KIRGISTAN: Versuchsfeld der Globalisierung

von Jacques Berguerand, 13.10.2014, Veröffentlicht in Archipel 230

Im 1.Teil dieses Artikels (Arch. Nr. 229) ging es um die politische und wirtschaftliche Entwicklung Kirgistans von 1990 bis1993. 2.Teil.1993 sollte Kirgistan zum Musterland für internationale Hilfe und Versuchsfeld für eine «gelungene Neuordnung» der Gesellschaft werden.

Gesellschaftliche
Neuordnung und Demokratie $Anglizismen zu gehäufter Anwendung gelangten, um die Ankunft in einer neuen Realität zu demonstrieren. Aber diese neue Wirklichkeit wird vor allem getragen vom Agieren lokaler Eliten und deren Kollaborateure. Alle diese Akteure bringen gemeinsam eine neue Realität hervor und erwecken eine neue politische Logik zum Leben.
Ein Gesetz von 1995 sieht mit der Einrichtung von 487 lokalen Verwaltungseinheiten die Aufteilung des Landes in Kleinstterritorien vor und folgt also einer Strategie der Dezentralisierung und der Ablösung des sowjetischen Modells zentraler Machtausübung. Es folgt der ultra-liberalen Ideologie von «immer weniger Staat». Diese Strategie fördert das Aufblühen lokaler, auf Cliquenwirtschaft gegründeter Machtstrukturen. Diese Dezentralisierung ist Teil eines Prozesses, der durch den Rückzug und Abbau des Staates gekennzeichnet ist. In mehreren reichen Ländern Westeuropas geschieht dies auch infolge einer strengen Austeritätspolitik.
Erstaunlich schnell ging die «NGOisierung» der Gesellschaft vonstatten und ein neuer Typus trat in den Zirkeln der Macht auf: der NGO-Präsident. Ende der 90er Jahre gab es schon 10.000 lokale, vom Staat unabhängige NGOs, die jedoch von internationalen NGOs abhängig waren. Es entstand eine nicht zu übersehende Industrie der internationalen Hilfe. Die NGO ist nicht als Organisation konzipiert, die gesellschaftliche Kräfte repräsentieren soll, sondern als ein Mittel, mit dem internationalen Finanzsystem verbunden zu sein. Auf Betreiben der Weltbank und als Bedingung für deren Vergabe von Krediten soll die Wasserwirtschaft privatisiert werden. An die Stelle von Staatseinrichtungen sollen dann in jedem Dorf Wasserverbände treten, die mit finanzieller Unterstützung der amerikanischen Hilfsorganisation USAid und einer NGO Schluss machen mit kostenfreiem Zugang zu Wasser.
Auf einem anderen Gebiet, wie dem Tourismus z.B., hilft die Schweizer NGO Helvétas einer lokalen Nichtregierungsorganisation mit Namen Shepherd’s Life (Hirtenleben), Trekking für reiche Europäer_innen zu entwickeln. Aber schnell genug haben Familienunternehmen sich dieses Aktivitätsfelds bemächtigt. Was die Religion betrifft, so hat die Nähe zu Afghanistan ein Wiederaufkommen des Islams begünstigt. Dabei spielt Geld eine sehr widersprüchliche Rolle: Einerseits werden Programme zur Terrorismusbekämpfung aus internationalen Töpfen finanziert, andererseits sprudeln Quellen internationaler islamischer Organisationen. Zahlreiche Moscheen werden mit Geld aus Saudiarabien und den Emiraten gebaut.
