Gerade als wir in der Schweiz versammelt waren, um 10 Jahre nach den rassistischen Übergriffen in El Ejido die Situation der ImmigrantInnen, die im Plastikmeer von Almeria in Andalusien ausgebeutet werden, zu besprechen und zu überlegen, was wir weiter tun können, erreichte uns die Nachricht von der Revolte der ImmigrantInnen in Rosarno im Süden Italiens (Kalabrien). Sie wurden auf brutale Weise gejagt und vertrieben, ihre Baracken wurden demoliert.
Die pogromartigen Ausschreitungen in El Ejido jähren sich jetzt zum zehnten Mal. Die Situation ist nach wie vor äußerst prekär. Die Aufgabe, die unsere Freunde von der andalusischen Landarbeitergewerkschaft SOC dort nach wie vor wahrnehmen, ist weiterhin sehr undankbar und extrem anstrengend, aber dringend notwendig. Sie brauchen unsere volle Unterstützung.
Seit langem ist uns klar, dass es sich bei dem rassistischen Verhalten gegenüber ausländischen ArbeiterrInnen um ein europäisches Phänomen handelt, das überall dort auftritt, wo die Arbeits- und Lebensbedingungen der MigrantInnen besonders elend sind.
Um tiefergehend zu untersuchen und zu verstehen, was sich in dieser Region abspielt, ist unser Freund Jean Duflot nach Kalabrien gefahren. Er hat schon im Jahr 2000 mit uns die Broschüre «El Ejido, Anatomie eines Pogroms» verfasst. Seit einem halben Jahr reist er regelmäßig durch Italien, um Informationen und Analysen über die Situation der ImmigrantInnen zu sammeln. Damit wird er ein Buch über Immigration und Rassismus in Italien schreiben, das ein französischer Verlag bei ihm bestellt hat.
Im Moment geht es ihm vor allem darum, zu verstehen und verständlich zu machen, warum diese Explosion in Kalabrien gerade jetzt stattgefunden hat. Der Aufstand in El Ejido kam nicht von ungefähr. Er war organisiert und diente vor allem dazu, die SaisonarbeiterInnen einzuschüchtern, die angefangen hatten, die Arbeitsbedingungen zu kritisieren, sich gemeinsam zu organisieren und sich längerfristig in der «Zone» niederzulassen.
Aber warten wir mit Erklärungen und Analysen auf die Artikel von Jean, die in den Archipel-Ausgaben der nächsten Monate zu lesen sein werden.
Dieses Mal bringen wir die Aussagen von zwei in Italien lebenden Afrikanern, die wir im Dezember 2009 in Turin getroffen haben1. Beide stehen an der Spitze des selbst organisierten Kampfes für die Rechte der ImmigrantInnen in Italien. Es handelt sich um Bokar Kassambara, ein Malier, der mehrere Sprachen und Berufe beherrscht, den Autor eines Buchs über Mali für ItalienerInnen und Generalsekretär des Vereins der Malier im Piemont.
Sein Kollege, Abubakar Sumahoro, ist Mitglied der Autonomen Basisgewerkschaft RtB-CUB2 und innerhalb dieser der Verantwortliche für Immigration auf nationaler Ebene. Bevor er nach Turin zog, hat er mehrere Jahre in der Landwirtschaft und auf dem Bau im Süden Italiens gearbeitet. Er war einer der treibenden Kräfte bei der Gründung des «Kollektivs der ImmigrantInnen in Bewegung». Diese Leute haben auch das Ambulatorio Medico International in Neapel gegründet, um den ImmigrantInnen Zugang zu medizinischer Betreuung mit Ärzten, Chirurgen, Vermittlern zwischen den Kulturen, zu ermöglichen, indem auch die traditionelle, die «andere» Medizin zur Geltung kommt. Eine Begegnung zwischen zwei Welten.
Bokar
Für Bokar ist das Problem des Rassismus kulturell tief verwurzelt:
Hier war ich einer der wenigen Schwarzafrikaner im Spital. Man hat mich ganz erstaunt gefragt, ob ich wirklich studiert hätte. Das italienische Volk ist im Vergleich zu Frankreich oder England sehr rückständig, was die Erkenntnis betrifft, dass auch andere Personen Ideen und intellektuelle Fähigkeiten haben können – manchmal sogar mehr als du hier antriffst. Ich habe also dieses große Problem in den Spitälern gehabt: Sie lassen sich zwar widerwillig von dir behandeln, wenn sie jedoch die Wahl haben, ziehen sie eine nichtfarbige Person vor.
