Ich möchte über das schreiben, was passiert, seit «es» passiert. Und mir ist beim Schreiben klar, dass ich es in erster Linie für mich tue, um verworrene Eindrücke zu klären, indem ich sie mit Worten eingrenze.
Aber auch, weil dieser Raum des «Clubs»[1] während meines Aufenthalts in Israel/Palästina ein besonders reicher Ort des Austauschs und der Reflexion war. Ich bin Jüdin und seit fast elf Jahren habe ich Kinder. Ich habe drei Söhne. Jüdische, de facto, da man sich über die Mutter «ansteckt». Das Schreiben bringt die Sachen auf Distanz und ermöglicht es, über sie nachzudenken – ein wenig.
Was bedeutet «jüdisch», Mutter? Ich weiss es nicht. Wirklich, ich weiss es nicht. Ich bin nicht religiös, ich «glaube» nicht. Aber ich habe eine jüdische Kultur. Und ich würde das gerne ein wenig an meine Kinder weitergeben. Ein jüdischer Witz besagt, dass es so viele Interpretationen gibt, was es bedeutet, Jude oder Jüdin zu sein, wie es Juden und Jüdinnen auf der Welt gibt. Zum Beispiel: Eines Tages kam ein Jude und sagte: «Alles ist Liebe. Ein anderer kam und sagte: Alles ist Wirtschaft. Ein dritter sagte: Alles ist Sex. Ein anderer sagte: Alles ist relativ.»
Noch ein anderer Witz
Nicht ein jüdischer, sondern ein israelischer. Ein Rätsel: Was war die wahre Endlösung des jüdischen Problems? Antwort: Die Gründung des hebräischen Staates, der das auserwählte Volk in ein Volk wie jedes andere verwandelte, das Volk Israels in das Volk des Landes Israel. Haha. Den israelischen Freund, der mir diesen Witz erzählt hatte, habe ich gestern (Anfang November 2024, Anm. d. Red.) endlich angerufen. Vorher hatte ich mich nicht getraut, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Auch wenn er jetzt nach Frankreich gezogen ist, auch wenn ich mir vorstellte, dass er, wie ich, entsetzt über den Bombenhagel auf Gaza ist, dachte ich plötzlich, wenn wir uns nicht einig sind, werde ich es schwer haben, darüber hinwegzukommen und ich habe ihn nicht gleich angerufen. Ein bisschen aus Feigheit, ein bisschen aus Zärtlichkeit.
Gestern, am Telefon, sagt er mir, dass sein Witz heute niemanden mehr in Israel zum Lachen bringen würde. Er sagt mir, alle seien in einem Katastrophen-Modus. Er spricht von Benommenheit. Er erzählt mir von der Unmöglichkeit, aus seinem Pariser Exil heraus mit denjenigen zu denken, die «dort» geblieben sind, mit denjenigen, die am 7. Oktober «dort» waren. Er sagt mir: «Ich versuche mich mit ihnen auszutauschen, aber es ist kein Austausch» - ich höre zu und das ist alles. Er sagt auch: «Die Israelis sind wie Vergewaltigungsopfer. Wir sind verpflichtet zuzuhören, nicht zu reagieren.» Ich verstehe, was er meint, glaube ich.
Er spricht über den Hass
Er sagt, dass der Hass an völlig unpassenden, nie dagewesenen Orten zu finden ist. Er schickt mir ein bizarres Video, das auf einem amerikanischen Campus gedreht wurde. Eine junge Frau und ein junger Mann machen sich über pro-palästinensische Woke lustig, indem sie karikierte Figuren mimen, die mit Kefijes und rot-schwarz-grünen Fahnen drapiert sind und alles für die Hamas tun würden, die ihnen aber offen droht, sie alle zu töten, während der Idiot und die Idiotin in die Hände klatschen und die Hamas «so cute» (so niedlich) finden. Das Video soll zeigen, dass es selbstmörderische Naivität ist, wenn man nicht bedingungslos diejenigen unterstützt, die Gaza bombardieren. Und der Film stellt dies in einen direkten Zusammenhang mit Schwulsein, Linkssein und Schwäche.
Ich habe in Palästina gelebt. In Israel. In Tel Aviv. Ich war dort glücklich. Sehr. Es war eine unglaubliche Zeit. Es gab ein erfinderisches und subversives Kino. Eine verrückte Musikszene. Austausch auf beiden Seiten der Grenze. Einen Protest. Jeder dachte über die «Matzav», die Situation, nach. Niemand stimmte zu, aber alle dachten nach. Ich bin schon lange nicht mehr «dorthin» zurückgekehrt. Die meisten Freund⸱innen, die ich dort hatte, sind weggegangen, weil sie sich Sorgen um ihre geistige Gesundheit und um ihre Nachkommen machten. Diejenigen, die gegangen sind, fühlen sich jedoch schuldig gegenüber denjenigen, die geblieben sind. Als ob die Entscheidung, die eigene Haut zu retten, zwangsläufig auf Kosten des Kollektivs gegangen wäre, das für den Aufbau des jüdischen Staates so zentral ist.
