ISRAEL-PALÄSTINA: Wer schützt Israel und das Judentum heute vor sich selber?

von Arnold Künzli, 11.06.2002, Veröffentlicht in Archipel 95

Es gibt militärische Siege, die politische und moralische Niederlagen sind und auf Dauer entsprechende politische Folgen haben können. Wer, wie der Schreibende, dem Judentum zeitlebens seine Solidarität bekundet hat - nicht zuletzt als Dank für all die unschätzbaren geistigen Anregungen, die er von diesem empfing -, der fragt sich heute angesichts des Berserkertums eines Sharon und eines Peres und angesichts der unglaublichen Arroganz, mit der diese sich über das Völkerrecht, über die Beschlüsse des UNO-Sicherheitsrates und selbst über minimale Gebote der Humanität hinwegsetzen, betroffen und besorgt: Wer schützt Israel vor sich selbst? Die brutale Zerstörung der Infrastruktur der Palästinenserbehörden hat weltweit - ausser in den USA - Empörung und, schlimmer noch, eine gefährliche Welle von Antisemitismus ausgelöst. Gipfel des Zynismus war und ist, dass man - mit wackerer Unterstützung durch Präsident Bush - im selben Augenblick, in dem man die Machtbasis von Präsident Arafat völlig zerstört, von diesem verlangt, den palästinensischen Terroristen das blutige Handwerk zu legen und davon seine Bereitschaft zu einer Waffenruhe abhängig macht.

Obgleich auch die Juden in der Diaspora von den Auswirkungen des Grauens in Israel und in den Palästinensergebieten betroffen sind, jedoch kein relevanter Widerstand der Diaspora gegen die Kriegsherren in Jerusalem erkennbar ist - im Gegenteil fast durchwegs Solidarität mit diesen -, wäre die oben gestellte Frage auszuweiten: Wer schützt das Judentum vor sich selbst? Und wer schützt die Religion des Judentums vor ihrer Pervertierung zu einer Legitimation einer brutalen Apartheid-Politik?

Der Gang zum Tempelberg
„Aber die grauenhaften Selbstmord-Attentate auf die israelische Zivilbevölkerung durch ebenso religiös verblendete palästinensische Terroristen!“ höre ich mir entgegenhalten. Auch diese bedingungslos zu verurteilen entbindet einen jedoch nicht von der Pflicht, nach den Ursachen zu suchen, die Jugendliche motivieren können, solches zu tun. Ursachensuche ist nicht identisch mit Billigung, ansonsten alle Friedensforschung terroristisch wäre. Und die letztlich entscheidenden Ursachen des gegenwärtigen Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern sind deren zwei: die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus Haus und Hof bei der Errichtung des Staates Israel vor rund fünfzig Jahren - die nun seit einem halben Jahrhundert in Flüchtlingsstädten zu leben gezwungen ist - und Sharons bewusst provokativer Gang zum Tempelberg in Jerusalem, der die zweite Intifada auslöste. Man darf annehmen, dass Sharon, der einzig in Kategorien militärischer Macht zu denken fähig ist, diese Provokation bewusst unternahm, um dann unter Hinweis auf die Intifada seine Apartheid-Politik und den mit dieser vielleicht verschwisterten Traum von einem Gross-Israel legitimieren zu können.
Israel ist ein Nationalstaat wie alle anderen Nationalstaaten und kann sich auf dasselbe Existenzrecht berufen. Dieses Existenzrecht ist inzwischen von den arabischen Staaten anerkannt worden und fanatisierte Palästinenser mögen noch so grauenvolle Terroranschläge verüben, die Existenz des Staates Israel vermögen sie nicht zu gefährden. Aber als Nationalstaat wie alle anderen Nationalstaaten muss Israel es sich gefallen lassen, dass man auch in seinem Fall zwischen dem Staat als solchem und seiner jeweiligen Regierung unterscheidet. Das heisst: Wenn ich eine Regierung und deren Politik kritisiere, und diese Kritik mag noch so unerbittlich sein, stelle ich keinen Augenblick die Existenzberechtigung des jeweiligen Staates in Frage.

Die Macht-Asymmetrie
Mit einer Kritik am Schweizer Bundesrat will ich nicht den Schweizer Staat aus den Angeln heben. Deshalb ist Kritik an Israels Regierung eine politische Kritik und kein Angriff auf den Staat Israel als solchen. Deshalb auch lässt sich die Existenzberechtigung des Staates Israel fraglos durch „Auschwitz“ legitimieren, keineswegs aber auch die jeweilige Politik einer Regierung Israels, jedenfalls solange diese nicht glaubhaft machen kann, dass die Existenz des Staates ernsthaft gefährdet ist. Von einer solchen Gefährdung kann heute aber angesichts der Macht-Asymmetrie zwischen Israel und den Palästinensern und der Interventions-Abstinenz der arabischen Staaten keine Rede sein. Deshalb liefert die Rück-Sicht auf Auschwitz keinen Freibrief für das Vorgehen Israels gegen die Palästinenser.

