Vor 200 Jahren gründete Lamarck die Biologie als eigene Wissenschaft; vor 150 Jahren veröffentlichte Darwin «Die Entstehung der Arten».** Die Geschichte der Biologie ist voll von Mythen und Legenden. Ihr Gegenstand, das Leben auf Erden, hat immer noch keine genaue wissenschaftliche Definition. In dieser Artikelserie beschreiben wir diese sonderbare Geschichte, in der Ideologie und Wissenschaft eng verknüpft sind.
Das Jahr 2009 bietet die Gelegenheit für mehrere wichtige historische Anlässe im Bereich der «Wissenschaften des Lebens». Zum einen ist Charles Darwin (12. Februar 1809 – 1882) vor zweihundert Jahren auf die Welt gekommen, und vor 150 Jahren wurde seine berühmte Publikation «Die Entstehung der Arten» veröffentlicht (24. November 1859). Man vergisst aber oft, dass vor zweihundert Jahren Jean-Baptiste Lamarck (1744 – 1832) das Buch «Zoologische Philosophie» (14. August 1809) publizierte, ein Werk das für die Biologie den Status als eigenständige Wissenschaft forderte und zum ersten Male eine Theorie über die Evolution der Lebewesen entwickelte. Sie basierte auf einer Theorie, die ihre einzigartige Natur und ihre interne Dynamik erklärte. (A. Pichtot, «Histoire de la notion de vie», Verlag Gallimard, coll. TEL, 1993)
Darwin ist nicht, wie fälschlicherweise geglaubt wird, der Autor einer Evolutionstheorie der Arten; sein Werk hat den Titel «Die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn» (UdA). Der Ausdruck «Evolution» fand in den Jahren um 1830 in England seine moderne Bedeutung durch Wissenschaftler, die Darwin kannte. Man findet ihn in keinem der von Darwin überarbeiteten und korrigierten Werke. Nur in der sechsten und letzten Auflage von 1876 steht er zweimal. Trotzdem sehen alle schon zu seinen Lebzeiten in seinem Werk eine Theorie über die Evolution.
Affe und Mensch
Um die angeblich heftige Opposition von damals gegen die Ideen zur Evolution zu illustrieren, erhält man die eine und scheinbar einzige Anekdote vorgesetzt, nämlich ein Schlagabtausch zwischen Thomas Huxley, der sich selbst als Bulldogge von Darwin bezeichnete und dem Bischof Samuel Wilberforce im Jahre 1860: Letzterer erkundigte sich beim anderen, ob er vom Affen durch seinen Großvater oder seine Großmutter abstamme. Darwin behandelte in seinem Buch UdA nicht den Ursprung des Menschen; erst zehn Jahre später ist in seiner Veröffentlichung «Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl» davon die Rede: Darin erklärte er, dass er lieber von einem netten Affen abstammen möchte, als von diesen schrecklichen Wilden, die er auf seiner Reise angetroffen hatte. Darwin nimmt im UdA mehrere schon von Lamarck fünfzig Jahre früher formulierte Ideen auf (die Benutzung oder die Nichtnutzung der Organe führt zu deren Entwicklung oder Verstümmelung, aber auch «die Vererbung von angeeigneten Charakteren», usf.). Seine Theorie wurde als Variante jener Lamarcks verstanden, der ausdrücklich erklärte, dass der Mensch vom Affen abstamme (genauer vom Vierhänder), was damals keinen Skandal auslöste (noch vorher beschrieb Linné die Ähnlichkeit des Körperbaus von Affe und Mensch, ohne deswegen eine direkte Abstammung herzuleiten und ohne Empörung auszulösen).
Konfusionen und Verwirrungen gibt es allenthalben. Wenn Darwin absichtlich nicht den Ausdruck Evolution verwandte, so deswegen, weil er nicht die Verschiedenartigkeit der lebenden Welt in ihrer Einheit und Dynamik verstehen wollte; anders gesagt, auch wenn dies paradox erscheinen mag, die Evolution war für Darwin ein fremdes Problem. Er versuchte vielmehr zu verstehen, wie und durch welche Mechanismen die Arten sich an ihre Lebensbedingungen anpassten; dies ist aber nur ein Teilproblem der Evolution.
