Gal ist Israelin und lebt in Frankreich. Sie hat nach und nach die Nachrichten, die sie seit dem 7. Oktober 2023 erhalten hat, sowie die Eindrücke, die diese in ihr hervorgerufen haben, aufgeschrieben – ein Zeitdokument.
Am 7. Oktober ruft D. mich an und sagt mir, dass in Israel gerade etwas sehr Schlimmes passiert. Ich schlage Ha’aretz[1] auf. Die Hamas hat den Zaun zwischen Israel und Gaza niedergerissen; bewaffnete Männer in israelischen Dörfern, Städten und Kibbuzim. Ich kann nicht verstehen, was passiert, aber ich weiss, dass es ernst ist. Ich möchte meine Freundinnen und Freunde anrufen, aber ich weiss nicht, was ich ihnen sagen soll. «Wie geht es dir?» scheint mir eine unangemessene Frage zu sein. Ich schreibe K. eine Nachricht, er ist besorgt, wir sehen beide, dass die israelische Antwort zu einem Massaker an den Bewohnern und Bewohnerinnen von Gaza führen könnte.
8. Oktober
Ich rufe meine Mutter an. Mit ihren 81 Jahren ist sie traumatisiert und deprimiert. Sie sagt, dass es sie 50 Jahre in die Vergangenheit, in den Krieg von 1973, zurückversetzt. Ihr Bruder war in diesem Krieg zusammen mit 2688 anderen Soldaten getötet worden. Es waren 294 Geiseln genommen worden. Damals handelte es sich um Soldaten, heute um Zivilist·innen, von denen einige in ihrem Alter sind.
L. lebt in einem der Dörfer, die von der Hamas angegriffen wurden. Er war mit seiner Ex-Frau und seinen drei Kindern in seinem Haus: «Die Armee ist nirgends, überall liegen Leichen. Einer der Freunde meiner Kinder wurde von der Hamas entführt. Familien brennen in ihren Häusern, Babys werden vor den Augen ihrer Mütter getötet, Menschen, die von einem Fest im Freien fliehen, werden erschossen, verstümmelt und Frauen vergewaltigt. Eine 80-jährige Frau, die in einem Minikarren auf dem Weg nach Gaza sitzt, wird entführt, ebenso wie Kinder, Mädchen, ältere Menschen, Babys und Männer.»
9. Oktober
Ich schlage Ha’aretz Dutzende Male am Tag auf und vergleiche die Nachrichten mit denen in der New York Times. Ich kann die Situation immer noch nicht erfassen. E. erzählt mir, dass er am Tag des Angriffs die Küchenmesser herausgeholt, die Kinder zusammengetrieben und mit den Messern neben seinem Kopfkissen geschlafen hat. Sie leben 90 km von Gaza entfernt und seine Messer können kaum eine Tomate schneiden.
Ich schicke G. eine Nachricht. Sie sagt mir, dass sie ihre Kinder sehr liebe, es aber bereue, sie in die Welt gesetzt zu haben. Wir sprechen über die Geiseln. «Es fehlt nur noch, dass die Hamas sie auf die Dächer der Gebäude stellt, wenn die Luftwaffe der IDF (Israelische Verteidigungsstreitkräfte, Anm. d. Red.) den Gazastreifen bombardiert.»
Dieses Bild bleibt in meinem Kopf. Ich wache nachts auf, stelle mir israelische Geiseln vor, die von Soldaten der IDF getötet wurden, und sehe palästinensische Familien, die in ihren Häusern bombardiert werden. D. und ich sind uns ziemlich sicher, dass die Hisbollah den Norden Israels angreifen wird, ich stelle mir vor, wie Soldaten der IDF in den Tunneln der Hamas in Gaza gefangen sind und versehentlich auf israelische Geiseln schiessen (was neun Wochen später auch passiert).
12. Oktober
«Alles hat geschlossen.», sagt Y., «Es ist so deprimierend - das Grauen der Shoah kommt wieder. hoch. Die Leute erzählen immer wieder dieselben Geschichten; sie sind schockiert über die Gräueltaten. Es ist ein Krieg, so etwas passiert in Kriegszeiten, schreckliche Szenen. Was dachten sie, was passiert ist, als Russland in die Ukraine einmarschierte oder in früheren Kriegen? Haben sie keine Bücher gelesen?»
Y. ist eine Intellektuelle und es verletzt ihre Integrität, wenn die Menschen denken, dass ihre Situation einzigartig ist, dass sie irgendwie etwas Besonderes sind. «Was soll ich jetzt tun? Einen anderen Ort finden? Einfach weggehen? Wir haben Russland in den 1980ger Jahren verlassen, weil wir nicht in dieser Art von Regime leben wollten… Du weisst, dass ich keine grosse Humanistin bin, ich bin nicht zu den Demonstrationen gegangen; aber die ganze Revolte sollte nicht so schnell zusammenbrechen.» (Sie bezieht sich auf die derzeitige Regierung, die monatelangen Demonstrationen seit Anfang 2023 gegen die Justizreform, gegen einen korrupten/faschistischen/zelotischen Premierminister und Minister oder alles auf einmal.)
