Jean Ziegler – Bürger und Rebell

von Alexander Behr, EBF Österreich, 01.06.2019, Veröffentlicht in Archipel 282

Mit Jean Ziegler verbindet uns eine lange gemeinsame Geschichte, beginnend mit der Solidarität mit Geflüchteten aus Chile im Jahr 1973. Im April dieses Jahres feierte Jean Ziegler seinen 85. Geburtstag. Zu diesem Anlass veröffentlichte eine Gruppe Schweizer Autor·inn·en einen Sammelband mit über zwei Dutzend Beiträgen1. Neben Personen, die mit Jean Ziegler eine jahrzehntelange gemeinsame Geschichte verbindet, schrieben auch jüngere Autorinnen und Autoren. Wir bringen hier in zwei Teilen den Beitrag von Alexander Behr.

Die Kraft der kollektiven Intelligenz

Jean Ziegler hat Wien immer wieder besucht und mit seinem Denken und Wirken vielen Menschen in sozialen Bewegungen und in der Zivilgesellschaft, in fortschrittlichen Parteien, Gewerkschaften, Kirchgemeinden und Vereinen sowie an den Universitäten wichtige Denkanstösse geliefert. Unermüdlich streitet Jean Ziegler auch im österreichischen Radio, in Talkshows und Zeitungen für eine gerechtere Gesellschaft. Seine Bücher werden breit rezipiert und vor allem von jungen Menschen viel gelesen. Der Revolutionär müsse, sagt Jean Ziegler, Marx zitierend, in der Lage sein, das «Gras wachsen zu hören». Er oder sie muss also die gesellschaftsverändernden, emanzipatorischen Tendenzen zunächst analysieren und begreifen, danach verstärken und verknüpfen. Zwei seiner Interventionen in Wien vor einiger Zeit schienen von diesem Marx‘schen Leitsatz ganz besonders inspiriert zu sein – und waren somit für uns und unsere Stadt von besonderer Bedeutung. Es wäre zwar masslos übertrieben zu behaupten, dass in den letzten Jahrzehnten wesentliche revolutionäre Impulse ausgerechnet von Wien ausgegangen wären. Doch bei zwei Anlässen war unmittelbar spürbar, wie wichtig Zieglers Kritik im «Handgemenge» ist, mit der er seit so vielen Jahren in die öffentliche Debatte eingreift.