Das israelische Kollektiv ist krank
Und das nicht erst seit dem 7. Oktober. Die Zeiten der Kibbuzim und der Kooperativen sind längst vorbei. Ich lese in vielen Tribünen, dass es dieses Israel war, das von der Hamas angegriffen wurde, dass mehrere der Geiseln für den Frieden gekämpft haben. Ja, aber. Der israelische Staat ist ein Kolonialstaat, also wird er angegriffen. Als Antwort verteidigt er sich. Und es bleibt einem nichts anderes übrig, als festzustellen, dass ein Kolonialstaat, wenn er sich rächt, das tut, was ein Kolonialstaat normalerweise tut: Er unterdrückt mit Gewalt. Nur tut er normalerweise so, als ob er das aus einem bestimmten deontologischen Pflichtenheft heraus tun würde. Das klingt wie ein Witz, aber es ist nichts Lustiges daran. Heute respektiert der Staat Israel keinerlei Form mehr und wir stehen wieder einmal, einmal mehr, vor dem Beweis seiner Verbrechen. Ja, aber. Nein, hier gibt es kein «aber».
Ich glaube, die Katastrophe dieses militärisch organisierten Mordes an der palästinensischen Bevölkerung stellt uns brutal, total, verzweifelt, vor unsere Ohnmacht. Es gibt diejenigen, die uns regieren, die in Ermangelung einer Alternative gewählt wurden, durch «Proteststimmen» und deprimiertes «Laisser-aller» oder sogar, wie im Fall der jetzigen israelischen Regierung ganz offensichtlich, durch ekelhafte Arrangements, durch pure und harte Korruption. Und nun haben sie die Zügel in der Hand, diese unfähige Bande.
Was können wir tun?
Wir können auf die Strasse gehen. Das ist immerhin etwas. Wir schliessen uns zusammen, halten uns warm, zählen unsere Truppen. Aber das ist nicht genug. In der Zwischenzeit sterben Menschen. Man kann Petitionen unterschreiben. Als Jude, Jüdin. «Not in my name!» Auch das ist schon etwas. Aber natürlich ist das viel zu wenig. Also empören wir uns und sind wütend. Man ist wütend und weiss nicht, wo man seine Wut hinschmeissen kann. Ausser auf sich selbst, denn wenn es so weit gekommen ist, dann auch, weil ich nicht genug getan habe. Ich sage mir lieber, dass ich zum Teil verantwortlich bin, als mir einzureden, dass die Schuld so weit weg liegt, dass ich nichts dagegen tun kann. Denn die Welt ist meine Verantwortung. Der Tikkun Olam[2] ist Teil meines Werkzeugkastens. Ja, ich sehe es als meine Pflicht an, die Welt zu reparieren. Wie deine, ihre, unsere. Und so weiter.
Jude zu sein, Jüdin zu sein, bedeutete für mich zwangsläufig, sich in den Dienst der Gerechtigkeit zu stellen. Also gegen Diskriminierung und Unterdrückung zu sein. Und zwar aktiv. Pierre Goldman hat das in seinen «dunklen Erinnerungen»[3] so schön geschrieben.
Die allgemeine Konfusion trocknet mich aus. Kommt Ihnen die Vehemenz, mit welcher der Antisemitismus momentan denunziert wird, nicht auch verdächtig vor? Vielleicht ist es meine misstrauische jüdische Seite, aber ich habe keinerlei Lust, von einer Le Pen verteidigt zu werden. Soweit ich mich erinnern kann, verprügelt man die Faschisten, man teilt mit ihnen keine Verabredungen auf dem «Place de la Bastille», man stellt sich auch nicht hinter dasselbe Transparent.
Und gleichzeitig wird der anti-arabische Rassismus offen gezeigt; den nächsten Schritt möchte ich mir gar nicht vorstellen. Dass all das auf dem Rücken der Juden und Jüdinnen geschieht, macht mich krank.
Ich habe mich bemüht, meinen Söhnen die ersten Eindrücke vom Judentum nicht anhand der Shoah zu vermitteln. Mir war wichtig, dass sie zuerst einmal an den Festivitäten und am Studium der Wörter Freude haben, bevor wir mit ihnen über den Hass und die Phantasmen sprechen, die die Religion meiner Vorfahren und die wunderbare Kultur, die daraus hervorgegangen ist, umgeben. Und diese Bemühungen werden nun zunichte gemacht. Die Grundlage für Verschwörungstheorien ist immerhin Faulheit, also ist die Vorstellung, dass Juden und Jüdinnen die Welt regieren wesentlich einfacher, als zu den Ursprüngen des Problems zurückzukehren. Und was wäre der Ursprung dieses Chaos? Ich habe meine eigene bescheidene Meinung dazu, aber auch hier gibt es wohl eine Interpretation pro Kopf.
Es gibt eine Rückkehr des Antisemitismus. Ja. Und es gibt einen ganz klaren anti-arabischen Rassismus. Das ist eine Tatsache. In Frankreich sind dies zwei Seiten derselben Medaille. Und man muss schon sehr vergesslich sein, um das nicht zu bemerken. Ich habe drei jüdische Söhne. Hier und heute bin ich mir nicht sicher, wie ich ihnen erzählen soll, was das zu bedeuten hat.
Naruna Kaplan de Macedo, Regisseurin, Drehbuchautorin
- Club Mediapart. Erstveröffentlichung des Artikels in Mediapart am 10.11.2023
- Tikkun Olam bedeutet «Reparatur der Welt», stammt aus der jüdischen Philosophie und Literatur und umfasst weitgehend die jüdische Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit oder Wiedergutmachung.
- «Dunkle Erinnerungen eines in Frankreich geborenen polnischen Juden», März-Verlag, Frankfurt 1980.