Ich kann nicht wirklich mit den Menschen der Gemeinschaft sprechen, mit denen ich in Frankreich seit 13 Jahren mein Leben teile. Auf dem Markt, auf dem ich Brot verkaufe, ist es nicht besser; bin ich das Opfer des Terroranschlags der Hamas oder gehöre ich für sie zu den Israelis, die palästinensische Kinder bombardieren? Einer von ihnen sagte mir, er habe sich einen Film angesehen, «Fünf zerbrochene Kameras»[2], «Jeder sollte ihn sehen, man versteht, warum die Palästinenser Befreiung wollen, warum dieser Angriff stattgefunden hat». Ist es an der Zeit zu sagen, dass die Hamas Gaza nicht befreit? Dass es sich um eine extrem religiöse, frauenfeindliche Organisation handelt, unter deren Regime keine Französin, kein Franzose leben möchte? Auch die meisten Palästinenser·innen nicht. Ich habe dieses Gespräch nie wieder aufgenommen.
Die andere Hälfte
Mindestens die Hälfte der israelischen Bevölkerung hat nicht für diese rechtsextreme, fanatische, korrupte und faschistische Regierung gestimmt, die noch dazu nicht funktioniert. Das Hauptinteresse der Minister besteht darin, an der Macht zu bleiben, die Gesellschaft zu spalten und Angst und Hass zu schüren. Eine Regierung, die in den ersten kritischen Tagen des Hamas-Angriffs nicht funktioniert hat, die so wenig wie möglich unternimmt, um die Geiseln lebend zu befreien, die Milliarden Dollar für den Siedlungsbau im Westjordanland zahlt, an religiöse Juden, die nicht arbeiten und nicht in der Armee dienen, eine Regierung, die die israelischen Bürger·innen, die durch diesen Krieg vertrieben wurden, vernachlässigt.
Es waren Einzelpersonen, Juden, Jüdinnen, Beduinen, Palästinenser·innen und Araber, welche den Menschen zu Hilfe kamen, die sich am 7. Oktober, als ihre Häuser brannten, im Gebüsch versteckten und versuchten, dem Tod zu entkommen; es war nicht die Armee. Es waren die spontanen zivilen Organisationen, die den vertriebenen Zivilist·innen und der Armee selbst Lebensmittel und Hilfsgüter schickten, nicht die Regierung. Die gleichen Leute, die jeden Samstag zu den Demonstrationen gegen die Regierung gegangen waren und von den Ministern als Verräter·innen bezeichnet wurden, betrieben wenige Tage nach dem Angriff der Hamas aktiv zivile Strukturen und versuchten, die durch den Angriff zerrissenen Gemeinden zu unterstützen, während die Minister sich versteckten.
Es sind auch dieselben Männer, die die Flugzeuge fliegen, die die Zivilbevölkerung in Gaza bombardieren, die die Panzer durch die engen Strassen der Flüchtlingslager fahren. Wenn sich einer von ihnen weigert, hören wir nichts davon, wir wissen es nicht, wir bezweifeln, dass es passieren wird. Die Indoktrination ist wahrscheinlich zu stark.
Seit dem Kindergarten werden wir in dem Glauben erzogen, dass Israel immer die Hand zum Frieden ausgestreckt hat, sie jedoch haben sie abgelehnt; wir sind keine Partner. «Zuerst eliminieren wir die Hamas und dann wechseln wir die Regierung», sagt G. – «Aber das kann nicht durch militärische Aktionen erreicht werden, sondern nur durch Verhandlungen», sage ich, und G antwortet: «Wir müssen Grenzen ziehen. Sollen wir denn mit Palästinenser·innen reden, die das Existenzrecht Israels bestreiten?» – «Ja, wir sollten verhandeln. Davon abgesehen gibt es eine Menge von Israelis, die die Existenz der Palästinenser auch nicht anerkennen», sage ich.
Mein Zeitgefühl ging verloren – Das Recht, gegen den Krieg zu demonstrieren, wird abgeschafft; nur Demonstrationen für die Freilassung von Geiseln werden toleriert. Die Menschen, die ein Ende der Kämpfe und die Freilassung der Geiseln fordern, tragen keine T-Shirts mehr, sondern stehen im Regen, tragen Kapuzenpullover und Daunenjacken. Die Geiseln in den Tunneln der Hamas wirken immer dünner und grauer. «Ich kann nicht mehr optimistisch in die Zukunft blicken», sagt meine Mutter zu mir.
Ich spreche mit O., einem Professor an einer Universität, 10 km von Gaza entfernt: «Ich höre den ganzen Tag schreckliche Geschichten. Dann besuchte ich meinen Vater» – sein Vater ist in einem Pflegeheim, er leidet an Alzheimer und erkennt seinen Sohn nicht – «das ist der ruhigste Ort, den ich jetzt habe. Ich möchte einfach den ganzen Tag bei ihm bleiben, seine Hand halten, verloren im Nichts.»
Gal Karniel
Ha'aretz ist eine israelische Tageszeitung
«Five Broken Cameras» ist ein französisch-israelisch-palästinensischer Dokumentarfilm, der von Emad Burnat und Guy Davidi geschrieben, gedreht und 2011 veröffentlicht wurde.