Ort der kritischen Wissens-produktion

Im November 2009 besetzten Studierende der Universität Wien den grössten Hörsaal der Universität, das Audimax. Damit protestierten sie gegen die Bologna-Reformen, die Beschränkungen des Hochschulzuganges und die neoliberale Zurichtung der Hochschulen. Wien war damals tatsächlich Ausgangspunkt für europaweite Studierendenproteste. Allein in Deutschland wurden nach der Besetzung des Wiener Audimax an über siebzig Hochschulen und Universitäten Hörsäle und weitere Räume besetzt. Jean, der für einen Vortrag nach Wien gereist war, erachtete es als selbstverständlich, sich mit den Protesten zu solidarisieren. Studierende, Lehrende und ausseruniversitäre Aktivistinnen und Aktivisten drängten sich in den bis auf den letzten Platz gefüllten Hörsaal. Zieglers Vortrag war einmal mehr mitreissend; seine Sprache präzise und detailreich, gleichzeitig verblüffend klar und schnörkellos. Eine kritische Universität, so Ziegler in seinem Vortrag, müsse die Waffenschmiede der analytischen Intelligenz sein. Intellektuelle sind Produzent·inn·en von symbolischen Gütern, also von Bewusstseinsinhalten. Universitäten sind der Ort, an dem der theoretische Klassenkampf geführt werden muss. Da die Errungenschaften der kritischen und freien Universität heute gefährdet sind, sei es unsere Aufgabe, gegen das Konkurrenzdenken zwischen den Studierenden anzukämpfen, denn dieses blockiere Lernprozesse und sei deshalb ein wesentliches Hindernis für die Herausbildung kollektiver Intelligenz. Gegenüber dem vorherrschenden, fraktionierten Wissen, das es verunmöglicht, Kausalzusammenhänge zu erforschen, müssten wir die Vielfachkrise unserer Gesellschaft analysieren und Alternativen zum Kapitalismus entwickeln. Es war und ist die Leidenschaft seines gesprochenen und geschriebenen Wortes, das so viele von uns begeisterte und nach wie vor begeistert. Jean Ziegler gelingt es stets, eine Sprache zu finden, die in der Analyse nicht unterkomplex oder – im schlechten Sinn des Wortes – populistisch ist. Gleichzeitig spricht und schreibt Ziegler nie so abgehoben oder verschwurbelt, dass seine Zielsetzung, nämlich das Wecken der kritischen Vernunft bei den Leserinnen und Lesern, verfehlt wird. Kurz: Jean Zieglers Werk ist für kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie für Aktive in den sozialen Bewegungen unverzichtbar. Bei unzähligen Diskussionsveranstaltungen, Fernseh- und Radiosendungen und in persönlichen Gesprächen hat Jean Ziegler häufig zitiert, was ihm einst Che Guevara, dessen Fahrer er im Jahr 1964 während der «Zuckerkonferenz» in Genf war, mit auf den Weg gab. «Comandante, ich will mit euch gehen», hatte der junge Ziegler gesagt und erhielt von Che prompt eine gewaltige Abfuhr. Hier, im Herzen der Bestie, solle er kämpfen, und nicht an Orten und unter Bedingungen, für die er in keinster Weise geeignet sei. Jeder, so das Credo des Comandante, müsse dort kämpfen, wo er oder sie sei. Ziegler betonte immer wieder, wie enttäuscht und gekränkt er damals war – doch die Aufforderung des Che öffnete für ihn ein riesiges Handlungsfeld. Ziegler begab sich auf den Weg der, wie er es nennt, «subversiven Integration» in die Institutionen. Denn ganz offensichtlich – so auch meine Überzeugung – reicht es für eine sozial-ökologische Transformation, ja für eine Revolutionierung der Gesellschaft nicht aus, einen ausschliesslich ausserinstitutionellen Kampf zu führen. Es geht darum, die gesellschaftliche Hegemonie zu erkämpfen. Dabei müssen verschiedene Strategien produktiv zusammenwirken: soziale Bewegungen, NGOs, progressive Parteien und Kirchengemeinden, Menschen in Gewerkschaften und staatlichen Apparaten und auch progressive Unternehmerinnen und Unternehmer müssen in einer Art innerlinken Arbeitsteilung Synergien entwickeln. In dieser Arbeitsteilung spielen zweifelsohne die Universitäten bis heute eine wichtige Rolle. Auch wenn sie vom Gift des Neoliberalismus angegriffen werden, erweisen sie sich rund um den Globus immer noch als Hort des kritischen Denkens. Die Universität müsse, so Ziegler in seiner Rede im Audimax vor rund zehn Jahren, junge Menschen mit Waffen ausstatten. Diese Waffen seien die analytische Vernunft und das kritische Denken. Allein diese/sie wären in der Lage, Transparenz in angeblich naturgesetzlich legitimierten Herrschaftssystemen zu schaffen und diese letztlich radikal zu verändern. Jean Ziegler begreift auf herausragende Weise, dass Gesellschaftskritik – in den Worten von Marx – als «Kopf der Leidenschaft» entwickelt werden muss und nicht als blosse «Leidenschaft des Kopfes» (Marx 1843/44: 380). Denn Kritik wurzelt immer auch in einem Affekt, nämlich dem Affekt der Empörung über die Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse; Kritik vermag somit anzuregen. Ihr Nein ist niemals gleichgültig. Jean Ziegler brachte dies im Audimax und in vielen weiteren Reden stets auf den Punkt.