Ich hätte gerne, dass sich die Leute an das Jahr 1880 erinnerten, das Jahr der großen Krise in der Landwirtschaft. Dass sie sich erinnern, warum die Leute damals aus dem Süden weggegangen sind und wie sie sich in den Vereinigten Staaten, in Brasilien, Argentinien, Belgien, Frankreich und anderen Ländern wiedergefunden haben. Heute sagen sie, dass die Immigranten irgendwie in Booten kommen, aber damals sind sie auch in Booten losgezogen, um woanders Arbeit zu finden. Das sollte eigentlich eine Kraft sein, diese Erinnerung, weil sie das auch gekannt haben, weil sie wissen, was es heißt, von zu Hause wegzugehen. Ich frag mich, ob die, die zu Hause vor dem Fernseher sitzen und über die Einwanderer schimpfen, nicht irgendwo im Ausland Verwandte haben, die damals ausgewandert sind.
In Italien habe ich nur wenige alte Menschen getroffen, die sich näher für das Migrationsphänomen interessieren. Ich versuche sie zu verstehen. Du wirst ja ständig vom Fernsehen bombardiert mit Aussagen wie: Alle Probleme, die wir in Italien haben, kommen von den Immigranten. Sie haben die Kriminalität ins Land gebracht. Und wenn dein Enkelsohn nicht arbeitet, dann weil ein Immigrant ihm den Arbeitsplatz weggeschnappt hat. Diese Alten suchen nicht lange nach Antworten.
In meinem Buch über die Immigration3 beschreibe ich Italien seit 1880, die ersten Abwanderungen, erklärt von einem heutigen Immigranten. Um zu sagen: Hört zu, das was ihr erlebt habt, passiert jetzt uns. Versucht zu verstehen. Das ist eine Entwicklung, die niemand stoppen kann. Wenn du dein Land einem anderen lässt, verlässt du, was dir gehört, um die Realität der anderen kennenzulernen und dann den anderen verständlich zu machen, woher du kommst.
Er spricht von dem weit verbreiteten Gefühl, es könne keine nicht-weißen Italiener geben; farbige Menschen könnten nicht eingebürgert werden. Er zitiert einen schwarzen italienischen Freund: Wenn die Polizei uns auf der Straße anhält, eine Gruppe von Jugendlichen und alle sagen, sie seien Italiener, sagt man zu mir: Was soll das? Was sagst du denn da? Das ist mir sehr unangenehm. Es gibt eine Gruppe von Politikern, die versuchen, von dieser Unwissenheit zu profitieren, ihre Wahlkampagne damit zu machen und Stimmen zu gewinnen. In diesem Fall müssten sie aber vier Kinder kriegen, wenn sie die Immigranten nicht wollen. Sie wollen ja nicht mehr als ein Kind. In 40 Jahren ist Italien ausgelöscht. Ich glaube, Italien irrt sich, wenn es glaubt, dass die Immigranten nie wichtige Menschen in diesem Land sein werden. Ich werde nicht die Rolle von Martin Luther King übernehmen, bin aber davon überzeugt, dass in 20 Jahren mindestens 30 Prozent Nicht-Ureinwohner im italienischen Parlament sitzen werden. Was ist das eigentlich, ein Immigrant? Das ist ein Individuum, das in der Früh aufsteht, zur Arbeit geht, bei der Arbeit bist du Freund von allen, man schätzt dich, weil du hart arbeitest, um deinen Arbeitsplatz zu behalten, man wechselt deine Arbeitszeiten, du akzeptierst alles. Aber nach der Arbeit ist es, wie wenn selbst deine Arbeitskollegen eine große Anstrengung unternehmen müssten, um dich auf der Straße zu begrüßen. Man hat Mühe, deinen Namen auszusprechen. Du sollst verschwinden.
Italien hat so viele qualifizierte Immigranten, Juristen und Ärzte, die diesem Land einen außerordentlichen Schwung geben könnten, die sich jedoch in einem Land befinden, in dem sie keine Stimme haben, wo sie sich verstecken müssen. Ich hoffe wirklich, mein Buch veröffentlichen zu können, weil ich viel in alten Artikeln zusammengesucht habe, um Italien daran zu erinnern, dass es eine Pflicht ist, Immigration zu akzeptieren, weil sie ihre Fabriken nicht delokalisieren können, sie brauchen Arbeitskräfte, sie machen keine Kinder, dieses Land braucht Immigranten!
