Im Oktober 2008 tritt Island, ein Land mit 310.000 Einwohnern, auf die internationale Bildfläche: Es ist plötzlich bankrott. Man erfährt, dass es sich um das «El Dorado der Arktis» handelt, um ein Land, das bis dahin eines der reichsten auf dem Planeten war und in der Liste des «menschlichen Entwicklungsstandes», dem Human Development Index (HDI), den Spitzenrang einnahm.
Das durchschnittliche Jahreseinkommen beläuft sich auf 40.000 Euro, und die Lebenserwartung liegt bei 80 Jahren für beide Geschlechter. Der Schulbesuch für Jungen dauert durchschnittlich 17 Jahre, für Mädchen 19 Jahre. In der Bevölkerung – Babys und Alte eingeschlossen - besitzt jede Person mehr als ein Handy. Die Urbanisierungsquote, wichtiger Indikator des HDI, beträgt 93 Prozent, von denen zwei Drittel auf die Hauptstadt Reykjavik und ihre Umgebung fallen. (Der Name Reykjavik heißt übersetzt «Rauchbucht» wegen der unzähligen heißen Quellen unterschiedlicher Größe und Temperatur, in denen man unter freiem Himmel baden und das ganze Jahr hindurch seine Kartoffeln kochen kann). In Reykjaviks Straßen fahren die neuesten Automodelle mit Vierradantrieb, und Luxusvillen – bereits fertig gestellt oder noch in Bau – prägen mehr und mehr das Stadtbild.
Diese Entwicklung vollzog sich innerhalb von nur 20 Jahren. Im Jahr 1991 wurde der ultra-liberale David Oddsson zum Ministerpräsidenten gewählt. Als Anhänger Milton Friedmanns ließ er sich von der Politik Margaret Thatchers und Ronald Reagans inspirieren. Oddssons Programm lautete: Schluss mit der «sozialen Marktwirtschaft» à la Skandinavien und einer wirtschaftlichen Souveränität, die auf dem Fischexport beruht. Island muss jetzt ins Zeitalter der Moderne eintreten.
Jeder kann gewinnen Sein Rezept ist einfach. In einer Welt, die sich immer mehr mit der Energieproblematik auseinandersetzen muss, besitzt Island sehr attraktive Ressourcen: hydroelektrische, geothermische und thermale Vorräte ungeahnten Ausmaßes, die jedoch noch sehr wenig genutzt sind. Seit 1969 produziert hier die Tochtergesellschaft von Rio Tinto Alcan, bereits Aluminium, obwohl alle Rohstoffe aus weit entfernten Ländern eingeführt werden müssen. Die neue Politik niedriger Steuern, Liberalisierung und die Privatisierung von Staatsbetrieben ziehen ausländisches Kapital an. Gigantische Projekte von Staudämmen und Wasserkraftwerken ermöglichen der Rio Tinto Alcan Gesellschaft, sich zu vergrößern sowie den Aluminiumriesen Century Aluminium Company und Alcoa 1998 und 2008 hier neue Fabriken zu eröffnen. Heute werden vor Ort fast 800.000 Tonnen Aluminium pro Jahr hergestellt, was 4 Prozent der Weltproduktion entspricht. Weitere Projekte sind in Planung. Sämtliche Infrastrukturen werden von Island gestellt; die multinationalen Konzerne zahlen keinen Cent für das Land, das sie besetzen. Ganz zu schweigen von dem enormen Schadstoffausstoß, den sie verursachen. Der Strompreis ist derartig gering, dass die Regierung lieber Stillschweigen darüber bewahrt.
Im Gegenzug treffen die isländischen Banken nur auf offene Türen, wenn sie im Ausland um Kredite anfragen. Die drei größten Banken, die im Jahre 2001 privatisiert wurden und nicht der geringsten staatlichen Kontrolle unterstellt sind, investieren Kapital in einer Größenordnung, welche das Bruttoinlandprodukt um ein Zehnfaches übersteigt. Es entstehen neue junge und dynamische Unternehmen auf Gebieten der Biotechnologie, Informatik und dem Luxustourismus. Das Straßennetz ist aufgrund der schwierigen Naturgegebenheiten sehr dürftig ausgebaut. Deswegen besitzt Island etwa 100 Flugplätze, von denen nur fünf mit einem asphaltierten Rollfeld ausgestattet sind.