Imperiale Lebensweise

Der analytische und politische Begriff der «imperialen Lebensweise», der von Ulrich Brand und Markus Wissen geprägt wurde, steht in der kritischen Denk- und Handlungstradition Jean Zieglers. Er besagt im Wesentlichen, dass die meisten Menschen im Globalen Norden, also in den reichen, westlichen Industrienationen, sowie eine wachsende Zahl an Menschen in den sogenannten «Schwellenländern», auf Kosten des grössten Teils der Menschheit und der Umwelt leben. Um die «imperiale Lebensweise» zu stabilisieren, werden systematisch Menschenrechte verletzt, Bauern und Bäuerinnen sowie indigene Gruppen von ihrem Land vertrieben, die natürlichen Ressourcen werden ausgeplündert und der Klimawandel weiter angeheizt. All diese Dinge geschehen nicht «zufällig», sie sind auch nicht allein der Habgier und Machtbesessenheit der herrschenden Eliten zuzuschreiben: Es handelt sich vielmehr um ein Strukturmerkmal des Kapitalismus. Der Wachstumsimperativ, der ihm innewohnt, nimmt keine Rücksicht auf Menschenrechte, Umwelt und Klima. Karl Marx schrieb im ersten Band des Kapitals: «Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter» (Marx 1867: 530). Für sehr viele Menschen – Jean Ziegler wird nicht müde, in seinen Worten darauf hinzuweisen – bedeutet die Persistenz und Vertiefung der imperialen Lebensweise eine fortschreitende Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und eine Verfestigung von Abhängigkeitsverhältnissen. Kapitalistische Globalisierung und die globale Ausweitung der imperialen Lebensweise erhöhen den Bedarf an natürlichen Ressourcen immer weiter. Die Konkurrenz um Land, etwa in Afrika, nimmt zu. Damit stehen Profitinteressen vor der Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung. Ökoimperiale Spannungen verschärfen sich, und in dem Mass, wie sich die imperiale Lebensweise ausbreitet und das Aussen, auf das sie angewiesen ist, schrumpft, schaufelt sie sich ihr eigenes Grab. Die imperiale Lebensweise ist aber auch eng mit den Konsumgewohnheiten in den Industrie- und Schwellenländern verknüpft. Diese Konsumgewohnheiten sind nicht vom Himmel gefallen. Sie sind vielmehr das Produkt sozialer Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Wie kam es dazu? Um ihre revolutionären Bestrebungen zu befrieden, gaben die Herrschenden den Forderungen des europäischen Industrieproletariats nach langen und entbehrungsreichen Kämpfen in Teilen nach: Der Manchesterkapitalismus und mit ihm die schrecklichen Zustände, wie sie Friedrich Engels in seiner berühmten Studie zur Lage der englischen Arbeiterklasse beschrieben hat, sind in den Ländern des Globalen Nordens weitgehend verschwunden, wenn auch besorgniserregende Tendenzen der Rückkehr solcher Arbeitsverhältnisse zu beobachten sind, vor allem für Migrantinnen und Migranten. Rekurrierend auf den italienischen