In den italienischen Medien findet die wechselhafte Entwicklung der Landwirtschaft nur wenig Beachtung. Bedeutet dieses Schweigen, dass in der schönen neuen (Landwirtschafts-) Welt alles zum Besten steht? Die Artikel in den letzten zwei Nummern des Archipel weisen auf zahlreiche Probleme und Widersprüche hin. Dieser Beitrag stellt rebellische Initiativen für eine andere (ländliche) Entwicklung vor.
Gleichgültigkeit oder Zensur, die Verschlimmerung der Krise im Landwirtschaftssektor scheint die ver-antwortlichen Meinungsmacher_in-nen nicht besonders zu stören. Aber immer mehr Vereine, Tausende von Landarbeiter_innen, Konsument_in-nen, die auf eine nachhaltige (oft biologische) Landwirtschaft Wert legen und Umweltorganisationen leisten gegen dieses auf intensive Produktion beruhende System Widerstand. In dieser Widerstandsfront finden sich zahlreiche Initiativen wieder. Diese mobilisieren sich immer mehr in ganz Italien für eine «andere Landwirtschaft». Sie treten in Erscheinung im Kampf um die Erhaltung von Land (Zugang zu Landwirtschaftsböden, Widerstand gegen den Ausverkauf von Landwirtschaftsland im öffentlichen Besitz, Schaffung von Fonds für Landkauf und Kreditvergabe). Produktionskooperativen und Verarbeitungseinheiten werden aufgebaut. Die biologische Landwirtschaft wird von dieser Widerstandsfront gefördert, allerdings mit dem Vorbehalt, dass sie nicht in die industrielle Bioproduktion abgleitet. Lokale Märkte und neue Formen regionaler Verkaufsstrukturen werden geschaffen. Die Initiativen setzen sich auch für die Erhaltung der Biodiversität ein, indem sie alte Getreide- und Gemüsesorten und erneuerbares Saatgut benutzen.
Die globale Revolte der Schäfer_innen
Die bäuerliche Welt und die betroffenen Kreise reagieren auf die Krise manchmal auf radikale Weise und scheuen sich nicht, da und dort auch die Legalität zu überschreiten. Zum Beispiel die MPS (Bewegung der sardischen Schäfer) und die Forcone in Sizilien: zwei Widerstandsbewegungen gegen die nationale und europäische Landwirtschaftspolitik, welche die Verarmung von Süditalien und speziell der Inselgebiete noch verstärkte. Die Revolte der sardischen Schäfer_innen, ursprünglich aus der traditionellen Unabhängigkeitsbewegung entstanden, entwickelte sich in den 1990er Jahren als Antwort auf die Trägheit der Bauerngewerkschaft Coldiretti. Die neue Bewegung politisierte sich zusehends und veranstaltete zahlreiche Demonstrationen auf der Insel (Cagliari, Sassari, Nuoro, Oristano, Tramatza, Carbonia, Olbia ...). Seit 2010 nahm die Rebellion die verschiedensten Formen an: Überfälle, Blockierung von Gebäuden der öffentlichen Verwaltung, Landbesetzungen, Blockaden von Strassen, Flughäfen (Cagliari-Elmas im Jahre 2010) und Häfen (Olbia, im Juli 2012). Die Bewegung ist nun auch ausserhalb der Insel aktiv: im Mai 2012 in Civitavecchia und Rom, wo die Ordnungskräfte die Demonstration brutal unterdrückten; im September 2012 in Rom gemeinsam mit den Minenarbeitern von Sulcis und in Brüssel, wo ihre Delegation mit aller Kraft die benachteiligte und vernachlässigte sardische Ökonomie verteidigte.
