Am 23.April fand die Preisverleihung des Schweizer Menschenrechtspreises «Offene Alpen 2019» an die «7 von Briançon» auf dem Alpenpass von Montgenèvre an der französisch-italienischen Grenze und in der Stadt Briançon (FR) statt. In dieser Nummer des Archipels drucken wir zwei Beiträge dazu ab.
Die Solidaritätserklärungen an der Preisverleihung waren international: neben den Initiatoren des Freundeskreises Cornelius Koch und des Europäischen BürgerInnenforums sprachen Dick Marty, ehemaliger Staatsanwalt des Kantons Tessin (CH), Don Giusto della Valle, Flüchtlingspfarrer aus Como (IT), Pinar Selek, Schriftstellerin und Soziologin (FR, TR), und Benoit Ducos, Bergführer und Flüchtlingsretter (FR), für die «7 von Briançon». Im Folgenden drucken wir den Artikel und Redebeitrag von Pinar Selek und Auszüge aus der Ansprache von Benoit Ducos ab. Hier zuerst der Text und die Ansprache von Pinar.
Eine bewegende Aktion
Ich habe an der gemeinsamen Aktion rund um die «7 von Briançon» teilgenommen, die wegen des sogenannten «Solidaritätsdelikts» gerichtlich verurteilt wurden. Gemeinsam haben wir den Grenzen, dem Faschismus und der Gewalt die Stirn geboten. Ich lebe auch in so einer Grenzregion, in der sich die aktuelle Migrationspolitik voll auswirkt. Sie ist durch die Domination von Geschlecht, Rasse und sozialer Klasse bestimmt. In diesem Gebiet gilt Mobilität als Verbrechen, sobald es sich um verfolgte Menschen handelt. Davon zeugen erfrierende Körper, tote Körper und solche, die nicht mehr träumen – aber auch die kriminellen Netzwerke, welche hier schutz- und rechtlose Menschen als Sklav·inn·en für den europäischen Markt rekrutieren. Diese Gewalt kann in diesem Ausmass nur stattfinden, solange die Solidarität kriminalisiert wird. Ich wohne in Nizza und gehe dort mit Gleichgesinnten zu den Gerichten, um diejenigen zu unterstützen, die wegen des Solidaritätsdelikts angeklagt sind. Und hier in Briançon tue ich das Gleiche. Wir bieten den Grenzen, der Festung, dem Faschismus und der Gewalt die Stirn! Der Menschenrechtspreis «Offene Alpen 2019» wurde den «7 von Briançon» zuerkannt als Zeichen der Wertschätzung und des Dankes für ihren mutigen Einsatz bei der Rettung von Flüchtenden in den Bergen und für den Widerstand gegen xenophobe und rassistische Angriffe. Die Übergabe des Preises durch den Freundeskreis Cornelius Koch mit Unterstützung des Europäischen BügerInnenforums war eine bewegende, sehr ergreifende, historische Aktion. Wir waren an die 100 Personen am Grenzübergang von Montgenèvre – uns gegenüber ein massives Aufgebot von Polizei- und Grenzschutzbeamten, die mittlerweile bekannter als die dortigen Skipisten sind. Wir haben trotz der Kälte ausgeharrt, die Preisübergabe gefeiert und demonstriert: genau ein Jahr, nachdem die Demonstration gegen die rechtsextremen Identitären am selben Ort stattgefunden hat, die daraufhin zur Verhaftung und Verurteilung der «7 von Briançon» geführt hatte. Von hier aus sind wir weiter gezogen, dorthin, wo man den völlig unterkühlten Körper von Tamimou Dherman gefunden hat, der kurz darauf starb. Er kam aus Togo, mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Am 7. Februar 2019 war für ihn der Traum vorbei. Viele verschiedene Beiträge gestalteten unsere Demonstration. Alle zeigten, dass wir den Tod von Tamimou nicht hinnehmen werden und auch nicht die Verurteilung der solidarischen Menschen. Wir werden uns nicht an diese düstere Welt gewöhnen.
Ein Kampf zwischen zwei Welten
Die Erde dreht sich. Auf dieser Erde gibt es einen höllischen Kampf zwischen zwei Welten. Die Welt der Unterdrücker, der Dominierenden und die Welt der Glühwürmchen1, die keine Sklaven sein wollen. Heute sind wir hier ein winziger Punkt in einer dieser beiden Welten, derjenigen der Glühwürmchen. Der Welt, die in ständigem Aufbau ist. Ich bin hier als Aktivistin, als Geflüchtete und als Frau. Ich spreche als Aktivistin, die zu dieser wunderbaren Welt der Glühwürmchen gehört, die diese ungerechte Welt nicht akzeptieren, welche den Horror nicht akzeptieren und Widerstand leisten. Die das Leben, die Schönheit, die Poesie verteidigen und erschaffen. Die das Licht ihrer Träume nehmen und in der Dunkelheit leuchten. Ich gehe mit euch mit als Exilierte, die auf die andere Seite der Grenze gehen musste, aber auch auf die andere Seite der Beziehung zwischen Opfer und solidarischem Menschen. Dank dieser Erfahrung entdeckte ich mit Freude, dass es den Dominierenden noch nicht gelungen ist, die Gesellschaft völlig zu verderben und dass es viele freie und schöne Frauen und Männer gibt. Ich demonstriere als Frau. Eine soziale Kategorie, die nicht zur Markierung der Grenzen beigetragen hat. Und jedes Mal, wenn wir diese Grenzen überschreiten, beschneiden wir das Patriarchat. Diejenigen, die uns ihre Befehle erteilen, haben Waffen, Gefängnisse, Geld. Aber sie können uns nicht in Reih und Glied bringen. Sie mobilisieren den Faschismus mit neuen Slogans. Das Konzept von «Besser Hitler als die Volksfront» wurde nun in «Besser identitär als solidarisch» umgewandelt. Die Antwort der Glühwürmchen ist kurz und bündig: «No passeran». Die Glühwürmchen überschreiten Grenzen. Die Grenzen von Gefängnissen, von Nationen, Staaten, Befehlsgewalt. Sie treffen sich, helfen sich gegenseitig, Grenzen zu überschreiten, diskutieren, überlegen, handeln und singen gemeinsam. Diese Glühwürmchen kreuzen sich wieder und wieder an verschiedenen Ecken der Welt. Sie erkennen sich gegenseitig, sie sind grosszügig, sie unterstützen sich gegenseitig – wie jetzt. Durch unser Handeln tragen wir zum Aufbau einer Gegenkultur bei, die auf Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit basiert. Und das im Herzen des wilden Neoliberalismus. An dieser französisch-italienischen Grenze haben sich eine Italienerin, zwei Schweizer und vier Franzosen in Solidarität mit Afrikaner·inne·n gefunden. Andere Menschen, Italiener·innen, Türk·inn·en, Eritreer·innen, Schweizer·innen, Deutsche, Österreicher·innen machen weiter. Seht ihr, die Grenzen der alten Welt stürzen ein. Die Zwangsjacke wird gesprengt. Wir haben es fast geschafft!
Pinar Selek
- In Anlehnung an die Glühwürmchen über die Pier Paolo Pasolini Anfang der 70er Jahre in seinen «Freibeuterschriften» schrieb: «Warum verschwinden die Glühwürmchen?...» Anm. d. Red.