In Barcelona hat ein alternatives politisches Projekt das Bürgermeisteramt erobert. Der folgende Artikel erklärt den historischen Zusammenhang und die Herausforderungen für die sozialen Bewegungen zwischen Institutionalisierung und Aufbegehren. Teil 2.
Im ersten Teil des Artikels erinnerte der Autor an die historischen Besonderheiten der Stadt Barcelona und zeigten auf, wie die «klassischen» Politiker_in-nen das Vertrauen der Bevölkerung verloren haben.
Die Krise
Die Finanzkrise von 2008 und die darauffolgende Wirtschaftskrise treffen Katalonien besonders hart. Industriebetriebe werden massenhaft in Billiglohnländer ausgelagert. Die Bauprojekte, der Motor der Ökonomie, stoppen abrupt. Die Arbeitslosigkeit explodiert mit allen sozialen Konsequenzen. Parallel dazu führt die Schuldenkrise der Staaten zu drastischen Budgetkürzungen im Gesundheits- und Erziehungswesen. Die wenigen staatlichen Mechanismen für einen sozialen Ausgleich schrumpfen zusammen, während die Privatbanken mit öffentlichen Geldern in Milliardenhöhe gerettet werden. All dies verstärkt das Gefühl, dass es sich in Wirklichkeit nicht um eine Krise, sondern um einen Riesenschwindel zugunsten der Mächtigen handelt. Der Traum von Europa, der mit dem EU-Beitritt Spaniens verbunden war, und der soziale Pakt anlässlich des demokratischen Übergangs lösen sich in nichts auf. Allein schon in der Stadt Barcelona werden seit Anfang der Krise tagtäglich Dutzende von Familien aus ihren Wohnung verjagt, die Wohnungsnot wird immer grösser. Fast 50 Prozent der Menschen unter 35 Jahren sind arbeitslos und Spanien wird nach vierzig Jahren wiederum zu einem Auswanderungsland. Die von den linken und rechten Parteien vorgeschlagenen Lösungen verschärfen die sozialen Probleme und die prekären Arbeitsbedingungen noch weiter. Korruptions-Skandale in allen Parteien, die in den vergangenen Jahren am Ruder waren, machen Schlagzeilen. Das Trio politische Parteien/Unternehmen/Mafia hat auf der Grundlage der Immobilienspekulation ein wirtschaftliches Entwicklungsmodell geschaffen, das sich an der äussersten Grenze der Legalität und der Moral situiert. In allen Meinungsumfragen werden die politische Klasse und die Arbeitslosigkeit als die Hauptprobleme der Gesellschaft bezeichnet.
Wirkliche Demokratie ab sofort!
Im Kontext einer allgemeinen Wut und Empörung demonstrieren am 15. Mai 2011 Zehntausende von Menschen für «eine echte Demokratie jetzt». Am Abend zelten Dutzende auf den zentralen Plätzen in Madrid und Barcelona. Entgegen alle Erwartungen mobilisieren sich immer mehr Menschen, und schon nach einigen Tagen sind viele zentrale Plätze in den Städten von Tausenden besetzt und selbstverwaltet. In Barcelona, mit seiner eigenen sozialen Geschichte, radikalisiert sich die Bewegung zu-sehends und vereint die Mehrzahl der grossen Widerstandsbewegungen. Es handelt sich hier zweifelsohne um die stärkste politische Mobilisierung seit den 1970er Jahren. Es handelt sich auch um eine neue Form der politischen Intervention; die Etiketten und theoretischen Dogmen werden beiseite gelassen. Man findet sich in der Praxis der «radikalen Demokratie» zusammen. Der massive Gebrauch der neuen Technologien verändert die kollektiven Kommunikationsformen völlig, vor allem auch mit Twitter. Die Informationen werden nicht mehr von oben nach unten weitergegeben, sondern transversal. All dies ist ziemlich chaotisch, manchmal auch ein bisschen hohl, aber auch sehr anregend und führt zu leidenschaftlichen Diskussionen um die politischen Fragen des Landes. Nach einem Monat treffen sich in allen Quartieren der Stadt Volksversammlungen und debattieren an der Basis, wie man all die Ungerechtigkeiten bekämpfen kann, für die den Bankiers und Politikern die Verantwortung zugewiesen wird.