Die Forderungen dieser Bewegung sprengen die Themen des gewerkschaftlichen Rahmens wie Einkommen und Löhne, Konkurrenz mit vom Kontinent importierten Produkten (vor allem Käse und Fleisch), Preissturz von lokalen Produkten wie Milch und Lammfleisch, Transportkosten, Privatisierung und Verkauf von Land (dismissioni). Sie prangern auch das Übergewicht des Tourismus an, die Abgaben und Steuern (13 Milliarden €), die kärglichen Subventionen und die nicht eingehaltenen Versprechen (1000 Milliarden Lire im Jahre 1980). Von 170‘000 Unternehmen auf der Insel sind 70‘000 verschuldet. Die MPS beteiligt sich auch an der Aktion, die Misswirtschaft des Programms für ländliche Entwicklung und die Korruption der Funktionär_innen öffentlich zu machen; sie bereitet eine Reihe von Aktionen vor der Kommission für die Landwirtschaftsreform 2014/17 in Brüssel vor. Sie beteiligte sich auch am Referendum vom Mai 2011 zur Verhinderung des Baus eines Atomkraftwerks (98% stimmten gegen den Bau), und sie setzt sich für die Revision des Landbesitzes der riesigen Militärzone von Salto di Quirra ein. Die Bewegung bemüht sich, die widerständigen Kräfte in einem Block zu vereinen: die Bauern und Bäuerinnen, die Hand-werker_innen, die Händler_innen, die Transportunternehmer_innen, die Minenarbeiter von Surgis und die Werktätigen von Alcoa (einer amerikanischen Gesellschaft, weltweit der drittgrösste Produzent von Material aus Aluminium) und die Student_innen. Diese Zusammenarbeit führte zur Schaffung der «Consulta revoluzionara», ein Forum inspiriert von den Ideen Gramscis, einer der Gründer der kommunistischen Partei Italiens; ziviler Ungehorsam gegen die Verschuldung (no debito), die Steuern (no equitalia) und gegen den Bankrott und die Enteignungen. Produktionskooperativen und Verarbeitungseinheiten werden entwickelt, nach dem Modell des Kontinents, um die Wirtschaft von Sardinien zu entkolonisieren.
Proteste mit der grossen Gabel
Weiter südlich, in Sizilien, entstand die Bewegung «Forcone» (die grosse Gabel), mit dem symbolischen Emblem der früheren Bauernrevolten, die in der Vergangenheit von der Zentralmacht brutal unterdrückt wurden. Schon im November 2011 ereigneten sich sporadisch Demonstrationen (Arbeitsniederlegungen, Hungerstreik). Ab Januar 2012 strukturierte sich der Widerstand in den grossen Agglomerationen der Insel, Siracusa, Messina, Palermo und Catania. Der harte Kern der Organisationen «Forza d’Urto» und «Alias» suchten die direkte Auseinandersetzung mit den Ordnungskräften. In jenem Januar lähmte die Mobilisierung von Tausenden von Bauern und Bäuerinnen, Viehzüchtern, Lastwagenchauffeuren, Händler_innen und Bürger_innen die sizilianische Ökonomie; sie protestierten gegen die Steuern, vor allem gegen die IMU (Steuer auf Immobilienbesitz). Mit Strassensperren, der Blockade von Hafenanlagen und vom Schiffsverkehr in der Meerenge von Messina, der Stillegung der Raffinerien (40% des italienischen Treibstoffs), wollte man die regionalen und nationalen Instanzen unter Druck setzen. Im Juli 2012 versuchten Kommandos die Revolte von Sizilien auf Italien auszuweiten. Als sie in Kalabrien Strassensperren errichteten (Villa San Giovanni), wurden sie unverzüglich von der Polizei von Reggio Calabria und den Carabinieri zurückgedrängt. Das Schweigen der grossen Medien über den Einfluss dieser Rebellion und die offizielle Beurteilung dieser Bewegung durch die Regierung, die von antidemokratischem Populismus, der Kollusion mit den Grossgrundbesitzern und der Mafia im Gemüse- und Obstsektor spricht, schränkten bis jetzt die Schlagkraft der Revolte stark ein. Die Verhaftung von mehreren Mitgliedern der Transportmafia, die sich an den Aktionen beteiligten, schwächte die politische Glaubwürdigkeit des Projekts. Ob es sich um Zufall oder eine absichtliche Provokation handelte, bleibt unklar. Zudem kam es nach den Landbesetzungen auch zu Besetzungen von Gemeinden. Und von den Ermässigungen auf Treibstoff, Steuern und Abgaben profitieren auch die wohlhabenderen Schichten der Bevölkerung.
Eine progressive Bewegung?