Bei der Lektüre von UdA fällt auf, dass Darwin sich vehement der Idee der «speziellen Schöpfung» entgegenstellte, d.h. was wir heute Kreationismus nennen; gemäß dieser Auffassung hat Gott jede Gattung für sich geschaffen, sozusagen von eigener Hand, mit einem nur ihm bekannten Zweck. Trotzdem war dieser Kreationismus in England in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts nicht sehr verbreitet, obwohl Darwin mehrmals das Gegenteil behauptete. Es gab natürlich gewisse Wissenschafter, die Schöpfungsthesen vertraten (Cuvier, Lyell), dies allerdings nicht hauptsächlich aus religiösen Gründen. «Vor allem in den angelsächsischen Ländern interpretierten gewisse mehr oder weniger sektiererische Religionen die Bibel auf kuriose Weise; sie stellten sich die Schaffung des Menschen auf viel schlimmere Art vor, als jene, dass er vom Affen abstamme. Neben ihnen ist Darwin ein unschuldiges Kind.» (A. Pichot, Aux origines des théories raciales, Verlag Flammarion, 2008)
Glaube und Wissenschaft Dank Darwins Publikation UdA schwenkte die Mehrheit der Wissenschaftler zugunsten der evolutionären Thesen um. Aber seine Theorie, oder besser gesagt der Mechanismus der natürlichen Auswahl, mit der er die wichtigsten Transformationen der lebenden Welt erklärte, blieb noch während einem Jahrhundert umstritten.
Warum glaubte Darwin, dass die Schöpfungsthesen zu seiner Zeit dermaßen verbreitet seien, wieso fühlte er sich verpflichtet, während seines ganzen Lebens dagegen zu kämpfen, sogar nachdem sich die Idee der Evolution durchsetzte? Um dies zu verstehen, muss man seine Autobiographie von 1876 aufmerksam lesen: Nachdem er sein Medizinstudium an den Nagel hängte, schlug sein Vater ihm eine berufliche Laufbahn als Pfarrer vor. Er schrieb ihn also für drei Jahre für ein Theologiestudium an der Universität von Cambridge ein. Der sehr gläubige Darwin vertiefte sich mit Eifer in die Werke von William Paley (1743 – 1805) «Übersicht und Prüfung der Beweise und Zeugnisse für das Christentum» und die «Natürliche Theologie». Für William Paley wurde die Existenz und die Güte Gottes bewiesen durch die Existenz einer Ordnung der Natur: Die göttliche Vorsehung gestaltete das Universum auf harmonische Weise; sie versah die Lebewesen mit Organen, die genau ihren Funktionen angepasst waren, nach Gesetzen, die die göttliche Perfektion ausdrückte und diese dem Menschen nahe brachte, seinem wichtigsten Empfänger von Botschaften im Rahmen der Schöpfung. Die Anpassung der Lebewesen und die herrschende Harmonie waren der Beweis des göttlichen Eingriffs, wie auch Ausdruck eines «intelligenten Plans». Zweihundert Jahre später argumentieren einige Wissenschaftler, die der darwinschen Theorie widersprechen, die Evolution aber nicht verneinen, mit den gleichen Thesen, um die Idee eines Intelligent design zu unterstützen: also nichts Neues unter der Sonne!
In Cambridge interessierte sich Darwin sehr für die Geologie und das Studium von Insekten. Henslow, sein Professor für Wissenschaften, bemerkte sein Talent als minutiöser Beobachter und förderte seinen Forschungsdrang. Am Ende des Studiums verschaffte er ihm einen Platz als Naturforscher auf dem Beagle, einem Expeditionsschiff für Entdeckungs- und Vermessungsreisen, für eine Weltreise während fünf Jahren. In dieser Zeit beobachtete und entdeckte Darwin vieles. Zum einen, dass die Natur sich nicht als die Harmonie entpuppte, wie sie in der natürlichen Theologie vorgestellt wurde. Zum anderen schienen seine englischen und spanischen Glaubensbrüder die «Übersicht und Prüfung der Beweise und Zeugnisse für das Christentum» nicht zu respektieren: Sie misshandelten, ermordeten und versklavten die Einheimischen. Sein reiner Glaube an einen seinen Geschöpfe wohlgesinnten Gott wurde erschüttert.
