Alle, die sich Sorgen um die Welt machen, in der sie leben, stossen früher oder später auf die Frage, was diese charakterisiert und leitet. Üblicherweise wird die Frage von einer beunruhigenden oder schockierenden Entwicklung ausgelöst und folgendermassen ausgedrückt: Wie kann man die irritierenden Innovationen verstehen? In welcher Hinsicht stellen sie ein Problem dar? Wodurch wurden sie hervorgebracht? Einleitung aus dem Buch von Aurélien Berlan, Teil 1. Diese Fragen geben Anstoss zu allgemeineren Überlegungen, da keine Entwicklung getrennt werden kann von der Welt, in der sie entstanden ist und von der sie bestimmte Merkmale hervorhebt. Jeder Mensch kann derart dahin kommen, sich fundamentale Fragen zu stellen, denn diese bestimmen unsere Positionierung und unsere Handlungsziele: In welcher Welt leben wir? Welche Kräfte dominieren und charakterisieren die heutige Zeit? Und in welche Richtung drängen sie uns? Diese Fragen sind kein Privileg der Wissenschaft. Wir finden sie etwa auch in der Science Fiction wieder, die erzählerische Antworten anbietet. Wegen ihrer politischen Dimension können sie jeden Menschen beschäftigen. Eine politische Überlegung, die dieses Namens würdig ist, gäbe sich nämlich nicht zufrieden mit dem, was die «politische Philosophie» der Gegenwart macht: abstrakte Prinzipien zu vorzuschlagen, und zu denken, dass sich «Macht» vor allem in den politischen Institutionen abspielt. Wenn kennen heisst, in welcher Weise auch immer, zu reflektieren, was ist, muss die politische Reflektion vor allem die aktuelle Situation einschätzen und analysieren, was uns heute widerfährt. Das bedeutet: die Fäden der (politischen, ökonomischen, kulturellen etc.) Mächte zu entwirren, die auf unserer heutigen Welt lasten, um schliesslich jene zu ermitteln, die unsere Gegenwart beherrschen und zumindest teilweise die Zukunft bestimmen. Das heisst aber zugleich: näher zu bestimmen, was diese Entwicklungen mit uns machen, um ihre Wirkungen abzuschätzen.
Der Versuch zu verstehen
Ohne eine klare Sichtweise auf diese Herausforderungen ist es unmöglich, sich zu orientieren, zu wissen, wie handeln. Man riskiert, sich in den Dienst jener Kräfte zu stellen, die man verurteilt und gegen die man kämpfen möchte. Oder sich auf einem Nebenschauplatz mit jenen sozialen Gewalten zu schlagen, die gerade im Untergang begriffen sind, weil man es nicht vermochte, die neuen Mächte zu identifizieren, und damit die wirkliche Schlacht verfehlt, jene im Zentrum der Gegenwart, deren Ausgang die Gestalt der Welt von morgen entscheiden wird. Mit Blick auf die Relevanz ist es nicht erstaunlich, dass diese gewöhnlichen Fragen von einem Grossteil der Philosophen, Soziologen, Anthropologen, Historiker und Psychoanalytiker gestellt wurden: Auch sie haben versucht, ihre zeitgenössische Welt und die Probleme, die sich in ihr stellen, zu entschlüsseln. Gegen alle Erwartung haben die grossen Denker allerdings ihr Projekt, die Gegenwart in ihrer Eigenart und ihrer historischen Negativität zu verstehen, selten erkenntnistheoretisch und methodologisch hinterfragt - als ob es jedem Versuch von Kritik widerstehen würde. Das birgt allerdings Probleme in sich: Welche Wege beschreiten, um solches Wissen zu schaffen? Welche Klippen umschiffen? Wie die diversen konstitutiven Fragen dieser Art von Wissen angemessen formulieren und ausdrücken? Und nicht zuletzt, wie dieses flüchtige Objekt, das die Gegenwart darstellt, verstehen und umreissen? Ist es da noch erstaunlich, wenn die Versuche immer wieder scheitern, die uns zustossenden Übel und die anstehenden Herausforderungen zu verstehen, zu sagen, wo wir heute stehen und was die Welt mit uns machen wird?
