Darwin gelingt es nicht, beobachtete Tatsachen von Interpretationen der Natürlichen Theologie von Paley zu trennen. Er erarbeitete den Mechanismus der natürlichen Auslese mit dem Ziel, die Theorie von Paley zu widerlegen. So sah er sich manchmal gezwungen, die Realität zu entstellen, um sie den Anforderungen seines Systems anzupassen. Der Begriff die Art - zentral in seinem Werk - ist das erste Opfer dieser ideologischen Methode.
«Die Entstehung der Arten» (EdA) ist eine Zusammenfassung der Arbeiten Darwins, die er während einem Jahr überarbeitete, nachdem er von der Publikation des zwölfseitigen Artikels eines anderen Naturalisten, Alfred Russel Wallace (1823-1913), erfuhr, der eine ähnliche Theorie darlegte. 1 Die Ideen, die er auf 600 Seiten darlegt, sind ziemlich einfach (viel einfacher als jene, die den aktuellen Darwinismus begründen) und können auf wenige Seiten gekürzt werden. Darwin selber fasst sie in der Einleitung und dem Schluss zusammen.
Der Mechanismus der natürlichen Selektion war nicht dazu geeignet, eine Weiterentwicklung zu ermöglichen, wie dies bei Descartes und Lamarck der Fall war. Sie entwickelten auf Grund einiger Prinzipien eine umfassende Konzeption des Lebewesens. Nachdem die Grundideen vorgestellt sind, beschränkt sich die EdA eigentlich auf eine Aufzählung von einzelnen Fällen und nicht auf eine Entwicklung. Darwin zieht laufend alle möglichen speziellen Beispiele in Betracht und weist nach, dass sie alle im Rahmen seiner Theorie verständlich sind, handle es sich um eine Pflanzen- oder Tierart, Probleme der geographischen Isolation, Klimaschwankungen, Fossilien u.s.f. Oft behandelt er das Beispiel sehr ausführlich und fügt zum Schluss in zwei Zeilen dazu, dass es im Rahmen der natürlichen Selektion verstanden werden kann.
All dies macht das Werk etwas mühsam (die aufgezählten Beispiele sind lange nicht alle spannend). Es ähnelt Werken der Kasuistik, wo man sich bemüht, jeden einzelnen moralischen Fall, sogar den Allerverrücktesten, im Lichte der Prinzipien christlicher Moral zu lösen. Einmal mehr ist hier der entscheidende Einfluss des rhetorischen Vorgehens von William Paley (Pfarrer und Theologe) in der intellektuellen Ausbildung Darwins nicht zu übersehen. Der Eindruck eines eintönigen Werks (was die Hypothese stützt, dass das Buch nicht ebenso aufmerksam gelesen, wie es verkauft und zitiert wird) verstärkt sich noch in der definitiven Fassung: Darwin antwortet auf Einwände in früheren Ausgaben, was die aufgezählten Beispiele, Richtigstellungen und Korrekturen vervielfacht und das Lesen äußerst schwierig gestaltet. Diese Zusätze führten dazu, dass einzelne Stellen völlig unverständlich wurden. Populäre Fassungen in England und Frankreich griffen schließlich auf die erste Fassung zurück, die direkter und verständlicher war.
Der Schwanz der Giraffe
Gewisse Überlegungen Darwins sind einleuchtend, andere wiederum an den Haaren herbeigezogen, so zum Beispiel die Erklärung über den Schwanz der Giraffe 2: Es handle sich dabei um einen Fliegenwedel, unabdingbar für das Überleben der Giraffe, weil sie damit Insekten als Krankheitsüberträger verscheuchen kann. Man findet zahlreiche Absätze dieser Art im EdA und sogar noch skurrilere. Es überwiegt der Eindruck, dass mit solchen Argumenten eine Erklärung ad hoc für alles gefunden werden kann. Man stellt sich Nützlichkeit und Vorteil einzelner Organe vor, obwohl ein Lebewesen offensichtlich ein Ganzes darstellt 3.