Abubakar
Abubakar erinnert sich sehr gut an die Umstände, die er in den Obst- und Gemüseplantagen in Kalabrien und Apulien vorgefunden hat.
Ich erinnere mich an meine Ankunft. In dem Haus, in dem ich lebte, waren wir 12 Personen. Ich sehe noch alles vor mir. Ich habe auf den Lichtschalter gedrückt, da hat man mir gesagt, dass es hier kein Licht gibt. Ich komme von der Elfenbeinküste, und in meinem Dorf gibt es Elektrizität. Das war eine Sardinendose hier mit 12 Personen. Da habe ich angefangen nachzudenken. Ich hab mir gesagt, dass das nach Durcheinander riecht, es war aber kein Durcheinander. Alles war bestens organisiert. Auf legislativer sowie auf informell wirtschaftlicher Ebene. Rassistisch organisiert – in Südafrika nannte man diese Art der Organisation Apartheid. Die Immigranten, die arbeiten, machen heute mehr als 10 Prozent des italienischen Bruttosozialprodukt aus, haben aber überhaupt keine Rechte. Sie existieren nicht, sind unsichtbar. Ich habe bis zu 14 Stunden täglich gearbeitet für die Hälfte des Lohnes eines Italieners. Für den Unternehmer ist das sehr rentabel. Auch was die sozialen Konflikte betrifft, ist es von Gewinn, weil wir Arbeiter haben, die alles akzeptieren, die nichts fordern. In den öffentliches Parks, den Bars, den Supermärkten wollen sie uns nicht sehen. Wir sollen arbeiten gehen und danach verschwinden.
Die Capolorato4 handeln im Einverständnis mit den Land-, Baustellen- und Fabrikbesitzern. Sie rekrutieren die Arbeiter ohne irgendeine offizielle Anmeldung. Und wenn er 6 Euro pro Stunde verdient, ziehen sie ihm 2,50 davon ab. Meistens unter Drohungen.
Die Gewalt auf den Feldern geht meistens von den Besitzern selber aus. Entweder sie greifen uns direkt an, oder, was meistens der Fall ist, sie organisieren kleine Gruppen, die uns vor den Bars, im Park oder am Bahnhof angreifen. Der Streit geht los und natürlich sagt man, dass der Grund dafür die lärmenden Immigranten sind. In Wirklichkeit ist der Grund, dass wir Forderungen am Arbeitsplatz stellen. So wird oft Panik gemacht.
Abubakar erwähnt ebenfalls die Angriffe in Apulien 2006, die von Fabrizio Gatti5 aufgedeckt wurden: Eines der Opfer wurde angegriffen, weil es seinen Lohn einforderte. Das scheint banal. Nach 14 Stunden Arbeit verlangt man seinen Lohn. Am Anfang sagt man uns, die Ernte wird drei bis vier Wochen dauern, da zahlen wir euch schon mal einen Teil, 30 Prozent, und den Rest bekommt ihr, wenn die Ernte fertig ist. Und am Schluss kriegst du gar nichts, weil du verschwinden musst, weil sie die Polizei rufen. Sie wissen, dass wir keine Aufenthaltsgenehmigung haben. Die Polizei untersucht dann nicht etwa die Art der Sklaverei, die Ausbeutung der Arbeiter auf dem Feld; sie fragen nur nach den Papieren der Immigranten, die natürlich nie auf die Polizisten warten.
Oft sind es kleine Unternehmen, die nicht staatlich deklariert sind. Deswegen ist es schwierig für die Gewerkschaften, an sie ran zu kommen. Sie stellen keine Leute mit Aufenthaltsgenehmigung an. Die Gewerkschaftsarbeit auf den Feldern ist gar nicht einfach, weil ich auch angegriffen werden kann, so wie es mir eines Tages ergangen ist, als ein Mann auf mich zukam und sagte: Du musst von hier verschwinden!