Theoretiker Antonio Gramsci vertrete ich die Auffassung, dass die Hegemonie der kapitalistischen Wirtschaftsweise in den westlichen Ländern nur stabilisiert werden konnte, indem den Forderungen der organisierten Arbeiter·innenklasse nach Lohnerhöhungen und halbwegs erträglichen Arbeitsbedingungen schrittweise stattgegeben wurde. Ein immer grösserer Teil der Bevölkerung dieser Regionen konnte nun am Wohlstand teilhaben: Autos, ein Eigenheim mit Fernseher, Kühlschrank und Waschmaschine, Flugreisen, erhöhter Fleischkonsum sowie Obst und Gemüse zu jeder Jahreszeit wurden für die nordamerikanischen und europäischen Massen seit dem Ende der 1950er Jahre üblich. In jüngster Zeit kommen dazu noch Handys, Computer und andere elektronische Geräte, deren Lebensdauer meist relativ kurz ist. Die Arbeiter·innenklasse in den sogenannten «entwickelten Ländern» konnte also materielle Verbesserungen erkämpfen, war aber gleichzeitig mit einer sich akzentuierenden Entfremdung in der Arbeitswelt und autoritären Geschlechterverhältnissen konfrontiert – Entwicklungen, die vor allem von Intellektuellen wie Ernst Bloch, Silvia Federici und der Generation der «68er» thematisiert wurden. Die materiellen Errungenschaften der europäischen Arbeiter·innenklasse hatte aber einen noch viel fataleren Preis: Die Ausbeutung und Knechtung des Südens wurde auf perfide Art weiter intensiviert. Der Wohlstand der Massen der Ersten Welt ruht also strukturell auf dem Rücken der Dritten Welt, obwohl Sklaverei und Kolonialismus formell nicht mehr existieren. Seit den 1970er Jahren sind es Strukturanpassungsprogramme, Verschuldung, Land Grabbing, die einseitige Abhängigkeit vom Export fossiler Energieträger und Mineralien sowie die Auslagerung der dreckigen, gefährlichen und gesundheitsgefährdenden Arbeiten in Sweatshops, die die Länder des Südens beuteln. Für einen Teil der Bevölkerung konnte zwar ein gewisser materieller Wohlstand generiert werden. Der Aufstieg der Mittelschichten in den Schwellenländern vertiefte allerdings die Spaltung der Gesellschaften bis heute weiter – die Wahl des ultrarechten Kandidaten Jair Bolsonaro in Brasilien verdeutlicht diese Tendenz. Dazu kommen die sich verschlimmernden Auswirkungen des Klimawandels, befeuert vom exzessiven CO2-Ausstoss der Industrie- und Schwellenländer. Um die ökologischen Grenzen des Planeten nicht zu überschreiten, dürfte jedes Individuum heute nur mehr 2,5 Tonnen CO2 pro Jahr verursachen. Der Durchschnitt in Mitteleuropa liegt allerdings heute bei rund 11 Tonnen pro Jahr! Gleichzeitig stehen wir vor der fatalen Situation, dass die Wohlstandsinseln mit militärischer Gewalt vor Kriegsflüchtlingen, Armutsmig-rant·inn·en und den Betroffenen des Klimawandels verbarrikadiert werden. Zehntausende Menschen sterben deshalb auf ihren Fluchtrouten nach Europa oder in die USA.