Wahlen unter Beobachtung Seit 1999 schalten NGOs sich immer direkter in politische Belange ein. Um die Akzeptanz einer auf Wahlen basierenden Demokratie zu fördern, stützen sie sich auf eine US-amerikanische Stiftung, die NED (National Endowment for Democracy). Die NGO Koalitsiya, eine Koalition von rund hundert kirgisischen NGOs, setzte sich zum Ziel, bei dem Referendum zur Verfassungsänderung, die Präsident Akajev eine zusätzliche Amtszeit sichern sollte, die Wahlbeobachtung zu übernehmen. 1500 kirgisische Beobachter_innen wurden aufgeboten. Diese hatten die Unterstützung vom NDI (National Democratic Institute), einer Stiftung der US-amerikanischen Demokratischen Partei. Die United Nations Development Programs (UNDP) haben sich ihrerseits die Reform der Wahlkommission zur Aufgabe gemacht mit der Einführung eines zentralen computergestützten Systems zur Wählererfassung und zur Stimmenauszählung, was «transparente und gerechte» Wahlen garantieren soll. Dafür leistet auch die IFES (International Foundation for Electronical Systems) Unterstützung. Seit 1994 ist diese Stiftung in Kirgistan präsent, organisiert dort die Schulungen für Wahlbeobachtung und eine einflussreiche Lobby für die flächendeckende Installation elektronischer Wahlmaschinen. Sie hat die Wahlen im Irak, in Afghanistan und in Georgien im Auftrage der UNO begleitet und arbeitet in Serbien an einem Projekt zur Konfliktlösung – im Auftrag der NATO. Diese Art internationaler Kooperation stützt sich auf die Mitarbeit lokaler Eliten. Aber geht es hier wirklich um eine allgemeine Verbreitung von Demokratie oder eher um die Verbreitung international gebräuchlicher Apparaturen?
Mit Hilfe derselben wurden 2001 die Wahlen der Chefs neu aufgebauter lokaler Machtorgane durchgeführt und alle von der Exekutive vorher benannten Kandidaten wurden wieder gewählt. Die für 2004 anberaumte Wahl der Gemeindevertretungen hat die Fortdauer des politischen Systems, eines gewisses Misstrauens der Kirgis_innen und einer geringen Neigung zu Veränderungen bestätigt. Die lokale Cliquenwirtschaft besteht weiter und viele meinen, dass ein Kandidat Zugriff auf materielle Ressourcen haben müsse und unter allen Umständen verpflichtet sei, diese im Volk zu verteilen. Ein Kandidat solle, so der allgemeine Konsens, es sich schuldig sein, seine Generosität zu zeigen. «Er müsste schon reich sein, aber sein Vermögen darf er nicht für sich behalten. Wie könnte er uns sonst helfen? Er muss geben, um das Vertrauen der Leute zu gewinnen.»
Die Parlamentswahlen von 2005 sollten zum großen Test werden – das Fortbestehen des von Akajew errichteten politischen Systems stand auf dem Spiel.
Die Tulpenrevolution Die Zerschlagung der Kolchosen und Sowchosen, der Unternehmen und des sozialen Netzes sowie die Demontage der Industrieanlagen erzeugte eine starke Abneigung gegen den Präsidenten Akajew. 2005 war er 15 Jahre im Amt und seine Partei nahm sich bei jeder Wahl das Vorschlagsrecht von Kandidaten heraus. Der aus dem Süden des Landes kommende ehemalige Premierminister Bakijew gründete eine Partei, deren Programm lediglich darin bestand, den korrumpierten Akajew auszutauschen. Dabei präsentierte er sich als neuer Vorreiter der Demokratie. Andere Präsidentschaftskandidaten stellten sich als unabhängig vor, tatsächlich waren es jedoch Vertreter der politischen Elite, die Ämter im Staat bekleideten oder bekleiden oder frischgebackene Businessmen. Gemeinsam war ihnen ihre Verankerung in lokalen Strukturen und ihr Reichtum: Sie waren aus der Region, in der sie sich präsentierten und warfen ihr politisches und wirtschaftliches Privatkapital in die Waagschale, wobei sie vorgaben, damit der lokalen Bevölkerung zu helfen. Diese Wahlen waren vor allem Ausdruck der Herausbildung einer politischen Gemengelage, in der eine Logik des Zugriffs auf Ressourcen die entscheidende Rolle in der politischen Auseinandersetzung spielte. Sie wurden in Anwesenheit von Beobachter_innen der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und der kirgisischen NGO Koalitsia vollzogen, die politisch und finanziell vom NDI abhängig ist. Gleich-falls präsent war das ENEMO (European Network of Election Monitoring Organizations), 2001 in Kroatien gegründet und unterstützt von großen Stiftungen und NGOs US-amerikanischer Provenienz. Russland war nicht in diesen Wahlbeobachterteams, sondern mit einer parallelen Mission vertreten. Unter all diesen Beobach-ter_innen waren amerikanische und angelsächsische omnipräsent. Einige konnten nur mit Mühe ihre Zusammenarbeit mit amerikanischen Geheimdiensten verbergen. Das offiziell kundgetane Ziel all dieser «transnationalen Institutionen» war das Verschwinden autoritärer Regimes auf der ganzen Welt und der Sturz Akajews. Sie waren aktiv sowohl 2004 in der Ukraine während der «orangenen Revolution» (und 2013/14 rund um den «Euromaidan») als auch in Georgien, Serbien, ebenso wie in der Elfenbeinküste und im Senegal. Eine umfassende Kampagne zur Untergrabung der Glaubwürdigkeit von Akajew wurde ins Werk gesetzt. Korruption, Nähe zu Russland und Häufung von Macht waren die Themen. Verschiedenartigste Demonstrationen wurden lanciert und flankierend begleitet, um den Eindruck der Existenz eines starken Volkswillens entstehen zu lassen. Die sogenannte «Tulpenrevolution» war in Gang gekommen.