Exponentielle Beschleunigung
Diese Stolpersteine sollen uns nicht dazu bringen, wie es oft an den Universitäten geschieht, uns über die Problematik lustig zu machen und sie den «Essayisten» zu überlassen. Dies diskreditiert die grundlegende Ambition, die Welt zu verstehen, in der wir leben. Mit Blick auf die Geschwindigkeit, mit der sich die Welt entwickelt und den Problemen, die sich vervielfachen, gibt es in dieser Frage mehr zu tun denn je. In vielerlei Hinsicht sind wir heutzutage in einer exponentiellen Beschleunigung begriffen, die sich durch eine Abfolge und Akkumulierung von Krisen in allen Bereichen auszeichnet, seien diese ökonomisch, sozial, ökologisch etc. Das Konzept der Krise, das ursprünglich einen entscheidenden Moment, eine Auflösung markierte, verliert dabei seinen Sinn, denn die Krise ist zu unserem Alltag, zum «normalen» Lauf der Dinge geworden. Doch wohin führen diese nicht endenden Umwälzungen unserer Lebensbedingungen mit Hilfe der Technologie und gar der elementaren Grundlagen unserer menschlichen Beschaffenheit? Was bedeutet zum Beispiel der künstliche Uterus für die Menschheit? Was steht hinter dem Projekt von Fleisch aus dem Reagenzglas?
Auch wenn die Veränderung in allen Sphären regiert und ihr Tempo immer das Gefühl einer Ausnahmesituation erzeugt, ist dies nichts Neues. Marx bemerkte schon 1848, wie eine Vielzahl seiner Zeitgenossen, dass sich die bürgerliche Epoche durch die permanente Bewegung auszeichnet, in der das einzig Stabile die Instabilität selbst ist. Er dachte dabei an die ständige Umwälzung der Produktionsweisen verbunden mit der Dynamik des Kapitalismus, der die Unternehmen zu Investitionen, Erfindungen und Modernisierung treibt unter der ständigen Drohung, von der Konkurrenz verdrängt zu werden. So hatte Marx den Kapitalismus als eine der grundlegenden «Mächte» identifiziert, die unsere Welt bearbeiten, kneten und umformen. Es gibt andere, die eng verbunden sind: Zunächst der Staat in seiner bürokratischen Dimension: Er produziert ständig Gesetze, Normen und Massnahmen, die den Fortschritt begleiten und ankurbeln. Dann die «organisierte Wissenschaft», wie sie heute praktiziert wird – wo die Denker nicht mehr wie in früheren Zeiten unter eigenem Namen arbeiten, sondern in Forschungsinstituten, privaten oder öffentlichen, welche die Arbeit der Forscher organisieren und ausrichten, in dem sie ihnen Mittel zur Verfügung stellen, zu denen diese andernfalls niemals Zugang hätten. (Am weitesten treibt es dabei die Big Science im Stil des CERN oder des Max-Planck-Instituts). Ihr Resultat ist eine Welle wissenschaftlicher Eroberungen und technologischer Anwendungen, die das alltägliche Leben umgestalten. Diese drei «revolutionären» Kräfte, diese drei sozialen Welten, die sich gemeinsam im Laufe des 19. Jahrhunderts nach eigenen Regeln, Werten und objektiven Logiken (Suche nach Rentabilität, Macht, Wahrheit) geschaffen haben, dominieren die Gesellschaft heute mehr denn je. Aber wir erleben gleichzeitig einen paradoxen historischen Moment: Der «Forschritt» geht weiter, zumindest im Sinne einer immer stärker organisierten, mechanisierten und rationalisierten Welt, in der sich ökonomische und technologische Erfindungen in einer atemberaubenden Geschwindigkeit jagen.
Angeschlagener Fortschrittsglaube
Hingegen lassen die Häufung von Krisen und die düsteren Zukunftsaussichten den Fortschrittsglauben zerbröckeln. Wer glaubt heute noch ernsthaft, dass seine Kinder von besseren Lebensbedingungen profitieren werden als die unsrigen, da sie doch einen ausgeraubten Planeten erben werden, auf dem die Konkurrenz verschärft sein wird, sowohl bei den Arbeitsplätzen, als auch beim Zugang zu den Ressourcen. Der Fortschritt regiert, aber im Grunde glaubt niemand mehr an ihn.
