Das ist eine Frage, die man sich oft stellt, wenn man die Situation in Calais und an der Küste, der Grenze zu England, betrachtet: Warum wollen all die Migrant_innen dorthin?
Hier an Ort und Stelle gibt es bei dieser Betrachtung jedoch so etwas wie einen Lupeneffekt: natürlich wollen die Personen, die einen Teil Europas durchquert haben, um nach Grossbritannien zu kommen und jetzt an der Grenze blockiert sind, an ihr Ziel. Es befinden sich jedoch hunderttausende Exilierte in ganz Europa, davon sitzen «nur» einige Tausend an der britischen Grenze fest. Das ist eigentlich relativ wenig, wenn man die Bevölkerung Englands, seinen wirtschaftlichen Reichtum oder auch seine historischen, kolonialen «Verbindungen» mit zahlreichen Ländern in Betracht zieht. Nach England wollen die Menschen zum Teil aus guten Gründen, aber auch weil sie keine anderen Möglichkeiten haben.
Die positiven Gründe sind entweder familiäre oder freundschaftliche Verbindungen, eine bereits dort installierte ihnen zugehörige Gemeinde, eine offizielle Vertretung ihres Herkunftslandes, die ihnen eine Zukunft ermöglichen kann, Kenntnis der englischen Sprache oder zumindest das Gefühl, sich diese schnell aneignen zu können. Die negativen Gründe resultieren aus der Nicht-Empfangs-Politik der durchquerten europäischen Länder. In den Ländern, in welche die Flüchtlinge nach Europa einreisen, hat die Europäische Union nicht für Empfangsstrukturen gesorgt. Aber auch Länder wie Frankreich betreiben eine Abschottungspolitik, die darin besteht, die Migrant_innen durch unüberwindbare bürokratische Hürden an einem Aufenthalt zu hindern oder, falls die Personen bereits im Land sind, diesen zu erschweren. Sie sind daher dazu gezwungen woanders nach einer Möglichkeit, empfangen zu werden, zu suchen.
Was ist anders in England?
Asylgesuche werden sofort registriert und die Asylsuchenden unverzüglich beherbergt. Es werden doppelt so viele Gesuche wie in Frankreich positiv beantwortet. Es gibt jedoch mehr Rückschaffungen ins betretene Erstland (nach der europäischen Reglementierung Dublin III) und auch mehr Ausschaffungen ins Herkunftsland im Falle eines negativen Asylbescheides.
Auch die unbegleiteten minderjährigen Migrant_innen werden sofort in Obhut genommen und nicht auf der Strasse gelassen – anders als in Frankreich, wo eine solche Fürsorge in den letzten Jahren mehr und mehr vom Staat verhindert wird. Anderer-seits ist es, trotz der sich verschlechternden Situation, einfacher in Frankreich eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen als in Grossbritannien.
Mit dem Wahlwettkampf zwischen der konservativen Regierung und der UKIP (United Kingdom Independent Party), deren Hauptanliegen es ist, die Ausländer_innen fern zu halten, hat sich die Situation generell verschärft. Die Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, die «Netto-Immigration», das heisst, die Differenz zwischen Ein- und Ausreisenden, auf 100’000 Personen pro Jahr zu reduzieren. Von diesem absurden «Ziel» ohne jeglichen Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Lage und der britischen Gesellschaft ist England noch weit entfernt – es werden jedoch immer mehr Massnahmen, die in diese Richtung gehen, ergriffen.
In den Bereichen, wo es möglich ist Quoten zu fixieren, wie z.B. bei Visa für Studierende oder Arbeitende, wird deren Anzahl reduziert. Selbst wenn die Universitäten dagegen protestieren, weil ausländische Studierende ja unter anderem eine Eintragsquelle sind und für internationale Anerkennung stehen.
Für die Familienzusammenführung dürfen keine Quoten eingeführt werden – das ist durch internationale Konventionen garantiert. Daher hat die britische Regierung eine Einkunftsgrenze festgelegt, unter der man seine Familie nicht nachkommen lassen darf, was dazu führt, dass kaum ein_e Migrant_in von diesem Recht Gebrauch machen kann.
Damit weniger Flüchtlinge vom Asylrecht und dem Recht für gefährdete Minderjährige, Schutz zu erhalten, sobald sie sich auf britischem Boden befinden, profitieren können, hat die Regierung die Grenzkontrollen massiv verstärkt, insbesondere die ausgelagerte Kontrolle auf französischem, aber auch auf belgischem Boden. Seit 2014 wird sehr viel Geld in Installationen und Material (Zäune, Bewegungsmelder, etc.), sowie in eine verstärkte grenzüberschreitende Kooperation der Polizei investiert. Diese Massnahmen sollen die Flüchtenden aus dem Grenzgebiet vertreiben. Ausserdem unternehmen England und Frankreich immer mehr gemeinsame Schritte im Rahmen der Europäischen Institutionen, um eine Verschärfung der Anti-Migrationspolitik und der Kontrollen an den Aussengrenzen Europas zu erreichen.
«Go home»
Damit die Rechnung dieser Politik stimmt, müssen natürlich immer mehr Migrant_innen Grossbritannien verlassen. Also wird der Druck auf die Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung verstärkt und gleichzeitig auf sämtliche immigrierte Gemeinschaften ausge-weitet. Für Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung ist ein Leben in England unmöglich geworden.
Angefangen hat es mit den Werbelastwägen mit der Aufschrift «go home», die in den Ausländervierteln herumfuhren und die Botschaft verbreiteten, dass alle, die nicht freiwillig in ihr Herkunftsland zurückreisten, demnächst ausgeschafft werden würden. Dann kamen die Razzien in denselben Stadtteilen, bei denen systematisch Gesichtskontrollen durchgeführt werden.
Dazu kommt ein neuer Paragraph im Aufenthaltsgesetz, durch den für Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung der Zugang zu medizinischer Versorgung erschwert wird. Private Krankenversicherungsgesellschaften müssen unter Strafandrohung den regelkonformen Aufenthalt ihrer Kund_innen kontrollieren. Ebenso die Banken, wenn jemand ein Konto eröffnen möchte oder die Vermieter_innen bei einem neuen Mietvertrag. Das führt zu einem grundsätzlichen Misstrauen, sodass in all diesen lebensnotwendigen Belangen Ausländer_in-nen oft abgewiesen werden, selbst wenn sie einen Aufenthaltsstatus haben. In anderen Ländern ist diese Handhabung schon seit Langem an der Tagesordnung, Grossbritannien war in dieser Hinsicht bis vor kurzem eine Ausnahme!
Das Referendum über den Verbleib Englands in der EU ist ein Mittel, dieselbe unter Druck zu setzen, um zusätzliche Ausnahme-regelungen zu erreichen. Einige davon betreffen die Aufenthaltsregelungen für Immigrant_innen aus einem EU-Land bezüglich der Sozialleistungen und der Familienzusammenführung. Auch hier geht es darum, Druck auszuüben, um EU-Bürger_innen davon abzuhalten, nach Grossbritannien zu kommen oder dort zu bleiben.
Jetzt stellt sich noch die Frage: Wie lange kann sich diese Politik, die selbst im Rahmen der neoliberalen Wirtschaft kontraproduktiv ist, noch halten?