Die Führer_innen der Bewegungen verweigern jedoch nach wie vor jegliche politische oder mafiöse Einmischung und bleiben bei ihren wichtigsten Forderungen. Es ist sicher bezeichnend, dass linke Kräfte diese Dynamik unterstützen, z.B. Il Fatto Quotidiano, Il Manifesto und auch die Anhänger der Legambiente und Bandiera rossa (kommunistischer Hintergrund). Eine Forscherin der Universität von Cosenza, Ada Cavazzani, Autorin verschiedener Studien über die landwirtschaftliche Problematik1, beurteilt die sizilianische Initiative insgesamt als progressiv. Ihrer Meinung nach wurde diese Revolte nach reiflichen Überlegungen, wegen der von der Regierung verursachten sich verschlechternden sozialen Lage, angezettelt.
Das sind die Forderungen der Bewegung: Verbesserung der Löhne der Landarbeiter_innen; die Verpflichtung, in Schulen und Spitälern sizilianische Produkte einzukaufen; Einhaltung der Tarifverträge, Verringerung von Steuern und Abgaben, Zugang zu Krediten, Verringerung der Treibstoffpreise, Revision der Versicherungen gegen Naturkatastrophen, Kontrolle der europäischen Subventionsgelder zur Rettung von bankrotten Unternehmen. Eine drastische Reform der europäischen Agrarpolitik wird eingefordert: Einfuhrverbot von Getreide, Speiseöl, Obst und Gemüse aus anderen Ländern. Die Forconi arbeiten im Augenblick einen Aktionsplan aus, um die Zwangsverkäufe von staatlichem Landwirtschaftsland durch die Regierung Monti zu verhindern. Der sardische und sizilianische Widerstand könnte das krisengeschüttelte Italien aus der allgemeinen Lethargie wach rütteln.
Ein wachsendes Netzwerk
Bei den meisten Streitobjekten, vor allem bei Landwirtschaftsland, wird oft den Verhandlungen statt der direkten Konfrontation der Vorzug gegeben. Dies ist auch der Fall für die «Campagna per l’agricoltura» und viele andere Initiativen, die sich in sozialen Netzwerken strukturieren und über Internet mobilisieren (wie zum Beispiel: Salviamo il paesaggio, difendiamo i territori, stop al consumo di territorio, Terre bene commune, Il demanio e tuo Occupa tene, Unimondo ...). Was auf den ersten Blick bunt durcheinandergewürfelt erscheint, erweist sich als ein Bündel von möglichen Lösungen als Antwort auf den Niedergang der traditionellen Landwirtschaft. Zudem schafft dieses aktive Netzwerk, das sich für eine Landwirtschaft einsetzt, die sich von den industriellen Zwängen befreit hat (Konzentration, Monokulturen, Übermechanisierung, Grossverteiler), eine starke Synergie. Es verbindet alle Regionen, über zwanzig Vereine und NGOs, die sich oft auf lokaler Ebene gemeinsam organisieren (Piemont, Toscana, Latium ...): die AIAB (Verein für biologische Landwirtschaft), die regionale Rete für Bio, die ARI (Verein für ländliche Gebiete Italiens), das CIC (Internationales Zentrum Crocevia), ALPA (Verein der Arbeiter_innen in der Nahrungsmittelindustrie), l’ASCI (Verein für die Solidarität mit der ländlichen Gegend), Rete semi rurale (Netzwerk für ländliches Saatgut) und Campi aperti (Bauern- und Produzentenvereinigung für Nahrungsmittelsouveränität). Es machen auch eine Anzahl von Kooperativen mit, Konsortien (La Quarantina, Le Galline felici ...) und Informationsorgane: CIR (Korrespondenz für ländliche Information), Ragnatela (Zentrum für Alternativen), Wwoof Italiens und Civilta contadina. Die Petition der Bewegung verlangt die Ausarbeitung eines Gesetzes, das ermöglicht, die kleine und mittlere bäuerliche Landwirtschaft zu unterstützen und zu entwickeln, das auf die Produktionsautonomie und Selbstversorgung abzielt, auf lokale Direktvermarktung, Schonung der Umwelt, ökologische Landwirtschaft, auf Solidarität (Austausch und Teilen von Erfahrungen), auf die Rettung von benachteiligten Landwirtschaftszonen, vor allem von der Berglandwirtschaft.
