Es war nicht anders zu erwarten: Sei es Klimaschutz, Afrika-Politik, Friedenssicherung oder globaler Handel – das Treffen der G20 in Hamburg brachte keinerlei Fortschritte für soziale Gerechtigkeit oder eine ökologische Wende. Der Widerstand gegen den fossil betriebenen Kapitalismus bleibt notwendig.
Stärker denn je scheinen die Eigeninteressen der Staaten zu dominieren, die sich einen erbitterten Wettkampf um die globalen Ressourcen liefern. Nick Sinakusch drückte es vor kurzem in der Zeitschrift «Analyse & Kritik» folgendermassen aus: «Die G20-Staaten sind Konkurrenten, und die Probleme, die sie behandeln, entstehen aus ihren Interessengegensätzen.» Je stärker der jeweilige Staat, und je strategisch klüger seine oft nur temporären Allianzen, desto eher kann er seine entsprechenden Interessen durchsetzen. In Hamburg kamen die zwanzig mächtigsten Staaten zusammen, alle anderen blieben ausgeschlossen. Doch das freie Spiel der Staatenkonkurrenz und der Machtblöcke wird nicht nur von autoritären Staatslenkern wie Erdogan, Putin oder Trump angeheizt, sondern auch durch die «liberalen» Merkels, Trudeaus und Macrons dieser Welt. Der finanzmarktdominierte Kapitalismus, der ganz wesentlich auf der Verbrennung fossiler Energie beruht, ist eine Sackgasse, sei es unter liberal-kapitalistischer oder autoritär-nationalistischer Führung.
Dass es gelang, an Trump vorbei die Zusage der 19 verbleibenden Staaten zum Klimaabkommen zu halten, ist daher kein Trost: Die Zusage Erdogans wackelte zum Schluss erheblich und schon im Dezember 2015 gab es in Paris keine verbindlichen Vereinbarungen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen. Es ist ein grotesker Widerspruch, dass Merkel in Hamburg für das Klimaschutzabkommen eintrat und gleichzeitig die Speerspitze der Befürworter·innen des Freihandels repräsentierte. Denn Wirtschaftswachstum und neoliberaler Welthandel werden die ökologische Zerstörung und die Übernutzung natürlicher Ressourcen weiter anheizen, selbst wenn die Wende zur so genannten «green economy» gelingt. Die «imperiale Lebensweise» (Ulrich Brand), also die billige Verfügbarkeit von immer mehr Autos, Flugreisen, Fleisch, Smart Phones und Textilien für die Mittelschichten des globalen Nordens und die rapide wachsenden Mittelschichten der Schwellenländer, wird auf diese Weise stabilisiert und ausgebaut. Der Energiehunger des aktuellen Wirtschaftssystems zeigt sich nicht zuletzt anhand der weiteren Förderung des Klimakillers Kohle – und das nicht nur in China und Indien, sondern auch in Deutschland.
Das Recht des Stärkeren
Die Weigerung der G20-Staaten, die global so dringlichen Probleme auf gleicher Augenhöhe im Kreis der insgesamt 193 Mitgliedsländer der UNO auszuhandeln, zeigt, dass hier nichts anderes als das Recht des Stärkeren am Werk ist. Bisweilen sind die Beitrittsbedingungen zu den G20 auch äusserst undurchsichtig: So weist Nigeria, ohne Mitglied zu sein, mittlerweile eine höhere Wirtschaftsleistung auf als das G20-Mitglied Südafrika.
Zwar wurde verkündet, dass die USA und Russland sich über einen Waffenstillstand im Südwesten Syriens verständigen – dennoch wird das Land und die gesamte Region auf absehbare Zeit weiterhin Schauplatz blutiger Stellvertreterkriege bleiben. Was die Afrika-Politik betrifft, die ein dezidierter Schwerpunkt des G20-Gipfels war, so ist ebenfalls ein business as usual zu erwarten: Die reichen Staaten sind nach wie vor in der Lage, nach ihrem Willen Freihandelsabkommen zu diktieren und ihre brutale Flüchtlingsabwehr fortzusetzen. Erst am 6. Juli stellten die 28 EU-Innenminister bei einem Treffen in der estnischen Hauptstadt Tallinn diesbezüglich die Weichen: Die Minister vereinbarten, einen «Verhaltenskodex» für die NGOs auszuarbeiten, die sich im Mittelmeer für die Seenotrettung von Geflüchteten einsetzen. Ferner ist eine erhebliche Stärkung der Rolle Libyens bei der Zurückhaltung oder der «Rücknahme» von Bootsflüchtlingen geplant. Die deutsche Bundesregierung steht ebenfalls hinter dieser Politik, und Bundesinnenminister Thomas de Maizière sprach sich in Tallinn offensiv für die Stärkung der libyschen Küstenwache aus. Die NGOs zur Seenotrettung im Mittelmeer, die bei den Demonstrationen gegen G20-Gipfel mit dabei waren, protestierten heftig gegen diese Pläne. Ruben Neugebauer von der Vereinigung Sea-Watch erklärte etwa gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP, einen Verhaltenskodex gebe es längst, und zwar in Form des international gültigen Seerechts.