Der Terror der Orthodoxie
Ebenso begibt Israel sich in ein weltpolitisches Abseits, wenn es der Versuchung nicht widersteht, jede Kritik an der Politik seiner jeweiligen Regierungen sogleich bewusster oder unbewusster antisemitischer Motive zu verdächtigen. Ein solches Verhalten ist kontraproduktiv und schürt, was es verhüten möchte. Dasselbe gilt übrigens auch für die Diffamierung jeder Kritik an den USA als Antiamerikanismus.
Zum Teil weltweit anerkannte Vertreter jüdischer Geistigkeit haben schon vor Jahren und Jahrzehnten vor einer politischen Entwicklung in Israel gewarnt, die diesen Staat und mit ihm sogar das Judentum als solches in eine gefährliche Krise führen könnte. So schrieb Hannah Arendt schon 1955 aus Jerusalem an ihren Mann Heinrich Blücher: „Politisch ist es noch hoffnungsloser, als ich dachte... Dabei leistet man sich, die Araber, die noch da sind, so zu behandeln, dass dies allein genügen würde, die ganze Welt gegen einen zu mobilisieren. Sieht man ein Auto der United Nations, die hier manches erleichtern, schimpft man. Jeder hat Angst vor dem Krieg und ist ein Kriegshetzer... Dabei sind die materiellwirtschaftlichen und sozialen Leistungen ungeheuer...“ Dann spricht sie noch vom „inneren Terror der Orthodoxie. Wobei das Verblüffende ist, dass niemand wirklich gegen sie ist, so dass die machthungrige schwarze Bande immer frecher wird.“
Ein Jeshajahu Leibowitz (1903-1993), der in Basel seinen Dr. med. gemacht hatte, sich dann der Philosophie und den Naturwissenschaften zuwandte, 1934 als Zionist nach Palästina ausgewandert ist, dort an die Hebräische Universität Jerusalems berufen und Chefredaktor der Hebräischen Enzyklopädie wurde, ein von Maimonides beeinflusster gläubiger Jude, den der frühere israelische Staatspräsident Ezer Weizman als „einen der grössten Menschen des jüdischen Volkes und des Staates Israel seit Generationen“ gewürdigt hatte - dieser ganz aussergewöhnliche Mann hat in seiner Kritik an der Politik Israels von „Juden-Nazis“ gesprochen und die israelischen Soldaten schon vor mehr als einem Jahrzehnt aufgerufen, den Waffendienst in den besetzten Gebieten zu verweigern.

Die Faust und ihr
Handschuh
Die Folgen der israelischen Besatzungspolitik bezeichnete er als „Nazisierung Israels“: „Wenn wir von Terroristengruppen sprechen, dann ist der Hamas eine und die Sondereinheiten (Israels, A.K.) sind auch solche.“ Und schon vor dreissig Jahren warnte Leibowitz, die Ursachen des Konflikts mit den Palästinensern seien in der Besetzung zu suchen, in der Herrschaft über ein fremdes Volk: „Israel wollte in der Vergangenheit keinen Frieden und will auch heute keinen Frieden, sondern ist allein an der Aufrechterhaltung der Herrschaft über die besetzten Gebiete interessiert... Das Streben und Trachten des heutigen Israel zielt auf die Erhaltung einer jüdischen Gewaltherrschaft über ein anderes Volk.“ Auf den Ausspruch der früheren israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir hinweisend, es gebe gar kein palästinensisches Volk, meinte Leibowitz: „Das ist Völkermord.“ Und ein Ariel Sharon pflege „einen Nationalismus ohne Kultur und Werte“.
Auf die Frage, ob er nicht übertreibe, wenn er von „Juden-Nazis“ spreche, antwortete Leibowitz: Wir verhalten uns schon so in den besetzten Gebieten, der West-Bank, dem Gazastreifen und im Libanon, wie sich die Nazis in den von ihnen besetzten Gebieten in der Tschechoslowakei und im Westen verhalten haben.“ Aber den Staat Israel als solchen nahm Leibowitz ausdrücklich vom Vorwurf der „Nazisierung“ aus: „Rede- und Pressefreiheit existieren bei uns noch in hohem Masse. Deshalb wehre ich mich mit allen Kräften dagegen, wenn Gäste aus dem Ausland behaupten, Israel sei ein faschistischer Staat.“ Im selben Atemzug jedoch warf er den Israelis vor, „keine anderen Wertinhalte“ zu kennen „als die jüdische Faust“. Doch „die gesamte Kraft dieser jüdischen Faust liegt nur darin, dass sie einen amerikanischen Stahlhandschuh trägt, wunderbar gepolstert mit amerikanischen Dollar-Noten... Wir haben uns selbst in eine Situation hineinmanövriert, in der der Staat Israel keine Freunde mehr auf der gesamten Welt besitzt...“
Gewiss - Leibowitz war ein radikaler Querdenker, der nie ein Blatt vor den Mund nahm und gelegentlich auch übertrieb. Aber Aussenseiter mit einer solch ungewöhnlichen geistigen Potenz und einem entsprechenden humanistischen Engagement sind trotzdem ernst zu nehmen, da es ihre gesellschaftliche Funktion ist, die geistig-politische Situation der Zeit, wie sie sich ihnen in ihrem engeren Lebenskreis präsentiert, abgehoben von den Tagesquerelen und -interessen zu erkunden und unerschrocken zu sagen, was andere nicht sehen können oder nicht zu sagen wagen. Ob ihre Sicht Bestand hat, entscheidet die Geschichte. Und was Leibowitz anbelangt: Seine Intention war es, Israel vor sich selbst zu schützen.
Arnold Künzli*

* Geboren 1919 in Zürich. Nach dem Krieg zehn Jahre lang Auslandkorrespondent der Basler „National-Zeitung“ in Rom, London und Bonn. Später Redaktor der „National-Zeitung“. 1964 Habilitation für Philosophie der Politik an der Universität Basel 1972 a.o. Professor, 1984 emeritiert.

Die Zitate sind folgenden Büchern entnommen:
Hannah Arendt/ Heinrich Blücher: „Briefe 1936-1968“. München 1996.
Jeshajahu Leibowitz: „Gespräche über Gott und die Welt. Mit Michael Shashar. Hebräisch: Jerusalem 1987. Deutsch: Frankfurt a.M. 1990.

Dieser Artikel ist am 10.05.2002 in der "Basler Zeitung" erschienen.