Ende September 2015: Ventimiglia – die italienische Polizei löst ein Flüchtlingscamp brutal auf. An der italienisch-französischen Grenze werden Menschen schikaniert, hin und her verschoben und verjagt. Jede Chance, irgendwo Fuss zu fassen, ist ihnen verwehrt.*
Frankreich ist bereit, in den nächsten zwei Jahren zusätzlich nur 24.000 Flüchtlinge aufzunehmen – wie von der EU-Kommission vorgesehen – und dies in einem Land von 60 Millionen Einwoh-ner_innen, aus dem jährlich circa 30.000 Menschen abgeschoben werden. Dagegen werden Flüchtende aus verschiedenen Ländern, die von Italien nach Frankreich (und oft weiter nach Grossbritannien) wollen, an der Grenze zwischen Ventimiglia und dem südfranzösischen Menton aufgehalten.
Ping-Pong mit Menschen
Migrant_innen, darunter viele Flüchtende aus dem Sudan, die in Ventimiglia festsitzen, beschreiben ihre Situation folgendermassen: «Im Juni 2015 beschliesst die französische Regierung, die Grenze zu Italien zu schliessen. Um gegen diese Massnahme zu protestieren, haben wir uns in den Felsen festgesetzt. Wir zeigten damit auf, dass wir an unserer Forderung nach Reisefreiheit und Öffnung der Grenzen festhalten. So entstand das ‚Presidio No Border‘. Dabei handelt es sich um ein selbstverwaltetes Gelände des Widerstandes, an dem Migrant_innen und Aktivist_in-nen zusammen leben und sich gemeinsam gegen die Gewalt organisieren, die von den Grenzen und ihren Wächtern ausgeht. Seit Juni demonstrierten wir wöchentlich an der Grenze gegen die Abschiebungen. Polizeikontrollen, Verhaftungen und längere Internierungen sind an der Tagesordnung. Jeden Tag werden am Bahnhof von Menton - Garavan Menschen aus den Zügen geholt, sofern sie eine dunkle Hautfarbe haben, und auf den Posten der französischen Grenzpolizei gebracht. Dort angekommen, schliesst man sie in Containern ein, ohne Zugang zu Nahrung, Wasser und Informationen über ihr weiteres Schicksal. Die Polizei beschliesst dann willkürlich, wer nach Frankreich gelassen und wer zurückgeschoben wird: ein Ping-Pong-Spiel mit Menschen.»
Die Räumung des Camps
Ventimiglia, 30.September 2015: In der Morgendämmerung rasen zwölf Busse der italienischen Polizei auf das Gelände des Presidio No Border. Die Zerstörung des Camps, die schon lange geplant war, wird durch Bulldozer mit riesigen Müllcontainern im Schlepptau in Angriff genommen. Die Maschinen zerreissen und zermalmen Zelte, Kleider, Lebensmittel, Informationsbroschüren, Bücher, Lehrmaterial für Englisch- und Französisch-Sprachkurse, Musikinstrumente, Möbel, Duschen und Toiletten. Die brutale Gewalt zerstört die monatelange selbstverwaltete Arbeit, die eine breite Solidarität gefunden hatte. Eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Leuten besuchte das Camp in letzter Zeit: Migrant_innen und Aktivist_in-nen aus ganz Europa aber auch Menschen aus der Umgebung, die Wasser, Milch und Teigwaren vorbeibrachten.
Gemeinsame Organisation
Was die Bulldozer zerstören – unter den wachsamen und gleichzeitig erschreckten Blicken der Polizisten –, ist vor allem die Verwirklichung von einem selbstverwalteten Weg des Widerstandes, der aus der Notwendigkeit des Zusammenlebens entstanden war. Die Migrant_innen und die mit ihnen solidarischen Menschen lebten zusammen, assen zusammen, schliefen am selben Ort, kümmerten sich gemeinsam um das Kochen und Aufräumen.
Sie nahmen auch die Sicherheitsbelange in die eigenen Hände. So hinderten sie zum Beispiel die Schlepper am Betreten des Lagers. Gemeinsam organisierten sie sich in nicht-hierarchischen Versammlungen (auf Arabisch, Italienisch, Englisch und Französisch), um der Gewalt der Grenzen und der Repression gegen diejenigen, die diese überqueren wollen, entgegen zu wirken. In Ventimiglia trafen sich die Menschen physisch und übten sich beharrlich, über alle Sprachbarrieren hinweg, im gegenseitigen Kennenlernen. (…)
Es war eine Lebensenergie vorhanden, die in improvisierter Musik und sudanesischen Tänzen, in der Überzeugung, nicht allein zu sein und gemeinsam zu kämpfen, ihren Ausdruck fand. Hier gab es ein unwiderstehliches Verlangen nach Freiheit. (…)
An der italienisch-französischen Grenze von Ventimiglia / Menton wurden innerhalb von nur einem Monat zwei Aktivist_innen verhaftet und acht weitere mit einem Verfahren am Hals weggewiesen. Währenddessen können die Schlepper gegenüber vom Bahnhof in Ventimiglia ungestört ihren Geschäften nachgehen und haben sogar Zugang zum Gelände des Roten Kreuzes. Auch wenn das Presidio No Border zerstört wurde, so bleiben die wertvollen Erfahrungen, welche die Bewoh-ner_innen und Besucher_innen gemeinsam gemacht haben. Ein Netzwerk ist in den letzten drei Monaten entstanden, das den Widerstand fortführt.
* Der Artikel besteht zum grössten Teil aus Passagen von zwei Erklärungen des Presidio No Border vom Oktober 2015. Der Text wurde zusammengestellt und übersetzt von Michael Rössler.