Die Rolle der Sozialdemokratie

Bemerkenswert und besonders tragisch in diesen gesellschaftlichen Prozessen ist die Rolle der Sozialdemokratie, auf die Jean Ziegler immer wieder verweist. Es gelang ihr zwar nach entbehrungsreichen Kämpfen, die Interessen der europäischen Arbeiterinnen und Arbeiter in das westliche Fortschrittsmodell einzubinden. Sie versäumte es aber auf katastrophale Weise, einen wirklichen Wandel in den Köpfen herbeizuführen. Die Sozialdemokratie blieb im fordistischen Klassenkompromiss, der Idee des Nationalstaats und seiner identitären Bindung verhaftet. So fehlt in den Gesellschaften des Westens heute weitgehend ein internationalistisches, ja globales Bewusstsein. Ganz im Gegenteil: Für die Aufrechterhaltung der Konsumgesellschaft in den westlichen Ländern ist die neokoloniale Zurichtung unzähliger Länder des Südens eine notwendige Voraussetzung. Genau dadurch wird die Herausbildung eines gemeinsamen Klasseninteresses verhindert. Die Spaltung der globalen Arbeiter·in-nenklasse wurde zudem durch die Ideologie des Rassismus noch ungemein vertieft. So schrieb auch Jean Ziegler in seinem im Jahr 2015 erschienenen Buch «Ändere die Welt!»: «Die Integration der europäischen Arbeiter in die Strategie und das imperialistische Projekt war der Tod aller Theorie, aller praktischen Solidarität mit den unterjochten Klassen der Dritten Welt» (S. 120). Für diesen fatalen Fehler zahlen die sozialdemokratischen Parteien aktuell einen hohen Preis. Anstatt sich mit Geflüchteten und Migrantinnen und Migranten aus den Ländern des Südens zu solidarisieren, lassen sich immer mehr Menschen von der Angst anstecken, die von rechten und rechtsextremen Parteien geschürt wird. Die sozialdemokratischen Parteien setzen dieser Tendenz nichts entgegen – im Gegenteil: Sie bewegen sich selbst immer weiter nach rechts. Viele Menschen stimmen auf diese Weise nicht nur für eine menschenverachtende, nationalistische Politik, sondern im Grunde auch gegen ihre eigenen Interessen. Denn der gesellschaftliche Reichtum wird nicht nur vom Süden in den Norden transferiert, sondern seit mehreren Jahrzehnten innerhalb der reichen Gesellschaften auch von unten nach oben. Die Sozialdemokratie ist hier willfährige Komplizin. Dagegen müssen wir uns organisieren und wieder für die Herausbildung eines internationalistischen Bewusstseins kämpfen. Es ist des Weiteren äusserst wichtig, durch partizipative und differenzierte Bildungsarbeit im Alltagsverstand der Menschen das Wissen zu verankern, dass die strukturellen Ursachen für Flucht und Migration eng mit der imperialen Lebensweise im Westen verwoben sind. Allgemeingut werden muss das Wissen, dass auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen ein irrationales, profit- und wachstumsgetriebenes Wirtschaftssystem wie der Kapitalismus in den Untergang führt. Last, but not least gilt es immer wieder zu unterstreichen, dass heute niemand mehr hungern oder materielle Not leiden müsste. Jean Ziegler ist meiner Ansicht nach einer der fundiertesten Kritiker der heutigen «imperialen Lebensweise», obwohl er den Terminus – bislang – nicht in sein Begriffsinstrumentarium eingeführt hat.

Im Jahr 2012, drei Jahre nach der Besetzung des Audimax durch die Studierenden der Universität Wien, erlebte Österreich eine bemerkenswerte Welle an Protesten von Geflüchteten. Der Protest ging vom Anhaltelager Traiskirchen aus, das südlich von Wien liegt. Mehrere Hundert Geflüchtete, die meisten aus Afghanistan, Pakistan und Nordafrika, organisierten einen Protestmarsch ins Zentrum Wiens. Die Forderungen an die Regierung lauteten: menschenwürdige Unterbringung, Anerkennung ihrer Fluchtgründe und schliesslich das Recht, einer legalen Arbeit nachgehen zu dürfen. Auch wurden die Abschaffung der Dublin-II-Verordnung und die Löschung der Fingerabdrücke gefordert.

Solidarität mit den Geflüchteten in der Votivkirche

Am 18. Dezember 2012 beschlossen die Geflüchteten in einer gemeinsam abgestimmten Aktion, die Votivkirche, nach dem Stephansdom die zweitgrösste Kirche Wiens, zu besetzen. Jean Ziegler, der für eine Diskussionsveranstaltung im Burgtheater nach Wien gekommen war, solidarisierte sich ohne grosses Federlesen mit den Protestierenden und stattete ihnen im Januar 2013 einen Besuch in der bitterkalten Kirche ab. Ausgerüstet mit einem Ausdruck der «Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte» aus dem Jahre 1948 erklärte er den Protestierenden wie auch den anwesenden Journalistinnen und Journalisten die fundamentalen und unteilbaren Rechte, auf die die Geflüchteten Anspruch haben. Ziegler unterstrich insbesondere den Gemeinschaftssinn dieser kollektiven Aktion. Menschen aus unterschiedlichen Weltgegenden könnten sich horizontal organisieren und gemeinsam für ihr Recht auf Asyl und Schutz vor Verfolgung sowie für ein menschenwürdiges Leben kämpfen.