Der Privatkonsum wird gefördert, und jeder nimmt für die kleinste unnütze Investition Anleihen in Dollar und Schweizer Franken auf. Die Klasse der Reichen wächst. Fast 90 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ist von nun an im tertiären Sektor tätig. Die Ungleichheiten nehmen zu, und sozial wichtige Berufe wie beispielsweise Lehrer, sind immer weniger geschätzt. Der Drogenkonsum steigt, die Arbeitslosenquote bleibt konstant bei 1,5 Prozent. Island hat den Gipfel des menschlichen Entwicklungsstandes erreicht.
Die große Begeisterung über den «Fortschritt» lässt darüber ganz andere Probleme vergessen. 1998 beschließt das isländische Parlament, sämtliche Krankenakten seiner Bürger, einschließlich der DNA, an das Pharmaunternehmen DeCode Genetics, eine Zweigstelle von Hoffmann-La Roche, weiterzugeben. Seit Wikingerzeiten war die Insel Island sehr isoliert und daher die Bevölkerung kaum durchmischt, ein ungeheurer Vorteil bei der Recherche genetisch bedingter Krankheiten. Im Gegenzug verspricht das Unternehmen die kostenlose Bereitstellung von Medikamenten, die sich möglicherweise aus den Forschungen ergeben.
Und dann plötzlich fällt alles wie ein Kartenhaus zusammen. Verunsichert durch die weltweite Finanzkrise fordern die ausländischen Gläubiger die Rückzahlungen der Kredite. Nach einer Woche verliert die einheimische Währung 50 Prozent ihres Wertes, die drei größten Banken gehen Konkurs und das Land steht vor dem Bankrott.
Weiblicher Kapitalismus Mit einem Schlag sind die Isländer völlig desillusioniert. Von Schulden überhäuft, ihrer Ersparnisse beraubt und mit dem Schreckgespenst der Arbeitslosigkeit konfrontiert, beginnen die wütenden Bürger zu demonstrieren. Sie skandieren Slogans, schlagen auf Kochtöpfe und fordern den Rücktritt der Regierung sowie des Chefs der Zentralbank, Oddsson. Dies ist derselbe David Oddsson, der bis 2004 das isländische Wirtschaftswunder in der Funktion des Ministerpräsidenten verkörperte. Im Februar 2009 wird die ehemalige Sozialministerin und in der Bevölkerung äußerst beliebte Johanna Sigurdardottir, 66 Jahre alt und bekennende Homosexuelle, an die Spitze einer Übergangsregierung gewählt. Diese soll bis zu den vorgezogenen Neuwahlen am 25. April die Amtsgeschäfte führen. Jetzt, so ist zu hören, nehmen die Frauen die Dinge in die Hand. Frauen waren schon immer sehr aktiv und präsent in einem Land, wo die Männer oft fort waren, um auf hoher See zu fischen. Im Jahr 1915 erhielten die Frauen das Wahlrecht und 1975 waren sie 30.000, die in den Straßen Reykjaviks für gleiche Löhne von Mann und Frau demonstrierten. Im Jahre 2005, mitten im Wirtschaftsboom, gingen 60.000 Frauen auf die Straße, um dieselben Forderungen zu wiederholen. Viele Frauen meinen, dass ein weiblicher Kapitalismus auf wahren Werten basiert und verantwortungsbewusster ist als derjenige von Männern. Letztere ließen sich zu leicht von Wichtigtuerei, hoher Risikobereitschaft und schnell verdientem Geld verführen. Die Zeit sei reif für eine weibliche Führung. Inzwischen wusste die männliche Finanzwelt, wie zu reagieren war. Sie empfiehlt, den Teufel mit dem Belzebub auszutreiben oder anders ausgedrückt, die Schulden durch die Aufnahme neuer zu tilgen. Island ist ein bisschen sein eigener Kanarienvogel, so wie derjenige, den die Bergleute im Käfig mit unter Tage nahmen. Wenn der Vogel verstummte und steif von der Stange fiel, wussten die Bergleute, dass gefährliches Grubengas austrat und es sie bald alle treffen würde. Niemand kann voraussagen, welches Ausmaß die «finanzielle Giftwolke» haben wird. Tun wir doch wenigstens so, als würden wir den Kanarienvogel retten!