Nach einem Jahr intensiver Aktivität ist die Energie um den 15. Mai ein wenig zurückgegangen. Die Mobilisierung geht weiter, aber es gibt immer weniger Treffpunkte und Koordinationsstellen, um eine gemeinsame Front mit den verschiedenen engagierten Sektoren zu schaffen, vor allem auch für die Menschen, die im Gesundheits- oder Erziehungswesen arbeiten. Die Frage des Rechts auf eine Wohnung um die PAH (Plataforma de Afectados por la Hypoteca, Plattform der Opfer von Hypotheken) herum findet riesigen Zulauf. Diese Struktur – entstanden bei einer Besetzung in Barcelona – erlaubt es Hunderttausenden von Leuten, die verschuldet sind, ihre Hypotheken nicht mehr entrichten können und deshalb von der Wohnungsräumung bedroht sind, sich kollektiv zu organisieren. Am Anfang werden Ausbildungskurse veranstaltet, damit jede_r seine Rechte kennenlernt, danach finden Grosskampagnen des zivilen Ungehorsams statt. Die Initiative vermochte dadurch über 1'500 Ausweisungen zu verhindern, indem sie vor den bedrohten Wohnungen grosse Aufmärsche organisierte, Besetzungen der für die Vertreibung verantwortlichen Banken veranstaltete und schliesslich 2'500 Personen in von diesen Geldinstituten verlassenen Gebäuden einquartierte. Ada Colau, ehemalige Hausbesetzerin und zukünftige Bürgermeisterin, ist die charismatische und energische Wortführerin der Organisation; ihre weitum bekannten mutigen Auftritte in politischen Debatten lösten eine breite Sympathiewelle für ihre Person aus. Obwohl ihr täglicher Aktivismus manchmal mit der Illegalität flirtet, hat sie sich eine grosse Legitimität in Wohnungsfragen erarbeitet: sie wurde als Spezialistin auf den Abgeordnetenkongress vorgeladen, wo sie prompt einen Skandal provozierte, weil sie die Banker während der Parlamentsdebatte als Kriminelle bezeichnete.
Im Jahre 2012 schafft die CUP, eine kleine Partei der unabhängigen revolutionären Linken, die sich seit dreissig Jahren in der lokalen Politik für eine libertäre Gemeindeverwaltung einsetzt, den Sprung in die grosse Politik und gewinnt zur allgemeinen Überraschung auf Anhieb drei Sitze im katalonischen Parlament. Die Abgeordneten sind be-sonders engagiert in den Fragen der Korruption und der polizeilichen Gewalt. Sie sind auch Sprachrohr der verschiedenen sozialen Widerstandsbewegungen. Nach mehreren Fällen von schweren Verstümmelungen bei Demonstrationen durch Polizeikräfte entfachte die CUP zum Beispiel eine breite Diskussion um den Einsatz von Gummigeschossen der Polizei und erreichte ein partielles Verbot für den Einsatz dieser Waffe.
Ein politisches Erdbeben
Im Jahr 2014 setzt sich eine Gruppe von Aktivist_innen mit der Hypothese auseinander, die Institutionen zu «stürmen», und lanciert die Bewegung Barcelona en Comun (BeC), welche um Ada Colau gruppiert ist. Die Initiative meint, dass in den vergangenen Jahren sehr wohl dank der sozialen Kämpfen punktuell Siege errungen wurden. Aber eigentlich müsste man die Gesetze ändern, «damit auch unsere Kinder von unseren Kämpfen profitieren können.» An der kollektiven Ausarbeitung des Programms beteiligen sich Hunderte von Menschen. Sie setzen sich Punkt für Punkt mit den wichtigen Themen der sozialen Bewegung ausein-ander: Schluss mit den Zwangsräumungen von Wohnungen, Schliessung der Gefängnisse für Abschiebehaft, Kampf gegen Privilegien… Sie stellen sich hinter den Slogan der Zapatisten «gehorchendes Regieren» und versuchen sich Mechanismen vorzustellen, wie einfache Bürger_innen das Mandat der Gewählten kontrollieren können. Podemos, die neue Partei des medienwirksamen Pablo Iglesias, unterstützt die Kandidatur, aber sie ist vor allem in der Realität der lokalen Kämpfe verankert. Während der Monate vor den Wahlen prognostizieren Meinungsumfragen und auch die Strasse immer mehr ein ausserordentliches Wahlergebnis. Am 25. Mai 2015 fallen in einer euphorischen Stimmung die Wahlergebnisse: Barcelona en Comun (BeC) ist mit über 25 Prozent der Stimmen die grosse Gewinnerin der Wahlen. Die Stimmbeteiligung hat sich um 8 Prozent erhöht, in gewissen armen Quartieren gar um 20 Prozent. Der soziale Unterschied ist eindrücklich: BeC gewinnt fast überall mit Ausnahme der reichen Quartiere. Am gleichen Abend feiern die Neugewählten ihren Sieg im besetzten Gebäude von Telefonica, wo gerade Arbeiter_innen gegen prekäre Arbeitsbedingungen streiken; ein Gegensatz zu den piekfeinen Salons und Luxusrestaurants, in denen üblicherweise solche Anlässe stattfinden. Die offiziellen Wortmeldungen sind nicht triumphierend, sondern laden die Bevölkerung ein, den Druck der Strasse aufrecht zu erhalten und die Gewählten zu verpflichten, ihr Programm einzuhalten und nicht der Trägheit der Macht zu weichen. Die Rechte ist verärgert über die Anarchie, die sich ihrer Meinung nach in der Stadt ausbreitet. Ein Teil der Polizeichefs tritt zurück, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen.