Entgegen der scheinheiligen Einteilung von Menschen in Kriegsflüchtlinge und sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge fordert Jean Ziegler seit jeher Solidarität mit allen Verfolgten weltweit. Denn die ökonomische Ausbeutung der Länder des Südens und vor allem die Realität des Klimawandels, dessen Auswirkungen sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch ungemein verstärken werden, macht eine Unterscheidung in unterschiedliche Kategorien von Geflüchteten mehr und mehr unmöglich. Der Begriff der imperialen Lebensweise bietet einen Analyserahmen für diese Zusammenhänge.

Der kongolesische Autor und Aktivist Emmanuel Mbolela drehte jüngst in einem Interview den pejorativen Begriff des «Wirtschaftsflüchtlings» (migrant économique) um und sprach von «persécutés économiques», also von «wirtschaftlich Verfolgten». Denn gerade der Kongo, mit dem Jean Ziegler seit Beginn seiner beruflichen Laufbahn eng verbunden ist, steht paradigmatisch für die Ununterscheidbarkeit von kriegsbedingten und wirtschaftsbedingten Fluchtursachen. Darauf geht Emmanuel Mbolela auch in seinem Buch «Mein Weg vom Kongo nach Europa», für das Jean Ziegler ein aufrüttelndes Vorwort schrieb, ausführlich ein (vgl. Mbolela 2017).

Kongo

Ich hatte das grosse Privileg, Emmanuel im Jahr 2008 in Marokko kennenzulernen und später sein Buch von französisch auf Deutsch übersetzen zu dürfen. Emmanuel Mbolela studierte an der Universität Mbujimayi im Kasai und engagierte sich bereits als Schüler im Widerstand gegen die Diktatur von Mobutu. Später schloss er sich dem Widerstand gegen das Kabila-Regime an. Nur knapp entging Emmanuel den Schergen des kongolesischen Geheimdienstes. Sein Fluchtweg führte ihn ins benachbarte Brazzaville, dann nach Kamerun, Nigeria, Benin, Burkina Faso, Mali, Algerien und endlich Marokko, wo er im Jahr 2005 die erste Organisation subsaharischer Geflüchteter gründete. Nach mehreren Jahren konnte Emmanuel mit Hilfe des UNHCR nach Holland ausreisen. Seither haben Emmanuel und ich mehrere hundert Lesungen im gesamten deutschsprachigen Raum absolviert und arbeiten zusammen im Solidaritäts-Netzwerk Afrique-Europe-Interact. Der durchschlagende Erfolg des Buches ist mit Sicherheit der konsequenten und unkorrumpierbaren kämpferischen Haltung von Emmanuel Mbolela zu verdanken. Ganz bestimmt hat das Vorwort von Jean Ziegler aber auch dazu beigetragen, dass wir diese wichtige Arbeit bis heute fortführen können. Die Solidarität mit den sozialen Bewegungen im Kongo ist jedenfalls nach wie vor absolut notwendig. Seit der Berliner Afrikakonferenz im Jahr 1885 ereignen sich in dem riesigen Land, das etwa fünf Mal so gross wie Deutschland ist, aufgrund seines Ressourcenreichtums schreckliche Menschenrechtsverletzungen. Sie begannen mit der Ausbeutung von Kautschuk und wurden fortgesetzt mit dem Abbau von Gold, Diamanten, Kupfer, Uran und Öl bis zu den für die heutige elektronische Industrie so wichtigen Rohstoffen Coltan oder Kobalt. Jean Ziegler widmete mit «Das Gold von Maniema» dem Kongo seinen bisher einzigen Roman. Darin arbeitete er die Ereignisse in den Jahren nach der Ermordung des grossen Hoffnungsträgers Patrice Lumumba auf; also die Zeit, die er selbst als junger UNO-Mitarbeiter im Kongo verbrachte. Lumumba wurde nachweislich mit Unterstützung belgischer Militärs und des amerikanischen Geheimdienstes CIA ermordet. Bis heute kommt der Kongo nicht zur Ruhe: Das Regime von Joseph Kabila unterdrückt brutal jegliche Opposition, verhindert systematisch freie Wahlen und sorgt für den ungehinderten Abfluss der wertvollen Rohstoffe, der meist über das östliche Nachbarland Ruanda erfolgt. Am Beispiel des Kongo sieht man, wie sich die Auswirkungen der imperialen Lebensweise und die Frage von Flucht und Migration zu einem in sich verzahnten Problem verbinden. Aus den Provinzen Kivu, Ituri und Maniema fliehen die Menschen zu Hunderttausenden vor einem Krieg, der vor allem aus wirtschaftlichen Gründen geführt wird. Der grösste Teil von ihnen flüchtet im Übrigen in die umliegenden Nachbarländer und nicht bis nach Europa – ein Umstand, der in der rassistisch aufgeladenen Diskussion heute geflissentlich vergessen wird. Unsere Position muss hier klar sein: Solange dieses wachstumsgetriebene Wirtschaftssystem besteht, in dem die Profitinteressen von privaten Konzernen und die Partikularinteressen von einzelnen Staaten und Machtblöcken über den fundamentalen Menschenrechten stehen, werden Menschen weiterhin fliehen. Ein menschenwürdiges Leben wird ihnen vor Ort verunmöglicht; sie werden aus politischen, ethnischen, religiösen oder eben wirtschaftlichen Gründen vertrieben.