Die Bewegung, anfangs auf Koordination und Kommunikation ausgerichtet, radikalisierte sich zusehends als Reaktion auf das Regierungsdekret vom Januar 2012, das durch Verkauf oder Versteigerung 8% der landwirtschaftlichen Nutzfläche in 16 Regionen abstossen will. Der Artikel 66 stipuliert sogar, dass unbebautes Land in Parkanlagen, den Flussläufen entlang und in Strandgebieten verkauft werden soll. Gegen diese unangemessenen Massnahmen (ein paar Dutzend Milliarden Euros, um die öffentlichen Schulden von 1900 Milliarden zu verringern) zugunsten von Bankspekulationen und von Multis, die in Landwirtschaftsland investieren, mobilisiert sich die Bewegung mit aller Kraft. Sie alarmiert die öffentliche Meinung und demonstriert vor dem Sitz der staatlichen Institutionen.
Infragestellung einer Entwicklung
Dieser pazifistische Kampf für das Recht auf Land und Autonomie für die Ernährung verstärkt sich zusehends durch Protestformen, die juristisch weniger «legal» sind. In der Peripherie der grossen Agglomerationen - Turin, Mailand, Bologna, Florenz, Rom und Neapel - vervielfachen sich Besetzungen von Brachland, unbebautem Gelände und vergandeten Wiesen. In Turin zum Beispiel, in Mescal und den Gärten von Mirafiore, inspirieren solche Überlebensgemeinschaften andere radikalere Initiativen. Die Bewegung «Reclaim the fields» zur Erhaltung von Landwirtschaftsland breitet sich in Italien zusehends aus. Im Norden, in Ligurien, im Piemont, in der Lombardei und Emilia-Romagna, führen militante Gruppen eine Art Guerilla gegen Infrastrukturprojekte und den daraus resultierenden Enteignungen. Im Susatal, in der Region von Genua, im Friaul, gibt es eine hartnäckige Opposition des NO TAV (gegen das Projekt der Schnellbahn von Lyon nach Turin, Genua/Tortona, Venedig, Triest, Udine), das die Staatsverschuldung um noch ungefähr 95 Milliarden € erhöhen würde.
Auch gegen die Strassenbauprojekte, die Tausende von Hektaren Landwirtschaftsland auffressen, wächst der Widerstand. In Turin kämpfen Legambiente, die ARCI, die Komitees beni communi, Gruppierungen gegen die Ausbeutung von Schiefergas, acqua publica (gegen die Privatisierung des Trinkwassers) und Militante der parlamentarischen Linken no Tem s’ gegen neue Umfahrungsstrecken; in der Lombardei richtet sich die Opposition gegen die Verlängerung der Autobahnen Pedemontana (67 km), die Brianza, Como, Varese und Mailand verbinden, im Osten gegen die Erweiterung des Strassennetzes Brescia-Bergamo-Mailand (Berbemi), gegen die Autobahn Cremone-Mantua und in Venetien gegen das Projekt Modena-Brenner. In Treviso, in Kampanien in der Nähe von Neapel, stellen die Komitees gegen Schiefergas und Gruppen für Frieden und Abrüstung den Bau von Ölleitungen, Raffinerien und Militäranlagen im ländlichen Gebiet in Frage. Nicht zu vergessen ist auch das Referendum im Jahre 2011 über das Wasser (Komitees für öffentliche Trinkwasserversorgung), das 27 Millionen Menschen mobilisierte, sowohl Städter_innen wie auch Landbe-wohner_innen, gegen die Grossfirmen im Wassergeschäft. Gegen die aktuelle schleichende Krise entwickelten sich andere Alternativen: die Schaffung von Gärten in den Vorstädten für Leute aus Stadt und Land, Ökodörfer (RIVE), die Entstehung von Produktions- und Verarbeitungsgenossenschaften, lokale Vermarktung, freie Märkte (genuino clandestino) und Kreise, die sich für die Verteidigung der Biodiversität einsetzen (Navdabya Italie, Netzwerk ländliches Saatgut). Die Gesamtheit dieser Neuerungen gründet sich auf die Ablehnung des Profits um jeden Preis zum Nachteil der Umwelt und auf die Überzeugung, dass eine nachhaltige Landwirtschaft überlebensfähig sein kann. Die sich stark entwickelnde biologische Landwirtschaft hat wesentlich zu dieser anderen Entwicklung beigetragen - vor allem auch in den südlichen Regionen - als eine der möglichen Lösungen in der heutigen Krise.
- Prozess des Widerstands in der Landwirt
schaft und alternatives Netzwerk in Italien, 2008-9, INEA (Nationales Institut f. Landwirtschaft)