Aber das Schlussresultat ist stark aufgesplittert. Acht Parteien sind im Stadtrat vertreten und die Liste von Colau hat nur elf von vierzig Sitzen. Sie muss also mit einer Minderheit regieren. Das schränkt ihre Handlungsfähigkeit ein oder zwingt sie zu zweifelhaften Abkommen mit anderen Parteien. Die ersten Regierungsmonate zeigen deutlich die Widersprüche dieser Art von politischem Einsatz auf. So wurde eine der ersten Massnahmen, die Senkung des Gehalts der Abgeordneten, von der Opposition boykottiert. Die Bürgermeisterin konnte somit ihren eigenen Lohn nicht senken! Auch gewisse politische Versprechen wie die Schliessung des Gefängnisses für Abschiebehaft sind auf der Liste der Prioritäten nach hinten gerückt.
Für die sozialen Emanzipationsbewegungen ist die Situation ebenso interessant wie heikel. Die Tatsache, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung um die Werte Antirassismus, Feminismus und Antikapitalismus findet, ist erfreulich. Dies färbte sogar ein bisschen auf die anderen Parteien ab, im Gegensatz zum bedenklichen Einfluss der Rechtspopulisten in Nordeuropa. Aber das Risiko, dass die Kämpfe sich langsam abschwächen zugunsten eines institutionellen Funktionierens, ist sehr wohl vorhanden. Wie sich nicht einschläfern lassen von der Apathie der bürokratischen Politik und weiterhin radikal die Spielregeln in Frage stellen, wenn ehemalige Kamerad_innen in der Verwaltung am Hebel sind? Wie können wir unsere selbstverwaltete Dynamik und soziale Kooperation aufrechterhalten, wenn unsere Slogans von der Stadtverwaltung auch verwendet oder sogar ausgedacht werden? Diese brennenden Fragen werden bestimmt in den kommenden Monaten in der Auseinandersetzung mit der Realität eine Antwort finden. Mit der Logik des Profits und der Herrschaft zu brechen, kann nicht von oben bestimmt werden. Aber die Tatsache, dass eine gegnerische Struktur teilweise neutralisiert ist, eröffnet bestimmt ein Feld des Möglichen. Auf alle Fälle ist die Situation voll von Möglichkeiten. Es ist an uns, diese zu ergreifen!
Umwälzung oder Realpolitik?
Neun Monate nach dem politischen Erdbeben ist es sehr schwierig, eine erste Bilanz der neuen Stadtverwaltung zu ziehen, schon wegen der systeminhärenten Trägheit der politischen Institutionen. Die den letzten Monaten vor den Wahlen beschloss zum Beispiel die regierende Rechte eine Anzahl mittelfristiger Projekte, vor allem im Bereich des Tourismus. Wenn das neue Team die Stadt völlig verändern will, so ist sie mit einer Verwaltungslogik konfrontiert, die seit den Olympischen Spielen von 1992 Barcelona in ein globalisiertes Markenzeichen verwandelt. Zudem verfügt Barcelona en Comun (BeC) nicht über eine Mehrheit von Stadträten und muss deshalb komplizierte Bündnisse eingehen, mit Gruppen verschiedener Ausrichtungen, vor allem auch was die brennende Frage einer Unabhängigkeit Kataloniens betrifft. Die Konflikte gehen über den traditionellen Graben von Links und Rechts hinaus. Separatisten und Unionisten befinden sich im Zwist, aber auch die «alte Politik» (Die Parteien Partido Popular und PSOE, die seit vierzig Jahren im Wechsel die Regierung gebildet haben) und die «neue Politik» (vertreten durch eine Vielzahl von lokalen Gruppierungen, für die Linke Podemos und Ciudadanos für die Rechte).
Die Situation in Barcelona zu beschreiben, ist keine einfache Angelegenheit. Was Debatten, Diskussionen und vorgeschlagene Inhalte anbelangt, handelt es sich um eine grosse Umwälzung. Was zum Beispiel die Flüchtlinge betrifft, hat sich Barcelona für einen grosszügigen Empfang entschieden und dazu ein Netzwerk von Bürger_innen aufgebaut. Ansonsten erweist es sich als schwierig, in so kurzer Zeit wirkliche soziale Fortschritte nachhaltig zu sichern. Seit den nationalen Wahlen in Katalonien und den allgemeinen Wahlen in Spanien vertieft sich jedoch der Prozess eines politischen Meinungsumschwungs. Die neue Bürgermeisterei von Barcelona kann nicht mehr als «demokratische Anomalie» abqualifiziert werden (wie dies unter den Konservativen üblich war), es handelt sich eher um ein neues Modell von kollektiver Verwaltung des Gemeinguts und fortschrittlicher Werte. Die Begeisterung der ersten Tage ist zwar etwas abgeflaut, aber die populäre Unterstützung des neuen Programms ist immer noch sehr gross, was auch die letzten Wahlresultate, ein überwältigender Sieg der von BeC unterstützten Liste am 20. Dezember 2015, bezeugen.