Neokolonialismus und
Fluchtfragen
Bei dieser Debatte darf nicht unerwähnt bleiben, dass die G20-Länder die Fluchtursachen, die zu den vielfachen Dramen im Mittelmeer führen, oftmals erst hervorbringen bzw. erheblich verschärfen. Laut Internationalem Währungsfonds (IWF), einer Organisation, die nicht gerade für revolutionäre Umtriebe bekannt ist, entgehen den afrikanischen Staaten pro Jahr rund 175 Milliarden Euro an Steuereinnahmen – das ist schätzungsweise drei Mal so viel, wie an Entwicklungshilfe in die Länder des Kontinents fliessen. Die Steuerverluste kommen zu einem grossen Teil durch internationale Konzerne zustande. Diese Zahlen illustrieren das oft zitierte Plädoyer von Jean Ziegler, der immer wieder betonte, dass es nicht darum gehe, mehr zu geben, sondern weniger zu stehlen. Die himmelschreienden Ungleichheitsverhältnisse werden durch den Marshall-Plan für Afrika, den die deutsche Bundesregierung propagiert, nicht angetastet. Der französische Präsident Emmanuel Macron legte in Hamburg noch eins drauf, als er gegenüber einem Reporter aus der Elfenbeinküste behauptete, dass Afrika bislang nicht vorankomme, weil es noch vor grossen «zivilisatorischen Herausforderungen» stehe. Diese Aussage erinnert auf bittere Weise an die berühmt-berüchtigte Rede von Nicolas Sarkozy an der Cheikh-Anta-Diop-Universität in Dakar aus dem Jahr 2007. Sarkozy verstieg sich damals zu der Aussage, dass «der Afrikanische Mensch noch nicht in die Geschichte eingetreten» sei. Die haarsträubende Arroganz der ehemaligen Kolonialmacht, die Macron mit seiner Aussage nun fortsetzt, soll die strukturelle Unterdrückung des afrikanischen Kontinents, die nicht zuletzt Frankreich mitzuverantworten hat, verschleiern. Die französische Öffentlichkeit hat dafür sogar einen eigenen Begriff geprägt: Die neokolonialen Kontinuitäten Frankreichs in Afrika werden dort mit dem von François-Xavier Verschave geprägten Begriff «Françafrique» bezeichnet. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Gäbe es kein Uran aus dem Niger, einem bitterarmen Sahelstaat, der den vorletzten Platz des Human Development Index belegt, würden in Frankreich die Lichter ausgehen. Die Despoten des Clans rund um Omar Bongo, dem sein Sohn Ali Bongo als Präsident des Erdölstaates Gabun nachfolgte, sind seit dem Jahr 1967 ohne Unterbrechung an der Macht. Französische Parteien und Politiker liessen sich während Jahrzehnten von den Bongos fördern, der französische Erdölkonzern Total bestimmt die Geschicke es Landes massgeblich mit. Die Liste liesse sich noch lange fortsetzen...
In Hamburg, einer Stadt, die während der kolonialen Vergangenheit Deutschlands eine bedeutende Rolle spielte, war der Widerstand der afrikanischen sozialen Bewegungen anlässlich des G20-Gipfels laut und sichtbar. Die strukturelle Ausbeutung des Kontinents wurde u.a. von Mitgliedern des Netzwerks Afrique-Europe-Interact angeprangert, darunter vom Autor und Aktivist Emmanuel Mbolela.