Der Physiologe Pierre Flourens (1794-1867), Anhänger der Theorie der Konstanz der Arten, erkannte sofort das Problem: «Herr Darwin veröffentlichte vor kurzem das Buch über die EdA. Der einfallsreiche und gelehrte Verfasser denkt, dass die Arten sich verändern. Leider sagt er aber nicht, was er unter Art versteht, und er weist auch keine sichere Definition vor. Er sieht sehr wohl, wie die Art sich verändert. Wer sieht das nicht? Er versteht jedoch die Grenzen dieser Variabilität nicht; und genau das sollte man feststellen. Der Autor bedient sich einer figürlichen Sprache, ohne sich dies einzugestehen, und er täuscht sich selbst, wie er auch alle seine Leser getäuscht hat. Das ist der grundlegende Fehler des Buches.» 4
Darwin gibt in seiner Biographie zu, dass die EdA nie das Erscheinen einer besonderen Art erörtert, und das Werk schlägt keine Definition darüber vor, was nach seiner Vorstellung Art bedeutet, nicht einmal im Glossar. Für eine Studie mit einem solchen Titel ist dies schon eher sonderbar. Statt auszuforschen, was eine Art darstellt, verwendet sich Darwin im Gegenteil dazu, die Art mit Begriffen wie Sorte und Rasse zu verwischen. Dies sticht vor allem im 7.Kapitel über den Hybridismus ins Auge. 5
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Hund und Katze
Es ist einfach festzustellen, dass Hund und Katze verschiedene Arten sind. In anderen Fällen ist es viel schwieriger herauszufinden, ob zwei sehr ähnliche Lebewesen zwei verschiedene Sorten der gleichen Art sind oder eben von verschiedenen Arten abstammen. Im Allgemeinen können sich verschiedene Sorten kreuzen, verschiedene Arten hingegen nicht. In Ausnahmefällen, z.B. bei Esel und Pferd entsteht ein Maultier oder Maulesel, die beide steril sind. Es handelt sich hier um sehr allgemeine Kriterien, die in vielen Fällen nur schwierig verifizierbar sind. Weil ihm eine absolute Definition für die Arten fehlt, und weil zahlreiche Beispiele zeigen, dass die Grenzen zwischen Art und Sorten ungewiss und schwierig auseinanderzuhalten sind, kommt Darwin zum Schluss, dass dieser Unterschied zwischen Art und Sorte nicht existiert!
Der Philosoph Etienne Gilson durchblickte die Motivation von Darwin, auf diese Weise mit Hilfe einer rein rhetorischen Argumentation zu einem trügerischen Schluss zu gelangen: «Darwin weiß, dass es in den Gedanken seiner Gegner eine Verbindung gibt zwischen dem Begriff der Konstanz der Arten und der Schöpfung. Aber er ist weniger Philosoph als Lamarck und versteht nicht, dass die beiden Begriffe nicht unbedingt in Beziehung zueinander stehen. Er gibt also sein bestes, um den Begriff der Art aufzulösen in eine Vielzahl praktisch nicht identifizierbarer Sorten» . Wenn es keine Arten gibt, so kann es keine getrennten Schöpfungen geben. 6
Während seinem Theologiestudium prägte sich Darwin ein, dass «die Natur keine Sprünge macht»: nur Gott kann brüske Veränderungen bewirken. Jeglicher plötzliche Umsturz kann als Zeichen eines göttlichen Eingriffs interpretiert werden. 7 Im Gegensatz dazu gestaltet Darwin den Mechanismus der natürlichen Auslese, in dem die Anpassung der Arten das Resultat einer andauernden und graduellen Transformation der Lebewesen ist, durch Selektion und Anhäufung von kleinen Veränderungen. Neu entstandene Arten sind also bloß «stark ausgeprägte Sorten», sonst könnte eine plötzliche Umwandlung einer Sorte in eine neue Art als Zeichen einer «speziellen Schöpfung» göttlicher Natur interpretiert werden. Darwin muss also Sorten und Arten vermischen, um die natürliche Auslese verallgemeinern zu können. Und so bagatellisiert er gewisse Tatsachen, von denen er selber sagt, dass sie sehr oft zu beobachten sind, um die Realität in den ideologischen Rahmen zu zwängen, den er sich a priori gegeben hat.