Einige Tage nach dem Bankrott gewährt der IWF Island 2,1 Milliarden Dollar auf zwei Jahre verteilt. Diese Summe deckt 42 Prozent der Schulden, die der Staat zurückzahlen wird, weil er unverzüglich die bankrotten Banken verstaatlichte. Für die verbleibenden 58 Prozent müssen andere Quellen gefunden werden. Laut IWF-Prognosen wird die «Sanierung» des Bankenwesens 80 Prozent des Bruttoinlandprodukts verschlingen mit dem Endzweck, die Banken zu reprivatisieren und die Wirtschaft zu reliberalisieren, wenn die Aufgabe erst einmal erledigt ist. Nichts logischer als das! Wie die Isländer zurechtkommen werden, um sich langfristig zu entschulden und gleichzeitig überleben zu können, das ist ihr Problem. Die neue «weibliche» Führungsriege akzeptiert diesen Plan und der IWF gibt sich zuversichtlich: «Die Wirtschaft Islands ist flexibel, das Land bleibt weiterhin attraktiv und es wäre nicht das erste Mal, dass Beben Island erschüttern».» Was meint der IWF damit?
Es gab einmal Kriege… Island ist eine Insel mit Gletschern und noch aktiven Vulkanen. Seit 1100 Jahren leben hier Menschen. Naturkatastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Lawinen- und Erdrutsche haben immer wieder die einheimische Bevölkerung dezimiert. Das Leben ist nicht ungefährlich, und nur die Küste ist bewohnbar. Hier herrscht ein mildes Klima, welches etwas Landwirtschaft und das ganze Jahr hindurch die Freilandaufzucht von Schafen ermöglicht. Die Wolle ist von einer unübertroffenen Qualität. Es gibt viel mehr Schafe als Menschen auf der Insel. Wichtigste Quelle des Überlebens waren jedoch schon immer Meer und Fischfang. Die Gewässer rund um die Insel sind sehr reich an Lachs, Kabeljau und Hering. Noch heute machen Fischprodukte 70 Prozent des Exportvolumens aus. Seit Jahrhunderten sind Islands Gewässer bei den ausländischen Flotten überaus begehrt. Die Kontrolle über die See und die damit verbundenen Ressourcen war im Kampf für eine ökonomische und politische Souveränität des Landes, das bis 1944 mit Dänemark in einem Unionsvertrag stand, von entscheidender Bedeutung.
1940 überfiel Deutschland Dänemark. Um deutschen U-Booten und Flugzeugträgern den Zugang zum Nordatlantik zu verwehren, besetzte Großbritannien die Insel und errichtete hier eine Militärbasis mit 25.000 Soldaten bei einer Gesamtbevölkerung von 120.000 Einwohnern. Die Insel war zum strategischen Spielball geworden.
Im Jahre 1941 wurden die britischen Truppen durch amerikanische ersetzt. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges begann der Kalte Krieg, und die Amerikaner wollten die Militärbasis Keflavik, die in so günstiger Nähe zu ihrem Feind - der Sowjetunion - liegt, nicht mehr verlassen. Es folgten Streitigkeiten, Drohungen und Verhandlungen. Island, das niemals eine eigene Armee besaß, tritt 1951 der NATO bei, und die Luftwaffenbasis von Keflavik wird Militärbasis der NATO. Antiamerikanische Ressentiments bleiben aber bis in die 1970er Jahre erhalten. Die Soldaten haben nicht das Recht, bis nach Reykjavik vorzudringen, das nur 50 Kilometer von der Militärbasis entfernt liegt. Als Präsident Nixon 1972 hier Georges Pompidou trifft, muss er sich mit einem schwarzen Bestattungsfahrzeug zufrieden geben, die Straßen der Hauptstadt sind menschenleer und die Geschäfte geschlossen. Die amerikanischen Streitkräfte verlassen erst 2006 die Insel mit der Zusage, im «Bedarfsfalle» jederzeit zurückkehren zu können.
