EinInterview mit Maxim Butkevych 1, Budapest, 12. September 2015, während des Treffens zwischen unabhängigen Journalist_innen aus der Ukraine und aus Russland. Es geht um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Medienschaffenden der beiden Länder.
Archipel: Eben ging unser Seminar mit 15 Journalistinnen und Journalisten aus Russland, der Ukraine und einigen Gästen aus dem Balkan und anderen Ländern zu Ende. Es gab lebhafte Diskussionen, jedoch in vielen Punkten hatten die Vertreterinnen und Vertreter aus Russland und der Ukraine übereinstimmende Meinungen. Was die Arbeitsbedingungen und das Ansehen der Journalisten* betrifft, wurden deutliche Unterschiede zwischen Russland und der Ukraine festgestellt.
Welche Rolle spielen die Journalisten in der Gesellschaft in den beiden Ländern? Welche wesentlichen Unterschiede siehst Du?
Maxim Butkevych: In der Ukraine erschwert der de-fakto-Kriegszustand die Arbeit der Journalisten. In der Öffentlichkeit herrscht die Meinung vor, dass alle Teile der Gesellschaft auf den Konflikt mit verstärktem Patriotismus reagieren müssen, und das betrifft auch die Journalisten. Das steht im Widerspruch zu den Grundprinzipien ihres Berufs. Aber zusammenfassend kann man sagen, dass die Berufsgattung stark an Ansehen gewonnen hat, und gleichzeitig legen auch die Journalisten deutlich mehr Wert darauf, den professionellen Anforderungen gerecht zu werden, sie wollen echte Journalisten sein, für sie ist das nun wichtig. Sie wollen über Tatsachen berichten, und sie wollen das Vertrauen der Öffentlichkeit erlangen. Ich spreche hier natürlich nicht über die Medien, in denen schon von vorneherein klar ist, wie über ein Ereignis berichtet wird, und es geht auch nicht um die Provinz. In den Provinzmedien haben wir eine andere Situation. Aber selbst dort, wenn ich mich an lokale Berichterstatter wende und sie darauf aufmerksam mache, dass sie berufliche Grundsätze des Journalismus verletzen, dann ist ihnen das nicht gleichgültig. Sie sehen ein, dass auch sie sich an die Spielregeln halten müssen, auch wenn sie sich aus verschiedenen Gründen nicht immer daran halten. Sehen wir uns die Elite des ukrainischen Journalismus an. Zu Zeiten des Maidan sind neue Köpfe aufgetaucht, nicht alle sind ukrainischer Herkunft. Zum Beispiel Kateryna Sergazkowa, früher russische und seit 2015 ukrainische Staatsbürgerin, sie hat sehr wichtige Berichte über die Krim und die Ereignisse im Osten der Ukraine veröffentlicht. Früher hätte es in der Ukraine niemanden interessiert, einen Band mit Reportagen eines hiesigen Journalisten zu kaufen. Heute ist das eine gängige Praxis, solche Bücher verkaufen sich gut, wie zum Beispiel die Artikelsammlung in Buchform von Sergazkova und ihrem Kollegen Chipaev über den Krieg im Donbas.
Aber es mangelt eindeutig unter den ukrainischen Journalisten an moralischen Leitfiguren, deren Professionalismus für einen jungen Journalisten erstrebenswert wäre. Leute, denen in jeder Situation Gehör geschenkt wird. Es gibt einige wenige, so wie Andrej Kulykov. Er ist ein seit langem bekannter Radio- und Fernsehmoderator, dem zum Unterschied zu vielen anderen keinerlei Vorwürfe über mangelnden Professionalismus oder gar Käuflichkeit gemacht werden können. Die Tatsache, dass einige Journalisten bei den Wahlen vom Herbst 2014 als Abgeordnete ins Parlament eingezogen sind, kann ebenfalls als Beweis des neuerlangten Vertrauens in diese Berufsgattung gewertet werden. Hier geht es also schon um mehr als bloss Journalismus. Es sind Leute, die sich berufen fühlen, die Gesellschaft zum Positiven zu verändern, und die dafür ursprünglich den Journalistenberuf ausgewählt hatten. Also ist die Wahl von Serhij Leshchenko und Mustafa Nayem klar als Zeichen zu deuten, dass unabhängige Journalisten geschätzt werden. Aber trotzdem mangelt es an eigentlichen Leadern.
A: Und in Russland?