Gewaltdebatte in den Medien
Obwohl die Bedingungen für den Widerstand gegen den Gipfel der G20 durch die hyperrepressive Linie des Polizeieinsatzleiters Hartmut Dudde enorm erschwert wurde, waren die sozialen Bewegungen dennoch sichtbar, angefangen vom Alternativgipfel mit mehreren Tausend Teilnehmer·innen bis zur Grossdemonstration am Samstag mit über 70'000 Demonstrierenden. Gegen die extrem restriktiven Kampier-Verordnungen, die ebenfalls auf das Konto des Scharfmachers Dudde gehen, regte sich Widerstand: vor allem die Kirchen sprangen ein und stellten den Demonstrierenden ihre Kirchenvorplätze und Grundstücke zum Zelten zu Verfügung – ein grossartiges Zeichen der Solidarität.
Dass die mediale Berichterstattung über weite Strecken von der altbekannten Gewaltdebatte geprägt war, ist äusserst bedauerlich. Wie auch immer man zur Militanz autonomer Gruppen steht und wie politisch sinnentleert der grösste Teil der Ausschreitungen auch war – die Gewalt in Hamburg muss zu den Kriegen, der Ausbeutung und der Umweltzerstörung ins Verhältnis gesetzt werden, die die Länder der G20 mitzuverantworten haben. Die mediale Fokussierung auf die Ausschreitungen in Hamburg leistet einen enormen Beitrag, um über das Universum struktureller Gewalt, das der fossil betriebene Kapitalismus anrichtet, der gemeinhin als unabänderliche Naturgewalt dargestellt wird, nicht sprechen zu müssen. Viele Redakteurinnen und Redakteure müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie in jedem Fall lieber über eine einzige brennende Mülltonne in der Hafenstrasse berichtet hätten als über den Skandal der fehlenden Hungerhilfe für Ostafrika.
Umso wichtiger wird es sein, sich in Zukunft in grossen Bündnissen und mit vielfältigen Aktionsformen gegen die Politik der G20 zu organisieren. Dabei wird es entscheidend sein, sich von falschen Alternativen zu lösen: denn die liberal-kapitalistische Variante des Kapitalismus, für die Politiker·innen wie Merkel, Macron oder die Clintons stehen, sind in vielerlei Hinsicht keine Alternative zu Trump, Putin oder Erdogan. Sie bringen durch die Zuspitzung der globalen Ungleichheit erst die Bedingungen hervor, die den Aufstieg autoritär-nationalistischer Politiker ermöglichen. Wir brauchen eine solidarische Weltordnung, die die regenerativen Kräfte des globalen Ökosystems respektiert und Klimagerechtigkeit herstellt: Das bedeutet zunächst die Anerkennung des Umstands, dass diejenigen, die den Klimawandel am wenigsten verursachen, schon heute am meisten unter seinen Folgen leiden.
Dafür ist eine Abkehr von der kapitalistischen Wachstumslogik und der Staatenkonkurrenz erforderlich. Nur wenn wir dieses langfristige Ziel im Blick haben, macht es auch Sinn, sich für eine Reihe von mittelfristigen Zielen einzusetzen: So müssen die Treffen der G20 abgeschafft werden. Die Probleme, die auf der Agenda des Gipfels in Hamburg standen, müssen auf Ebene der UNO mit allen Mitgliedsstaaten verhandelt werden. Für die Friedenssicherung wird es notwendig sein, eine Reihe von Reformen durchzuführen, allen voran die Abschaffung des Veto-Rechts im Sicherheitsrat. Das Vetorecht verhindert heute Friedensmissionen in Syrien, im Jemen oder im Sudan. Ein weiteres Etappenziel muss sein, durchzusetzen, dass internationale Klimaabkommen für alle Staaten verbindlich gelten. Eine andere wichtige Forderung ist die Totalentschuldung der Länder des globalen Südens.
Es liegt in unserer Verantwortung, für globale Gerechtigkeit innerhalb der ökologischen Grenzen dieses Planeten zu kämpfen – gehen wir’s an!
Zum Weiterlesen:
- Ulrich Brand, Markus Wissen: «Imperiale Lebensweise – Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus». Oekom-Verlag, 2017
- Emmanuel Mbolela: «Mein Weg vom Kongo nach Europa – Zwischen Widerstand, Flucht und Exil». Mit einem Vorwort von Jean Ziegler. Mandelbaum Verlag. 4. Auflage, 2016
- Bernhard Schmid: «Frankreich in Afrika – Eine (Neo)Kolonialmacht in der Europäischen Union zu Anfang des 21. Jahrhundert». Unrast-Verlag, 2011
- Nick Sinakusch: «Die G20 stecken in der Krise. Warum nationale Interessen die Agenda dominieren». analyse&kritik 628, 20.6.2017