangen. Dies in Umständen, in denen die enge Wahldemokratie es nicht schafft, diese ganze soziale Unzufriedenheit zu kanalisieren oder zu verarbeiten. In diesem Sinne ist ein demokratischer Lernprozess in Gang gesetzt worden, in dem das Grundrecht auf Protest positiver bewertet wird.
Doch ein Grossteil der Medien reproduziert immer noch die Regierungsdiskurse und vermittelt so ein sehr verzerrtes Bild der Realität. Die Bürger·innen haben heute andere Informationsquellen als die traditionellen Medien, die in der Vergangenheit den offiziellen Diskurs über sozialen Protest beeinflusst haben. Der Zugang zu sozialen Netzwerken hat den Konsum von Informationen demokratisiert und neue Informationsquellen geschaffen. Die digitale Verbreitung ohne Kontrolle ermöglicht so andere Blickwinkel auf den sozialen Protest. Darüber hinaus werden durch diese Kommunikationskanäle normalen Bürger·inne·n Wege eröffnet, ihre eigene Motivation für den Protest zu finden und zu formulieren. Sie können in Echtzeit aufzeichnen, was während dieser Proteste passiert. Aber natürlich hat das auch eine negative Seite, weil so Fake News oder Informationen ohne Kontext verbreitet werden können.
Nach zwei Monaten des sozialen Aufstands scheint die Gewalt bei den Protesten auszuufern. Im Departement des Valle del Cauca werden unzählige Demonstrant·inn·en vermisst. Unbekannte Gruppierungen haben Gerüchten zufolge Folterhäuser eingerichtet, Ultrarechte schiessen auf offener Strasse auf Demonstrationen. Und das in dem Land mit der «ältesten Demokratie des Kontinents».
Dass die kolumbianische Zivilbevölkerung bewaffnet ist, gehört in Kolumbien zur Geschichte. Aber auch wenn diese Zivilist·inn·en oft in Begleitung der Polizei auf Demonstrant·inn·en schiessen und dem Paramilitarismus zugerechnet werden können, sollte man sie von den paramilitärischen Gruppen der späten 1990er-Jahre unterscheiden. Natürlich gibt es auch koordinierte Gruppen, doch aktuell handelt es sich eher um Zivilist·inn·en, die sich bewaffnen und mit verschiedenen Polizeieinheiten zusammenarbeiten, um Demonstrant·inn·en anzugreifen – so wie es in Cali und Pereira passiert ist. Sie behaupten, nur ihr Eigentum zu verteidigen, verfolgen aber tatsächlich das Ziel, den Protest einzudämmen. Damit senden sie eine sehr gefährliche Botschaft an die Öffentlichkeit. Was man bei diesen Zivilist·inn·en, die andere angreifen, aber auf jeden Fall gesehen hat, ist die Unfähigkeit des Staates, die Gesellschaft zu entwaffnen. Wenn man nicht sogar sagen muss: Der Staat befördert diese Art von Gewalt. Dazu kommt eine Desinformationskampagne der Regierung, in der behauptet wird, dass Demonstrant·inn·en verschiedene Einrichtungen übernehmen und Geschäfte plündern würden.
In den Diskursen zum Protest fallen zudem oft die Begriffe «Bürgerkrieg» oder «bewaffneter Konflikt». Mit Verallgemeinerungen muss vorsichtig umgegangen werden, besonders wenn über die Rolle der Gewalt im Aufstand gesprochen wird. Es lohnt sich, drei Faktoren zu unterscheiden: Die Radikalisierung von demonstrierenden Gruppen durch wahllose Angriffe der staatlichen Kräfte; die opportunistische Logik krimineller Gruppen und des organisierten Verbrechens, die sich die Unruhen zunutze machen und die gewaltsame Reaktion von Zivilist·inn·en, die behaupten, ihre Rechte zu verteidigen und den Vandalismus zu bekämpfen.
Trotzdem kann nicht von einem neuen bewaffneten Konflikt oder einem Krieg in den Städten gesprochen werden, weil es keine organisierten Gruppen sind, die hier den Staat angreifen, sondern eine grosse Vielfalt an Menschen mit verschiedenen Forderungen. Die Regierung benutzt das Narrativ des bewaffneten Konflikts aber, um die Übergriffe und die staatliche Gewalt auf der Strasse zu rechtfertigen. Sie ignoriert dabei absichtlich die vom Verteidigungsministerium veröffentlichten offiziellen Zahlen, die zeigen, dass die grosse Mehrheit der Demonstrationen, die seit Beginn des Aufstands stattgefunden haben, friedlich waren.
Ist diese Form von Widerstand der Bevölkerung in der jüngeren Geschichte Kolumbiens schon einmal aufgetreten?
Mit dem Streik von 2019 haben die Proteste zwar einen Präzedenzfall, aber in seinem Ausmass, seiner Vielfältigkeit, seiner Dauer und seiner geografischen Ausdehnung ist der jetzige Protest ein noch nie da gewesenes Ereignis. Aber: Nur weil der Protest beispiellos ist, dürfen wir nicht ignorieren, dass die Probleme, die er offenlegt, eben nicht neu sind: Die relative Schwäche der kolumbianischen Zivilgesellschaft, die es immer noch schwer hat, sich zu organisieren und die Zersplitterung des sozialen Feldes zu überwinden, die Enge unseres demokratischen Systems und das Erbe von mehr als 50 Jahren Konflikt, welches immer noch die Sichtweise von Polizei und anderen Institutionen auf soziale Proteste prägt – die Liste ist lang.
Am 20. Juli ist es erneut zu nationalen Protesten gekommen – wo führt dieser Aufstand hin?
Es ist schwierig, vorauszusehen, in welche Richtung sich das Land unter den derzeitigen Umständen entwickeln könnte. Ich würde gerne sagen, dass der Ausweg aus dieser Situation die Stärkung der Demokratie wäre, aber das scheint mir ein unwahrscheinliches Szenario, denn die Stimmung der aktuellen Regierung und das Programm der Regierungspartei weisen in die entgegengesetzte Richtung: die demokratischen Institutionen zu untergraben, um ihre Position für die Wahlen 2022 zu verbessern.
Die jüngsten Ankündigungen des Präsidenten über die Notwendigkeit eines Gesetzes zur Verschärfung der Strafen für Vandalismus-Akte sind nur der Anfang dessen, was folgen könnte. Es ist also sehr gut möglich, dass wir in einigen Monaten erneut eine soziale Explosion inmitten von hart umkämpften Wahlen erleben werden.
Samina Stämpfli*
- Dieses Interview machte Samina Stämpfli am 20.07.2021 für die Schweizer Internet-Zeitung das Lamm und stellte es dem Archipel zur Verfügung.