In Folge des durch den Artikel von Fabrizio Gatti ausgelösten Skandals organisierte das Europäische Parlament im Oktober 2006 eine Anhörung über die Ausbeutung der ImmigrantInnen in der intensiven Landwirtschaft, zu der das Europäische BürgerInnenforum als Redner eingeladen wurde. Bei dieser Gelegenheit hat Nichi Vendola, der Präsident Apuliens, versprochen, sich für eine Verbesserung der Situation und gegen die Versklavung der ImmigrantInnen einzusetzen: Nichts hat sich geändert. Es ist leicht, mit solchen Versprechungen Propaganda zu machen. Ich erinnere mich, dass wir 2005 ein großes Seminar über die Auffangzentren in Apulien organisiert haben. Er war gerade zum Präsidenten gewählt worden und hat versprochen, dass er eine starke Kampagne gegen diese Zentren führen wird. Es hat sich aber nichts geändert. Die Situation der Arbeiter auf den Feldern und in den Auffangzentren bleibt gleich.
Zeitbombe
In einem Artikel, der in Il Manifesto6 veröffentlicht wurde, bestätigt unser Freund Tonino Perna, Professor an der Universität von Reggio de Calabria, dass Rosarno eine «vergessene Zeitbombe» war. Im März 2009 und schon acht Jahre vorher waren in demselben Gemeindesaal von Gioia Tauro Treffen zur «brennenden Frage der Lebensbedingungen von eingewanderten Saisonarbeitern in der Region organisiert worden. Dieselben Reden, dieselben Verurteilungen, dieselben rhetorischen Aufrufe zur Solidarität und ...nichts Konkretes».
Neulich hat die Regierung erstaunlicher Weise angekündigt, dass sie demnächst 500.000 Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung regularisieren wird.
Warum? Als sie den Gesetzesentwurf ausgearbeitet haben, in dem die illegale Einwanderung zum ersten Mal als komplexes Delikt angeführt wird, ist einigen Abgeordneten klar geworden, dass sie Hausangestellte ohne Aufenthaltsgenehmigung beschäftigen und ihnen daher auch Sanktionen drohen. Sie haben befürchtet, dass die Wähler der Rechtsparteien da zur Kasse gebeten werden. Die Regularisierung wird nur für die Hausangestellten vollzogen werden, nicht für die, die auf dem Feld oder dem Bau arbeiten. Wir haben zwischen 700.000 und 900.000 Personen ohne Papiere in Italien.
Außerdem ist das Ganze eine lukrative Sache für die Regierung, weil jeder, der eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt, dafür 500 Euro zahlen muss, was aber nicht heißt, dass er die Papiere auch bekommt. Ungefähr 300.000 Personen haben bereits den Antrag gestellt und dafür 500 Euro gezahlt. Der Staat bereichert sich daran.
Vor Kurzem hatte der Bürgermeister einer Stadt bei Brescia die Idee von «weißen Weihnachten», also ohne Schwarze. Diese Kampagne wurde von Leuten gestartet, die den Rechtsstaat repräsentieren, die Verfassung. Sie sind sich ihrer politischen Karriere sicher, z.B. Minister zu werden und gleichzeitig stellen sie Immigranten ohne gültige Papiere an.
Abubakar betont, dass es ganz wichtig ist, unabhängige, von den ImmigrantInnen selbst organisierte Strukturen zu schaffen: Meistens haben die antirassistischen Vereine in Italien eine paternalistische Tendenz; man denkt dann, die Immigranten seien Opfer, sie seien intellektuell nicht reif und unfähig einen politischen Aktionsplan auszuarbeiten.
Ich nenne das den Kolonialismus der antirassistischen Welt. (…)
Dank Jean werden wir sicherlich die Gelegenheit haben, noch mehr Menschen aus Afrika, Asien - ImmigrantInnen aus vielen Ländern - kennen zu lernen, die uns mit ihrer Lebenskraft und besonderen Weisheit begegnen.
- Interviews für den südfranzösischen Regionalsender Radio Zinzine, www.radiozine.org
- RdB-CUB (Federazione Nazionale Rapprensentanze Sindicali di Base – Confederazione Unitaria di Base), www.rdbcub.it
- Bokar bezieht sich auf ein zweites Buch, das er 2010 veröffentlichen will.
- Traditionelles System für die Rekrutierung von Arbeitern in Italien
- In L’Espresso im September 2006, übersetzt im Courrier International
Nr. 830, siehe auch Le Monde vom 23.9.2006 - Il Manifesto vom 10.1. 2010