MB: In Russland haben wir eine umgekehrte Situation. Der Beruf des Journalisten hat in der Öffentlichkeit keinen Wert mehr. Grundsätzlich gehen alle davon aus, dass Journalisten Aufträge erfüllen. Bestenfalls, so ist die landläufige Meinung, ist der Staat der Auftraggeber. Die Massenmedien befinden sich fast vollständig im Besitz der Macht oder von systemtreuen Gruppen. Selbst dort, wo dies nicht der Fall ist, muss man davon ausgehen, dass sie die Interessen dieser selben Gruppen unterstützen. Wenn die Berufsgattung Journalist noch nicht völlig in Verruf geraten ist, dann liegt das an der Erfahrung mit bestimmten einzelnen Personen. Einzelne, bekannte Journalisten, die ihre Unabhängigkeit bewahrt haben und die über gesellschaftlich wichtige Themen und von ihren Kollegen tabuisierte Themen schreiben. Je nach politischer Anschauung kann man sie lieben oder hassen, aber Alle begreifen, dass sie eine wichtige Rolle innehaben. Und sie sind eine Orientierungshilfe für Viele. Daher wird der Beruf des Journalismus in Russland mit einzelnen Namen verbunden. Das ist kein neues Phänomen, wenn wir nur an Anna Politkovskaya2 denken, das war hervorragender Journalismus! Sie wurde ermordet, und dies war auch ein Zeichen für die gesamte Berufsgattung. Ähnlich erging es einigen anderen Leuten. Und darin liegt der grosse Unterschied zur Ukraine. Ich bin also einverstanden damit, was die russischen Kollegen an unserem Treffen gesagt haben, in der Ukraine gibt es Journalistik aber keine Journalisten, in Russland gibt es umgekehrt Journalisten aber keine Journalistik. Das ist natürlich eine grobe Vereinfachung, aber tatsächlich gibt es in der Ukraine einen gewissen Respekt vor der Berufsgattung und deren Werten und über die soziale Verantwortung der Journalisten. In der Ukraine haben unabhängige Journalisten zu Zeiten des Maidan eine sehr wichtige Rolle gespielt. Dazu gehörten als Medium das unmittelbar zuvor von kritischen Journalisten gegründete Hromadske Televydenie (Bürger-TV), und zum Beispiel die Agentur Novi Region, die überraschenderweise in diesem Moment begann, kritisch und unabhängig Bericht zu erstatten. Die Agentur war bis dahin ein sehr erfolgreiches kremltreues Projekt, plötzlich hat sie eine Kehrwendung vollzogen.
Allgemein gibt es bis heute eine gewisse Dankbarkeit für das Engagement der Journalisten zu Zeiten des Maidan, aber über einzelne Journalisten hört man eher negative Meinungen, und das oft zu Recht. Korrupt, käuflich, einseitig, unprofessionell, so lautet das Credo. In Russland ist die Situation umgekehrt. Die Berufsgattung der Journalisten ist seit langem völlig im Verruf, aber einzelne Journalisten werden sehr geschätzt. Wir haben in beiden Ländern eine schwierige Situation, aber in Russland ist es schlimmer. Diese einzelnen Journalisten sind meinungsbildend für die kritische Minderheit, die Putin nicht unterstützt, aber umso mehr stehen sie im Rampenlicht und das bringt sie persönlich in Gefahr. In der Ukraine ist alles komplexer. Allen ist bekannt, dass einer der auslösenden Momente des Maidan der Aufruf des Journalisten Mustafa Nayem auf Facebook war, sich mit einer vollen Thermoskanne am zentralen Platz von Kiew zu treffen. Aber natürlich war der Maidan nicht das Werk von Journalisten. Es gibt heute in der Ukraine keinen Journalisten, der so massgeblich wäre, dass seine Ausschaltung für die Macht eine grundsätzliche Veränderung brächte. Aber somit fehlen uns auch Journalisten mit Vorbildcharakter. Auch unter dem aktuellen Regime müssen wir und auch ich persönlich für die freie Meinungsäusserung von Kollegen kämpfen, auch wenn wir deren Meinung überhaupt nicht teilen, wie zum Beispiel von Ruslan Kotsaba3.
A: Einige der Teilnehmer an unserem Treffen in Budapest veröffentlichen ihre Texte ausschliesslich auf Facebook. Was hältst Du davon?
MB: Die Sozialen Netzwerke haben das journalistische Handwerk verändert und die Berufsethik verwässert. Aber meine und die ältere Generation halten grösstenteils die Standards weiter ein, die uns von Propagandisten und PR-Leuten unterscheiden. Wenn diese Grundsätze verloren gehen, dann ist dies das Ende des Journalismus. Wir müssen das Handwerk schützen.
* Das Interview wurde ungegendert geführt. Wir haben es so belassen. Aus dem Text geht allerdings hervor, dass in der Regel auch Frauen gemeint sind. (Anm.d.R.)
- Maxim Butkevych ist freier Journalist und Menschenrechtsaktivist in Kiew.
- Im Oktober 2006 ermordete Journalistin und Menschenrechtlerin, die sich besonders für den Tschetschenienkrieg interessierte.
- Ukrainischer Fernsehjournalist und Blogger, der sich gegen die vierte Mobilmachungswelle in der Ukraine wandte, die Präsenz von russischen Soldaten im Donbas negierte und daraufhin im Moskauer Fernsehen gern gesehener Talkshow-Gast wurde. Er wurde wegen Hochverrat angeklagt und sitzt seit Februar 2015 in seiner Heimatstadt Ivano-Frankivsk in Untersuchungshaft.