Die Isländer dagegen haben ganz andere Kriege auszufechten. Der erste «Kabeljaukrieg» brach 1958 aus, als Island, ohne vorhergehende internationale Abstimmung, seine Schutzzone auf 12 Seemeilen erweiterte. Island will die ausländischen Fangschiffe von seinen Küsten fernhalten, wo sich die Fischbestände dramatisch verringert haben. Während die Regierungen verhandeln, attackieren einander britische und isländische Fischer auf offener See. 1961 wird die neue Schutzzone anerkannt, und die ausländischen Fischereiflotten müssen Fangquoten akzeptieren. Dennoch hält die Überfischung an. Deshalb dehnt Island 1972
seine Schutzzone auf 50 Seemeilen, 1975 dann auf 200 Seemeilen (370 km) aus. In beiden Kriegen, die daraufhin ausbrechen, sendet Großbritannien Schiffe und Flugzeuge in die isländischen Gewässer, um seine Trawler vor dem Rammen und Kappen der Schleppnetze seitens isländischer Küstenschiffe zu beschützen. Die Situation eskaliert. Die NATO schaltet sich ein, da Island droht, die Militärbasis in Keflavik zu schließen. 1976 kommt eine Einigung zustande, und die EU befürwortet die 200 Meilen Schutzzone. Großbritannien muss sich diesem Entscheid beugen.
Die Isländer wollten wegen der gemeinsamen Fischereipolitik niemals der EU beitreten. Obwohl die Fischerei durch Quoten geregelt ist, werden diese von niemandem eingehalten. Bis in die 1980er Jahre war Island für seine leistungsfähige Fangflotte und die strikte Überwachung der Fischbestände bekannt. Es gelang sogar, die isländischen Gewässer wieder mit Hering zu besetzen, ein Fisch, der inzwischen selten geworden ist. Doch in den 1990er Jahren meinte Island, von der Fischerei unabhängig geworden zu sein. Der Verkauf von Fangquoten, sogar an ehemalige Feinde, entwickelte sich fortan zu einem lukrativen Geschäft.
Rückkehr zu einem
«El Dorado der Arktis»? Welche Zukunft gibt es für dieses kleine Land? Zum Glück haben die Einwohner noch zu essen. Abgesehen vom Fisch sind sie autonom in der Versorgung mit Kartoffeln, Milch und Schafsfleisch (der durchschnittliche Jahreskonsum beträgt 40 kg). Sie bauen Obst und Gemüse in beheizten Gewächshäusern an, die von denselben heißen Quellen wie ihre Wohnhäuser geheizt werden. Verwundert stellte man fest, dass die ländlichen Gebiete kaum von der Krise betroffen sind. Die Leute hier leben genauso bescheiden wie zuvor, als sie abseits des Konsumrauschs standen. Die Städter entdecken, wie vorteilhaft es sein kann, wenn die Versorgung in den eigenen Händen liegt. Aber ist es dafür nicht schon zu spät?
Wie der IWF so schön betonte, bleibt das Land für ausländische Anleger weiterhin attraktiv. Hydroelektrische, geothermische und thermale Ressourcen gibt es noch immer im Überfluss. Und weitere Perspektiven eröffnen sich am Horizont: Einer amerikanischen Studie zufolge lagern ein Viertel der weltweiten Erdöl- und Gasreserven im Nordpolarkreis, und Island als Anrainerstaat könnte diese mit erschließen. Darüber hinaus schmilzt die Arktis. Eine Million Quadratkilometer Packeis sind in den letzten 30 Jahren verschwunden, und dieser Prozess setzt sich fort. Unter dem Eis lagern unermessliche Schätze: Neben Erdöl und Gas gibt es Diamanten, Gold, Silber Eisen, Kupfer Zink… Man kann davon ausgehen, dass Island nichts von seiner «strategischen» Bedeutung im Wettlauf um dieses neue «El Dorado der Arktis» eingebüßt hat.
Bleibt abzuwarten, ob die «finanzielle Giftwolke» den Appetit des Kanarienvogels nicht verdorben hat und die «Rückkehr zu alten Werten wie Solidarität und ein einfaches Leben», welche die Isländer in diesen Krisenzeiten so hochpreisen, einer - trotz allem - ultra-modernen Gesellschaft standhalten kann. Oder ist Island gar kein Kanarienvogel, sondern, ganz im Gegenteil, ein Phönix: jener mythische Vogel, der verbrennt, um aus seiner eigenen Asche wieder aufzuerstehen…