Die nach der zweiten Runde der Parlamentswahlen vom März 2005 abgegebenen Schlusserklärungen der internationalen Beobachtermission waren unerbittlich: Zahlreiche Unregelmäßigkeiten wurden festgestellt, internationale Kriterien seien nicht berücksichtigt worden, und das neue Parlament sei weitgehend illegitim. Auf Demonstrationen wurde der Rücktritt von Akajew gefordert. Parlament und Präsidialverwaltung wurden gestürmt, und Akajew floh nach Russland. Bakijew berief das alte, neue Parlament ein, das ihn dann als Übergangspräsidenten einsetzte. Er entschied jedoch, das Parlament nicht aufzulösen, denn er ging davon aus, dass er unmittelbar keinerlei Chancen hätte, Wahlen zu gewinnen. Vorgezogene Präsidentschaftswahlen wurden dann auf Juli 2005 angesetzt. Ende des ersten Aktes.
Ausländische Einflussnahme Eine noch spürbare, die frühere Sowjetepoche verklärende Nostal-gie ließ Bakajew, als ehemaligen Direktor einer Kolchose, dennoch als favorisiert erscheinen. Auch wechselten viele Abgeordnete, einem politischen Herdentrieb folgend, die Seite. Eine Form von Vasallentreue gegenüber der neuen Macht breitete sich aus. Angesichts einer äußerst schwachen Wahlbeteiligung trat der Vorsitzende der Wahlkommission zurück, und auch die Beobach-ter_innen von Koalitsia verließen die Kommission. Bakijews Leute füllten die Wahlurnen auf. Die Wahlbeteiligung wurde landesweit mit 75% angegeben, und es wurde öffentlich verbreitet, dass Bakijew mit 90% der abgegebenen Stimmen gewählt worden sei. In den Berichten der Wahlkommission, von ENEMO und von Koalitsia fand sich jedoch kein Wort über größere Unregelmässigkeiten. Dank ihrer statistischen Kontrollmöglichkeiten wussten alle Organisationen, die mit der Wahlbeobachtung befasst waren, von den betrügerisch aufgefüllten Wahlurnen. Doch sie schwiegen.