Die Welt zu denken, die uns umgibt und konstituiert, die sich in ihr stellenden Probleme zu erfassen und Lösungen zu ersinnen – diese Aufgabe war schon immer gewagt und ist es heute noch. Aber sie ist unumgänglich, wenn man nicht zum Spielball der dominanten Dynamiken werden will. In Wahrheit setzt sich jeder mehr oder weniger tief mit ihr auseinander. Sie drängt sich jedem auf, der sich Sorgen um die Welt und die Zukunft macht, insbesondere den Intellektuellen, der Rolle Rechnung tragend, die sie in der Gesellschaft und für deren Entwicklungen spielen. Es ist unverantwortlich, ja gar unmöglich, sich dieser Aufgabe zu entziehen: Selbst jene, die dieses Prinzip diskreditieren, kommen schliesslich wieder darauf zurück, allerdings ohne es in seiner ganzen Dimension zu behandeln. Denn es braucht nicht nur die Grundsätze, die die grossen Linien zeichnen, um sich in dieser Welt zu orientieren, sondern auch eine Karte der präsenten Kräfte. Überlassen wir jene, die sich vor solchen Problematiken scheuen, ihrer fachlichen Routine. Und vertrauen wir vielmehr der einfachen Tatsache, dass sich rund um diese Fragestellungen die Überlegungen der «grössten Denker» mit jenen der «einfachen Leute» überschneiden.
Eine Diagnose der Gegenwart
Eben zu jenem Projekt des kritischen Verstehens der Gegenwart und der theoretischen Wiederaufnahme seiner epistemologischen Prinzipien und Ergebnisse, will dieses Buch beitragen. Dabei könnte es erstaunen, dass es jenen gewidmet ist, die normalerweise als «Gründungsväter der deutschen Soziologie» bezeichnet werden: Ferdinand Tönnies (1855 – 1935), Georg Simmel (1858 – 1918) und Max Weber (1864 – 1920), alle vor rund 150 Jahren geboren. Was können uns diese Denker aus vergangener Zeit, vergessen oder genau aus diesem Grund verkannt, über unsere heutige Welt lehren? Und warum wurde als Ausgangspunkt diese Soziologen gewählt, um sich dieser Art von Wissen zu nähern, wo doch seit Rousseau die Philosophie die geeignete Disziplin für derlei Fragestellung zu sein scheint?
Das Projekt, die «Gegenwart zu diagnostizieren», hat immer eine «philosophische» Dimension (...)– in dem Masse, wie es sich um eine Reflexion über uns selbst handelt, über Wesen, die durch diese Welt geformt werden und die in ihr verhangen bleiben. Man könnte sogar sagen, dass dieses Projekt auf eine soziohistorische Weise die antike sokratische
Aufforderung aufnimmt: «Erkenne dich selbst!»
Man muss jedoch feststellen, dass die Philosophen sich selten in dieser Materie hervorgetan haben, mangels historischer Kenntnisse und der erforderlichen theoretischen Perspektiven. Zu Anbruch unserer Epoche waren eher die Soziologen die Vorreiter in der Auseinandersetzung mit den negativen Folgen des Industriezeitalters – im Besonderen die deutschen Soziologen. Das intellektuelle Klima, in das sie hineingeboren wurden, war geprägt von der nationalen Einigung und einer verspäteten Industrialisierung und es brachte die Diagnose des Zeitgeschehens auf die Tagesordnung: Rund um den Jahrhundertwechsel (1890 – 1914) haben zahlreiche Intellektuelle jenseits des Rheins versucht, diese terra incognita zu umreissen, die sich unter ihren Augen in einer unerhörten Geschwindigkeit entfaltete, und die potenziellen Gefahren zu ermitteln, die in dieser ganz neuen Welt lauerten, welche brutal vom Kapitalismus, dem bürokratischen Staat und der organisierten Wissenschaft hervorgebracht wurde. Der «Fortschritt» ging so rasant, dass es unvorstellbar war, nicht die Gründe für diese plötzliche Beschleunigung zu suchen, die Gefahren zu erforschen, nicht herauszufinden zu wollen, wohin sie vorstösst, was sie uns entreisst und das jeweilige Gewicht der drei obengenannten Mächte in den ablaufenden Umwälzungen zu bestimmen.
Einleitung aus dem Buch von Aurélien Berlan: «La fabrique des derniers hommes. Retour sur le présent avec Tönnies, Simmel et Weber»; ed. La découverte, Paris 2012, bisher nur auf Französich erschienen.
Aurélien Berlan veröffentlicht mit diesem Buch seine Dissertation, für die er 2009 den «Frankfurter Dissertationspreis für Philosophie» erhielt.