Zweifel Zurück in England schrieb er seinen Reisebericht, seine Zweifel verstärkten sich. Er stellte jedoch die Existenz Gottes nicht in Frage. Als Naturwissenschaftler machte er Karriere in den einflussreichsten wissenschaftlichen Institutionen Englands; er bemühte sich, die natürliche Theologie von Paley zu widerlegen und zu beweisen, dass die «spezielle Schöpfung» nicht existiert, und dass ein einfacher Mechanismus, das «Gesetz der natürlichen Selektion» die verschiedenartige Anpassung der Arten zu erklären vermag. Es ist also bloß zweitrangig, dass die «Mutation der Arten» oder die «Abstammung mit Modifizierung» eine Evolution der Lebewesen impliziert.
Durch seine wissenschaftliche Arbeit versuchte Darwin, seine religiösen Überzeugungen und seine jugendlichen Illusionen abzustreifen. Wahrscheinlich übertrieb er auch deswegen die Popularität der Thesen von Paley. Es muss aber besonders betont werden, dass Darwin mit der Evakuierung von Gott und seiner «speziellen Schöpfung» sich nicht mit einem wirklich wissenschaftlichen Problem auseinandersetzte, sondern eigentlich vor allem mit einem ideologischen. Schon seit dem XVII. Jahrhundert entwickelte sich die wissenschaftliche Methode mit der Forderung nach Objektivität. Diese neuartige Forderung gab der Wissenschaft ihre Eigenheit im Vergleich zu anderen Formen des Wissens und der Kenntnis: sie schloss übernatürliche Mächte und unbekannte Einflüsse aus; sie verlangte auch vom Beobachter, seiner persönlichen Sensibilität, seinen Ideen und seinem Glauben keine Beachtung zu schenken und sich voll auf die elementaren Qualitäten des Untersuchungsobjekts zu konzentrieren. Dieses Ideal der Wissenschaft war oft schwierig zu erreichen, aber es gewann im XIX. Jahrhundert noch an Bedeutung.
Entgegen allem Anschein und obwohl sie der Form entsprachen, wurden gewisse Arbeiten von Darwin und im speziellen vom UdA dem Rahmen der wissenschaftlichen Methode nicht gerecht: Darwin versuchte nicht, die Phänomene der Natur, die Existenz der Lebewesen und ihre Verschiedenartigkeit an sich zu verstehen. Im Gegenteil, er bekämpfte eine Ideologie, die Idee eines göttlichen Eingriffs in die Schaffung der Arten. Es handelt sich also vor allem um ein anti-theologisches Werk. Es besteht kein Zweifel, dass dieser Streit legitim war; die Natürliche Theologie, die Schöpfungsthesen und jene vom Intelligent design sind eine Ansammlung von Märchen für Kinder oder Erwachsene, die an eine Autorität glauben wollen. Die Wichtigkeit dieser Auseinandersetzung im Jahre 1859 ist aber fragwürdig. Paley war schon tot und begraben, einige Jahre bevor Darwin das Licht der Welt erblickte. Paley war Pfarrer und kein Naturforscher und geriet fünfzig Jahre später völlig in Vergessenheit. Hätte Darwin nicht von ihm gesprochen, würden ihn bloß einige Theologen kennen.
Diese im wesentlichen ideologische Motivation verzerrte die Art, in der Darwin seine Ideen, seine Ausführungen und seine Theorie darlegte. Nicht das Untersuchungsobjekt, die Lebewesen so wie sie sich in der Realität zeigen, leitete seine Forschungen und Analysen, sondern es ging ihm darum, die Ideologie und die Art und Weise wie das Leben a priori dargestellt wurde, zu widerlegen. Und so vertrat er seine Thesen als Gegenargumentation und bezog die Tatsachen auch darauf.
* Bertrand Louart ist Redaktor von Notes & Morceaux choisis, Bulletin critique des Sciences, des technologies et de la société industrielle, im Verlag La Lenteur, Paris. Diese Artikelserie ist die Vorbereitung eines Buches mit dem Titel L’autonomie du vivant, in dem die Ideen und Analysen dieses Artikels eingehender behandelt werden.