Tatsachen und Interpretationen
Darwin schafft es nicht, die Tatsachen, die von Beobachtungen herrühren, von den religiösen Interpretationen der natürlichen Theologie zu trennen. Und weil er diese Interpretation ablehnt, versucht er in seinem Werk, Tatsachen zu verharmlosen, ihnen keine Bedeutung zuzuschreiben und manchmal sogar ihre Realität zu verneinen. So täuscht sich Darwin in einer zentralen Frage für sein Werk – der Definition der Art –selbst. Er versucht, die anderen nicht davon zu überzeugen, dass gewisse Tatsachen anders interpretiert werden können, sondern dass die Tatsachen in sein neues Interpretationssystem gepresst werden sollen.
Diese Vorgehensweise ist nicht nur unwissenschaftlich, sie zeugt auch von einer großen Konfusion; es drängt sich die Feststellung auf, dass diese ideologische Art zu argumentieren, wo Tatsachen vor allem ein vorgegebenes System zu bestätigen haben, in der Wissenschaft eigentlich einen Betrug* darstellen. Aber die Tatsache, dass Darwin die EdA ständig korrigiert und ergänzt hat, zeigt, dass es sich bei ihm um einen unbewussten Betrug * handelt. Er handelte gutgläubig und verstand ganz einfach nicht, wieso seine Art zu denken auf Irrwege führt. Darwin verstand nicht, dass der Glaube keine Sache der Beobachtung, der Argumentation und Begründung ist, sondern vor allem das Produkt einer intimen Überzeugung. Sie vermag sich nicht in der Realität der äußeren Welt zu verankern (auch wenn diese dazu beitragen kann), sondern im Innersten der menschlichen Seele.
150 Jahre später
Es ist sonderbar festzustellen, dass nach 150 Jahren bei den modernen Darwinisten diese Konfusion immer noch besteht. Wenn der Astrophysiker Stephen Hawking Gott in seinen Werken erwähnt, würde kein Physiker ihn beschuldigen, dass er auf die biblische Schöpfungsgeschichte zurückkommen will, um die Entstehung des Universums zu erklären.
In der Biologie und speziell bei den Evolutionisten stößt das bloße Zweifeln an der Allmacht der natürlichen Selektion auf Verdächtigungen: Sind Sie vielleicht gläubig? Vertreter des Kreationismus oder Anhänger eines «intelligenten Plans»? Gott oder Darwin, außerhalb dieser beiden Kirchen gibt es kein Heil!
Einige Evolutionisten sind militante Atheisten, manche sogar fanatische wie Richard Dawkins, der vertritt, dass die Existenz Gottes ein wissenschaftliches Problem sei und erklärt, er könne nicht begreifen, dass jemand gläubig sein könne und gleichzeitig die Evolutionstheorie anerkenne. Als wären religiöse Texte wissenschaftliche Werke! Dawkins und andere machen die EdA zu ihrer Bibel und Darwin zu ihrem Propheten; ihre Engstirnigkeit, ihr Dogmatismus und ihre Intoleranz bezeugen dies. Ihre Religion ist die Wissenschaftsgläubigkeit,** die aus den Lebewesen und Menschen Automaten macht und das Universum bloß als eine riesige Anhäufung von Maschinen sieht.
Der Verfasser des Vorworts der Taschenbuchausgabe der EdA 8 fasst diesen Glaubensakt der Modernität zusammen: «Die Natur, die uns Darwin zeigt, ist eine stumme Natur». Auch wenn sich Gott im Herzen von Darwin (und den modernen Menschen) in Schweigen hüllt, ist die Natur deswegen nicht stumm: Sie redet bloß eine andere Sprache als jene der Theologie und der aktuellen Technowissenschaft. Sie ist von einer anderen Logik gesteuert als jene, die bei der Konstruktion von unseren Maschinen vorherrscht. Und ich denke, es ist nicht nötig gläubig, mystisch, schwärmerisch oder wirklichkeitsfremd (und noch weniger wissenschaftsgläubig) zu sein, um dies zu verstehen...
*Bertrand Louart ist Redakteur von Notes & Morceau choisis, Bulletin critique des Sciences, des technologies et de la société industrielle, im Verlag La Lenteur, Paris. Diese Artikelserie ist die Vorbereitung eines Buches mit dem Titel L’autonomie du vivant, in dem die Ideen und Analysen dieses Artikels eingehender behandelt werden.
- EdA, Verlag GF, 1992