Epilog
Bakijew blieb, als Angehöriger des Putin-Clans, von 2005 bis 2010 Präsident. Sein eigenes Clansystem stützte sich zum Teil auf seine fünf Brüder. Es konnte eine radikale Verlagerung der Macht vom Apparat des Präsidenten hin zum Parlament festgestellt werden. Bei den Businessmen fand ein wahres Wettrennen für Parlamentssitze statt. Es ging ihnen dabei vordringlich um den Schutz ihres zusammengeklaubten Vermögens und darum, aus ihrem wirtschaftlichen Aufstieg auch politisches Kapital zu schlagen. Denn Abgeordneter zu werden, sichert Immunität auch in Zeiten politischer Unwägbarkeiten. Ein weiterer Vorteil: Störende Konkurrenten im Geschäft können demontiert werden, wenn man sie öffentlich als unbotmäßige Abgeordnete abstempeln kann. 2010 geriet ein Sohn Bakijews in den Strudel eines politischen Finanzskandals. Selbiger wurde beschuldigt, Gelder aus russischen Hilfsfonds unterschlagen zu haben, um sie an eine Firma weiterzuleiten, die mit Geldwäsche, vermutlich aus dem Drogenhandel, zu tun hatte. Die aus dem benachbarten Afghanistan stammenden Drogen waren (und sind) für Europa bestimmt. Später wurde die Tulpenrevolution von den Kirgis_innen als Staatsstreich oder Putsch gesehen. 2010 führte ein neuer Volksaufstand zur gewaltsamen Einnahme des Präsidialamtes. Bakijew floh nach Weissrussland. Die von Akajew eingesetzte Außenministerin, die auch nach 2005 unter Bakijew im Amt blieb, wurde Übergangspräsidentin (bis 2012) und ernannte den Chef der kirgisischen NGO Koalitsia zum Sekretär des Präsidenten. Diesmal lösten im Süden des Landes beheimatete Oligarchen die Rebellion aus. Sie waren Bakijew verbunden, der selbst aus dem Süden stammt. Begleitet waren die Aufstände auch von Pogromen gegen die usbekische Minderheit im Süden; im Juni 2010 verursachten diese 500 Todesopfer. Wieder fanden Parlamentswahlen statt, dieses Mal im Oktober 2010, und wiederum strömten die Abgeordneten ins neue Lager der Macht. Die erneute Präsidentenwahl im Oktober 2011 war nur ein Austausch von Personen. Das politische System blieb so wie es war, obwohl die zwei ersten Präsidenten ins Exil gegangen waren.
Kirgistan – keine Einzelerscheinung Abgesehen von allen Besonderheiten symbolisiert das Versuchsfeld Kirgistan das Auftauchen eines neuen politischen Kontextes im globalen Zusammenhang. Dabei sind Staaten wie Montenegro und Bosnien in Europa, andere in Lateinamerika, Afrika und Asien von einer «globalen Politik» betroffen, die in ihren Landesgrenzen praktiziert wird. Alle diese Staaten haben gemeinsam, dass sie mit neuen Formen von Abhängigkeit im Rahmen dieser globalen Politik konfrontiert sind.
Die besondere politische Situation von Kirgistan ist also keine Einzelerscheinung. Kirgistan wurde zum Versuchsfeld dieser Politik und gleichzeitig zum warnenden Beispiel einer Form von Politik, die weltweite Praxis werden soll. Trotz der immer größer werdenden Komplexität des Weltgeschehens wächst die Erkenntnis, dass politische Einflussnahme eine zunehmende Rolle in der heutigen Globalisierung spielt. Dieses Phänomen beschränkt sich nicht auf neue Formen von Dominanz entwickelter Länder über die unterentwickelten Länder. Es zeigt vielmehr, dass ein erneutes Nachdenken über die vielfältigen Formen von heutiger Politik erforderlich ist. Bestimmte Geographen betonen eine geographische Insellage, um die geringe Bedeutung dieser Länder im weltweiten Zusammenhang zu unterstreichen. Das Versuchsfeld Kirgistan zeigt das Gegenteil: Scheinbar isolierte politische Kontexte sind fest eingebunden in die vielgestaltige Logik von Globalisierung. Wir sind weit entfernt von einer exotischen Welt des Stammeslebens, wo regionale Gruppierungen in Stellung gehen, um in abgelegenen, vom Rest der Gesellschaft isolierten Bergwelten die Macht zu erstreiten. Diese an der Peripherie der Globalisierung gelegenen Gebiete entwickeln sich hin zum Liberalismus und erfüllen insofern eine präzise Funktion in den vielfältigen Formen des weltweiten Austauschs. Die Beschreibung der Situation in Kirgistan legt nahe, unser klassisches Verständnis vom Staat zu überdenken.

Literatur: On a mangé nos moutons, von Boris Petric, Verlag: Editions Belin - collection Anthropolis. Boris Petric ist Anthropologe,er beschäftigte sich mit Fragen der Ethnizität in Ex-Jugoslawien, wodurch sein Interesse für die postsozialistischen Länder geweckt wurde. Petric analysierte die Wiederherstellung politischer Macht in Mittelasien, genauer in Kirgistan, wo er über einen Zeitraum von 10 Jahren eine Feldstudie durchführte.