Die Frage der Inkarnation

Laut dem Wirtschaftsmagazin Forbes besassen die acht reichsten Männer der Welt im Jahr 2016 zusammen mehr als 426 Milliarden US-Dollar. Das ist laut Weltbank mehr Geld, als zum Beispiel in Österreich in einem ganzen Jahr erwirtschaftet wird. Und gemäss der NGO Oxfam ist es mehr, als die gesamte ärmere Hälfte des Planeten besitzt, also 3,6 Milliarden Menschen. Seit dem Jahr 2015 besitzen ein Prozent der Weltbevölkerung mehr als alle anderen Menschen zusammen. Die dahinterliegenden wirtschaftlichen Konzentrationsprozesse sind nicht zum Stehen gekommen – ganz im Gegenteil. Erst vor kurzem übernahm Bayer den Saatgut- und Pestizid-Giganten Monsanto. Die desaströsen Konsequenzen der daraus resultierenden Marktkonzentration sind jetzt schon absehbar: Bauern und Bäuerinnen werden immer mehr in die Abhängigkeit einer auf maximalen Profit getrimmten Megamaschine getrieben.

Gegenüber dieser fatalen Realität beschäftigt Jean Ziegler stets die Frage der Inkarnation einer politischen Widerstandsidee. Nicht Fantasien und Utopien würden ihn interessieren, vielmehr beschäftige ihn, was wirklichkeitsverändernd umsetzbar sei und unter welchen Bedingungen eine Idee zur materiellen Kraft werde. Wie wird ein Wille, eine Idee zur sozialen Bewegung? Wie kann es gelingen, dass kritische Vernunft gesellschaftlich wirkmächtig wird? Ziegler gibt auch gleich die Antwort: Die Inkarnation findet nur durch soziale Beziehungen statt. Kritische Intellektuelle erreichen also ihre geschichtliche Bedeutung nur durch ihre Allianzen. Daraus resultiert Zieglers Anspruch, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssten die organischen Intellektuellen der weltweiten Widerstands- und Befreiungsbewegungen sein.

