KIRGISTAN: Versuchsfeld der Globalisierung

von Jacques Berguerand, lebt in Longo maï, 16.09.2014, Veröffentlicht in Archipel 229

Boris Petric ist Anthropologe im Norbert-Elias-Zentrum in Marseille. Er beschäftigte sich mit Fragen der Ethnizität in Ex-Jugoslawien, wodurch sein Interesse für die postsozialistischen Länder angestachelt wurde. Petric analysierte die Wiederherstellung politischer Macht in Mittelasien, genauer in Kirgistan, wo er über einen Zeitraum von 10 Jahren eine Feldstudie durchführte. 1.Teil Kirgistan, eine ehemalige Sowjetrepublik, ist 1990 unabhängig geworden. Sein Territorium umfasst etwa ein Drittel der Größe Frankreichs, heute leben dort ungefähr 4 Millionen Einwoh-ner_innen. Der Weg hin zur Unabhängigkeit galt den Kirgisen nicht als Sieg über Russland. Unabhängigkeit wurde in den mittelasiatischen Republiken eher hingenommen als gewollt. Nach dem Vorbild der Kolchosen sollten in Kirgistan hauptsächlich Merinoschafe gehalten werden, um Wolle für die sowjetische Textilwirtschaft produzieren zu können. Diese in den Tälern gelegenen Schafzuchtkolchosen wurden aber geschlossen, was den Bankrott von Textilkombinaten im ganzen Land nach sich zog, ebenso wie das Verschwinden eines wirtschaftlichen Netzwerks rund um den Grundstoff Wolle und dessen Verarbeitung. Die Familie wurde wieder zum Mittelpunkt des Lebens. Die Herden wurden privatisiert und deutlich reduziert. Gab es 1980 noch 12 Millionen Schafe, waren es 2008 gerade noch 2 Millionen. Daneben bestanden eine ausgedehnte Baumwollproduktion, eine Industrie rund um das Gerben von Fellen – die die Umwelt stark verschmutzte, mehrere Waffenfabriken sowie zahlreiche Staudämme und Wasserkraftwerke.
Schafzucht wird heutzutage wieder in der Familie betrieben, neben der Pferdezucht, die schon immer an Familienstrukturen geknüpft und für diese von Bedeutung war. Die Frauen melken die Stuten, produzieren Sauerrahm, Butter und «Kumys» (vergorene Stutenmilch) die in der Hauptstadt von einem Privatunternehmen vermarktet wird. Im Sommer werden auf den Hochebenen noch Herden auf die Alm getrieben. In einer mehr und mehr auf die Stadt orientierten Gesellschaft ist Weidewirtschaft jedoch kein Haupterwerbszeig mehr. Weiden und Almen werden jetzt zunehmend von Stadtbewohner_innen für Festlichkeiten und zur Entspannung genutzt. Die Jurte, die häufig noch als Symbol der Fortdauer traditionellen Lebens gilt, ist in Wirklichkeit erst vor kurzem wieder in Mode gekommen. Die auf dem Land verbliebenen Menschen sind auf ihren kleinen Äckern mit Selbstversorgung beschäftigt. Viele andere sind Arbeitslosigkeit und Armut ausgesetzt, gehen in die Hauptstadt Bischkek im Norden oder wandern nach Russland aus.
Mit der Unabhängigkeit verlor Kirgistan ein Viertel seiner Bevölkerung, etwa eine Million russisch sprechender, hauptsächlich aus den Städten kommenden Menschen, die wegen nationalistisch-kirgisischer Auswüchse beunruhigt waren. Dies brachte das sozial-ethnische Gleichgewicht des Landes ins Wanken, die Kirgisen sahen sich nunmehr gegenüber einer im dichter besiedelten Süden lebenden usbekischen Minderheit in einer Vormachtrolle. Nach der Jahrtausendwende gab es eine verstärkte Auswanderung aus wirtschaftlichen Gründen nach Russland und Kasachstan. Diese massenhafte Arbeitsmigration ließ in Russland und vor allem in Moskau ein usbekisch-tadshikisch-kasachisches Proletariat entstehen. Dessen Angehörige sahen sich mit einem in der russischen Bevölkerung aufflammenden anti-asiatischen Rassismus konfrontiert. Aber diese Art Mobilität ist als soziale Strategie zu verstehen, eine Reaktion auf den Zusammenbruch der Wirtschaft. In Europa oder in Amerika ist die Situation nicht anders: Dieses soziale Phänomen ist eine der Konsequenzen der Globalisierung des Handels und einer verschärften Ausbeutung jeglicher Art von Ressourcen im globalen Maßstab. Zu Sowjetzeiten war die individuelle Reisefreiheit eingeschränkt: Damals hatte jeder eine Aufenthaltserlaubnis und einen Inlandspass, nur eine Elite erfreute sich einer gewissen Bewegungsfreiheit. Heute erlaubt eine zweifelhafte Passvergabe-Praxis an die ganze Bevölkerung eine grössere Mobilität.
