Hunderte Menschen sind vor der Küste Griechenlands bei Pylos ertrunken – vor den Augen der griechischen Küstenwache. Dieser Schiffbruch war kein Unglück, er war ein Verbrechen.
Ich spreche heute[1] als Teil vom Netzwerk «Watch the Med Alarmphone». Seit fast neun Jahren betreiben wir eine Telefonnotrufnummer für Flüchtende in Seenot. Wir üben Druck aus für Rettungen. Und dokumentieren die Verbrechen an den EU-Aussengrenzen. Mit kollektiver und praktischer Solidarität versuchen wir, als Netzwerk mit Aktivist·innen vom Senegal bis in die Schweiz dem Sterben entlang der Migrationsrouten gemeinsam entgegenzuwirken. Dieses Mal leider vergebens.
Letzte Woche, am 13. Juni 2023, hatten wir die griechische Küstenwache um 16:53 Uhr MEZ zu einem völlig überladenen Boot in der griechischen Seenotrettungszone alarmiert. Wir waren in direktem Kontakt mit dem Boot, leiteten dessen Hilferuf weiter. Die griechischen Behörden waren bereits einige Stunden zuvor alarmiert worden – unter anderem von Frontex.
Die griechischen und andere europäischen Behörden wussten – wie uns heute bekannt ist – mindestens seit ca. 09:47 Uhr morgens von diesem überfüllten und seeuntüchtigen Schiff. Eine Rettungsaktion wurde nicht eingeleitet. In den frühen Morgenstunden des 14. Juni 2023 kenterte das Schiff – hunderte Menschen starben. Um von seiner Schuld abzulenken, hat Griechenland in der Folge neun vermeintliche Schmuggler·innen verhaftet und behauptet, die Leute hätten nicht gerettet werden wollen, sondern hätten Italien als Ziel gehabt. Das ist ein zynisches, billiges Ablenkungsmanöver vom eigenen Versagen, von der eigenen Schuld.
In den Tod getrieben
Griechische Grenzschutzbeamt·innen verletzen seit Jahren systematisch die Rechte von Flüchtenden. Die Menschen auf der Flucht wissen, dass tausende Geflüchtete von griechischen Einheiten beschossen, geschlagen und auf dem Meer ausgesetzt wurden. Sie wissen, dass die Begegnung mit der griechischen Küstenwache, der griechischen Polizei oder dem griechischen Grenzschutz oft Gewalt und Leid bedeutet. Aufgrund der systematischen Zurückdrängung versuchen die Boote, Griechenland zu umgehen, indem sie viel längere Routen fahren und ihr Leben auf See riskieren. Als Alarmphone haben wir unzählige Fälle von Pushbacks dokumentiert, aber auch Fälle, in denen überfüllte Boote gekentert sind, weil sie längere Routen genommen haben, um den griechischen Polizeikräften auszuweichen.
Nachdem das Fischerboot gekentert war, haben die griechischen Behörden ihr Versagen bei der Rettung schnell öffentlich gerechtfertigt. In Wirklichkeit waren sie bereits viele Stunden vor dem Kentern des Schiffes alarmiert worden. Die europäischen Behörden hätten ohne Verzögerung und jederzeit angemessene Rettungsmassnahmen einleiten können. Sie haben es nicht getan. Ihr Wunsch, Ankünfte zu verhindern, war stärker als die Notwendigkeit, hunderte von Menschenleben zu retten. Seit dem Unglück kommen immer mehr Indizien ans Licht, die Schreckliches erahnen lassen: Überlebende erzählen, die griechische Küstenwache habe sie mit einem Seil gezogen, auf Grund dessen das Schiff schliesslich gesunken sei. Andere erzählen, die griechische Küstenwache habe dem Sinken und den ertrinkenden Menschen zuerst lange zugeschaut, bevor sie Rettungsmassnahmen eingeleitet habe.
Die Verbrechen benennen
Während sich die griechische Küstenwache in Widersprüche verstrickt, gehen andernorts die brutalen Attacken weiter: Die letzten Tage erreichten uns wieder Berichte von Gruppen an der griechisch-türkischen Landgrenze. Sie berichteten von brutalen Pushbacks und von Angriffen durch griechische Einheiten. Die Leidenden sind all jene auf der Reise sowie die Überlebenden und die Angehörigen. Seit letzter Woche sind wir mit zahlreichen Angehörigen in Kontakt. Sie alle suchen verzweifelt nach Informationen über ihre Liebsten. Und sie beklagen sich alle, dass sie von den griechischen Behörden keine Hilfe erhalten. Und die Überlebenden sind bis heute quasi eingesperrt, in einem vergitterten Camp in Malakasa, in Griechenland. Verdammt, ist es so schwierig einzusehen, dass Menschen, die ein solches Massaker überlebt haben, kein Camp brauchen, sondern eine traumasensitive Umgebung?
Die Entstehung von diesem Schiffswrack, die Rechtfertigung der Behörden, der zynische Auftritt vom Frontex-Chef, dem von den Tamedia-Zeitungen gar noch eine Plattform gegeben wurde, die Behandlung von Überlebenden und Angehörigen – sie zeigen in ihrer ganzen Unverblümtheit das rassistische Migrationsregime Europas: Gewisse Menschen haben keine Rechte, kein Recht auf Leben, kein Recht auf würdiges Trauern, kein Recht auf angemessene Betreuung.
Hinzu kommt die ausbleibende Empörung von weiten Teilen der Gesellschaft und der Medien: Haben früher solche Unglücke Menschen und Medien mobilisiert, hört und liest man gerade in der Schweiz und auch anderswo kaum mehr etwas. Die beiden grossen linken Parteien der Schweiz? Sie blieben einfach still. Und genau da ist es unsere Verantwortung, solche Geschehnisse, niemals, NIEMALS zur Normalität werden zu lassen. Selbst wenn wir gefühlt Wenige sind, können wir auch in kleiner Anzahl laut und wehrhaft bleiben, können widerständige und kräftige Vernetzungen aufbauen – zwischen Menschen in Abfahrtsländern, Menschen auf der Reise, Aktivist·innen an Transitorten, Angehörigen und Menschen in Ankunftsländern wie der Schweiz. Und genau da setzen wir weiterhin an: Wir werden weiterhin um jedes Boot kämpfen, weiterhin die Verbrechen an den EU-Aussengrenzen benennen, weiterhin unbequem bleiben – gemeinsam mit vielen von euch und gemeinsam mit oft nicht sichtbaren Mitstreiter·innen! Hört auf, Reisende dafür verantwortlich zu machen, dass sie versuchen, eurer Gewalt zu entkommen! Hört auf, Menschen auf der Flucht für ihren eigenen Tod verantwortlich zu machen!
Stoppt Pushbacks, beendet das Sterben auf dem Meer!
Im Gedenken an die über 27.000 Menschen, die seit 2013 an den EU-Aussengrenzen umgebracht wurden.
Alarmphone Zürich
- Diese Rede wurde anlässlich der Gedenk- und Wutdemonstration in Zürich am 20.6.2023 von einem Mitglied vom Alarmphone gehalten.