Wer Jean Ziegler reden gehört hat, hat sich einen weiteren Satz eingeprägt: Sich auf seinen Mentor Jean-Paul Sartre berufend, sagt Ziegler häufig: «Wer die Menschen liebt, muss sehr stark hassen, was sie unterdrückt.» Was, wohlgemerkt, nicht wer. Denn es sind die strukturellen Gegebenheiten des globalen Kapitalismus, des Rassismus und andere Unterdrückungsmechanismen, die wir bekämpfen müssen. Ein Kampf, der sich dauerhaft militant gegen bestimmte Gruppen von Personen richtet, wird dieselben Verwerfungen hervorrufen, die wir eigentlich aus der Welt schaffen wollen. Wir leben – und darauf besteht Ziegler – in einem Universum struktureller Gewalt. Das heisst nicht, dass wir nicht klar benennen können, welche konkreten Institutionen und welche Menschen, die diese repräsentieren, von den vorherrschenden Strukturen profitieren. Letztendlich geht es aber um eine lebenswerte Welt für alle, innerhalb der ökologischen Grenzen dieses Planeten. Von Ausbeutungsstrukturen sind Menschen in höchst unterschiedlichem Grad betroffen, was uns indessen eint, ist die Entfremdung, die der Kapitalismus uns tagtäglich aufoktroyiert. Das Mysterium der Geburt, so Ziegler, ist viel grösser als das des Todes: Warum bin ich hier geboren und nicht dort, warum mit dieser Hautfarbe, diesem Geschlecht, in diese Klasse und so weiter? Von den Hunderten Millionen Opfern des Hungers und der ihn verursachenden «kannibalischen Weltordnung», wie Ziegler sie nennt, trennt uns nur der Zufall der Geburt.

Karl Marx dachte, dass der objektive Mangel noch lange nicht überwunden werden würde; dass also das Ungleichgewicht zwischen den ununterdrückbaren Bedürfnissen der Menschen und den verfügbaren Gütern noch lange dauern würde. Der objektive Mangel begleitete die Menschheit tatsächlich über lange Zeit. Doch seit mehreren Jahrzehnten ist es aufgrund der Entwicklung der Produktivkräfte zum ersten Mal in der Geschichte möglich, die materiellen Grundbedürfnisse jedes Menschen auf dieser Welt zu befriedigen. Es wäre also möglich, die materiellen Bedingungen für die individuelle Emanzipation und Entfaltung zu schaffen. Das immaterielle Unglück, der Tod, die Trauer, der Liebeskummer, die Einsamkeit etc. werden wohl noch lange bleiben. Doch was wir klar wissen und was Jean Ziegler immer wieder betont, ist, dass die ökonomische, politische und soziale Weltordnung heute nicht nur mörderisch, sondern komplett absurd ist – sie tötet, aber sie tötet ohne Notwendigkeit.

«Wir haben nicht mehr viel Zeit», sagte Rudi Dutschke im Jahr 1968 beim Vietnam-Kongress in Berlin. Aus seiner Sicht gab es damals eine unmittelbare revolutionäre Dringlichkeit, auf die die Versammelten reagieren müssten. Heute, so scheint es, hat sich die Dringlichkeit, die Gesellschaft zu verändern, potenziert und auf ein völlig neues Niveau gehoben: Denn es bleibt nicht viel Zeit, um die irreversiblen Schäden einzudämmen, die der global entfesselte Kapitalismus verursacht und die bei einem weiteren Business as usual in dramatische sozial-ökologische Krisen münden könnten. In meiner täglichen Arbeit war und ist das Wirken von Jean Ziegler stets eine zentrale Motivations- und Inspirationsquelle. Ich möchte ihm zum Schluss meines Beitrags meinen grossen Dank aussprechen: für sein unermüdliches Engagement, für seine ungeheure Schaffenskraft, für seine analytische Stärke, für seine feine Ironie und nicht zuletzt für seine herzliche, fröhliche und humorvolle Art. Ich wünsche ihm und uns von ganzem Herzen, dass er noch viele Jahre lang in der öffentlichen Diskussion intervenieren wird und dass er uns noch viele weitere Bücher schenkt.

Alexander Behr, EBF Österreich

  1. Jean Ziegler: citoyen et rebelle. Der lange Weg von Thun nach Genève pour un monde plus juste. Roland Herzog, Margret Kiener Nellen, Edi Lehmann Silva Lieberherr, Ueli Mader (Hrsg.) edition 8, 2019. CHF 23.00, Euro 19.80 Quellen und Literatur: Marx, Karl (1843/44 und 1976): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Marx-Engels-Werke. MEW 1. Berlin: Dietz.