Vom Hirten zum Businessman «Business heißt, dass ich Geschäfte mache, dass ich kaufe und verkaufe, egal was», sagt ein kirgisischer Businessman. Bodenschätze, Weideflächen und andere Ressourcen wurden durch Raub angeeignet, noch bevor diese «ordnungsgemäß» privatisiert wurden. In dieser Phase des Übergangs gab es Personen innerhalb des Staats- und Parteiapparates, die schnell zu Reichtum gelangten um im entscheidenden Moment, also im Zuge der Privatisierung, Unternehmen aufzukaufen oder aus Abbau- bzw. Nutzungslizenzen Profit zu schlagen. Diese schon zu Sowjetzeiten sich ausbreitende Logik von Raub und Aneignung wurde maßgebend für die Vorbereitungsphase von Privatisierung und Besitzvergabe. Sie dauert in den Institutionen des postsowjetischen Kirgistan bis heute an. Eine solche in der Wirtschaft gängige Praxis der Privatisierung hat auf lokaler Ebene eine Vervielfältigung der Machtstrukturen hervorgebracht. Ehemalige Kolchosedirektor_innen konnten sich den Zugriff auf lokale Ressourcen, wie z.B. den Wald, sichern. Repräsentanten zentraler Machtorgane sind zu Chefs örtlicher Behörden geworden und verfügen so über ein beträchtliches Kapital «administrativer Ressourcen», Erbschaft der ehemaligen Sowjetbürokratie. Beide verkörpern in gewisser Weise eine Kontinuität von Macht. Das Auftauchen dieser neuen Figuren in den Zirkeln der Macht - Businessmen, ehemalige, aufs Land zurückgekehrte Funktionäre - stützt sich auf ein Wiedererstarken familiärer Strukturen. Akajev und Bakijev, die beiden aufeinander folgenden Präsidenten des unabhängigen Kirgistan, haben ihre Macht auf die Einbeziehung ihrer Familienclans gestützt. Business ist zum wirtschaftlichen Betätigungsfeld von Gruppen geworden, die durch Systeme persönlicher Abhängigkeit charakterisiert sind, in denen sich familiäre, freundschaftliche, ökonomische und politische Bindungen vermengen. Dies veranschaulicht die Zersplitterung der Macht und lässt die neuen politischen Verhältnisse ahnen.
Der «Dordoi-Basar» Innerhalb weniger Jahre ist in Kirgistan eine vom Handel geprägte Gesellschaft entstanden, in der eine Unzahl von Produkten gehandelt werden, die hauptsächlich aus China, aber auch aus Russland kommen.
Unzählige Straßenhändler_in-nen und Kleinstgeschäftsleute haben sich an das Verschwinden der alten ökonomischen Strukturen und die neuen Gegebenheiten angepasst. Auf der Basis seiner lang gezogenen Grenze zu China stellt Kirgistan heute seine alten Handelsbeziehungen wieder her, die zu Sowjetzeiten unterbrochen waren. Die regionale Bedeutung des Dordoi-Bazars hat zugenommen, seit in der usbekischen Hauptstadt Taschkent der riesige Bazar geschlossen wurde. In Usbekistan übt der Staat weiterhin starken Einfluss auf Gesellschaft und Wirtschaft aus über die Ressourcen Erdgas, Gold und Baumwolle. In Kirgistan hat der Weggang der russisch sprechenden Bevölkerung aus der Hauptstadt Bischkek den massenhaften Zuzug von kirgisischer Landbevölkerung aus den nun geschlossenen Kolchosen bewirkt, sowie die Ansiedlung Neureicher mit ihren deutschen oder typisch «europäischen» Luxuskarossen.
Im Stadtzentrum hat sich die Amerikanische Universität (AUCA) in den Räumen des Obersten Sowjets der ehemaligen Kirgisischen Sowjetrepublik breit gemacht, in der jetzt die künftige Elite des Landes ausgebildet wird. In den zu Elendsvierteln werdenden Vororten symbolisiert der Dordoi-Basar, Konsumtempel und Paradies des privaten Handels, die Veränderung eines Landes, in dem die Wirtschaft nicht mehr vom Staat gelenkt wird, sondern die Marktwirtschaft bestimmend ist. Als Herz der kirgisischen Wirtschaft symbolisiert er den Niedergang einer auf Produktion ihres Reichtums gegründeten Gesellschaft und deren Wandlung hin zu einer, die auf massenhaften Import von Gütern angewiesenen ist.
Dieser Basar muss gesehen werden als ein bedeutendes Terrain der Politik, seine Bedeutung liegt weniger im Handel als in der Kontrolle über das Terrain, auf das sich die Waren ergießen und dem Entstehen von politischer Patronage. Askar Selimbekow, der Besitzer des Marktes, gehörte zum Kader der ehemaligen kommunistischen Partei Kirgisiens, war Gouverneur der Region und ist heute Abgeordneter. Sein Bündnis mit alten Parteikadern, Ministern oder Abgeordneten garantiert ihm einen gewissen politischen Flankenschutz. Als wahrhaftes Handels- und Wirtschaftsimperium wird der Basar zum Ausgangspunkt politischer Karrieren. Kapital in ökonomischem Sinne und im Besitz des Familienunternehmens, zu dem Söhne, Neffen und Brüder gehören, erlangt er Gewicht als gesellschaftliches Vermögen.
Kirgistan ist heute eine Transitgesellschaft am Rande Europas geworden. Das Land nutzt seine Lage am Kreuzungspunkt von Handelswegen, um sich in einem globalen Zusammenhang neu zu positionieren. Auf seinem Territorium werden Waren aus dem benachbarten China gehandelt, die von dort in den gesamten post-sowjetischen Raum gelangen. Jedoch an Ort und Stelle hat, außer Neureichen und Vertretern der Elite, kaum jemand etwas von diesen bis dato unbekannten Produkten.

Literatur:
Boris Petric, On a mangé nos moutons, Verlag: Editions Belin, collection Anthropoli.s.
Im kommenden Archipel werden wir den 2.Teil dieses Artikels, in dem es um die politische und wirtschaftliche Entwicklung Kirgistans von 1993 bis heute geht, publizieren.