GESTERN - HEUTE - MORGEN: Utopie

von Caroline Meijers, Philosophie- und Geschichtsstudentin, 17.11.2014, Veröffentlicht in Archipel 231

Warum heute über Utopie(n) sprechen? Vielleicht weil die Zeiten längst vergangen sind, wo man eine rosige Zukunft erwartet hat oder gar aktiv auf sie zugegangen ist. Wenn es denn wieder einmal Zeit wäre, die Welt zu verändern, hier und jetzt, so lohnt es sich, dem Begriff der Utopie auf den Grund zu gehen. 3. Teil einer historischen und philosophischen Annäherung: Die Idee der Utopie – Kritik und Gefahren.

Die erste Annäherung ist historischer Art und ergibt sich aus der Kritik von Karl Marx und Friedrich Engels an den von ihnen so genannten «Utopisten» ihrer Zeit wie Charles Fourrier mit seiner Idee der «Phalansterien»1, Saint Simon und Robert Owen mit ihren Ideen der Produktionsgenossenschaften und vielen anderen, weniger bekannten. Laut Marx und Engels waren diese Ideen nichts als unrealistische Träume, welche die Arbeiter vom Klassenkampf ablenkten, dem einzigen tauglichen Mittel, um eine neue Gesellschaft aufzubauen. Die Begriffe «Utopisten» und «Utopie» hatten bei Marx und Engels also eine eindeutig negative Färbung.

Was die Sozialisten vor Marx letztlich vom «wissenschaftlichen Sozialismus» unterscheidet, ist die Tatsache, dass letzterer den politischen und ökonomischen Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus als Folge des Kampfes der proletarischen Klasse beschreibt, eines Kampfes, der zunächst ganz bewusst die politische und ökonomische Übergangsphase des unbedeutenderen Sozialismus in Kauf nimmt, bevor er zum gemeinsamen Ziel führt, wie es auch von den «Utopisten» (ich verwende hier den Begriff von Marx, der so die ersten Sozialisten bezeichnet) angestrebt wird: der Beseitigung des Marktes, des Geldes, des Lohnes, der Klassen und des Staates. Das ist der ideale kommunistische Staat, der sich übrigens – daran sei erinnert – in nichts vom Ideal der Anarchisten unterscheidet. Auch hier besteht der Unterschied darin, wie denn diese ideale Gesellschaft erreicht werden kann. Die Utopisten wie Fourrier, Owen und Saint-Simon wollten ihre Gemeinschaften unmittelbar an den jeweiligen Orten ihres Wirkens errichten und zählten dabei auf die finanzielle und moralische Unterstützung reicher Philanthropen.2 Marx und Engels meinen, die utopistischen Sozialisten und Kommunisten konnten sich – als kleine Sekte, die keinen Zugang zur arbeitenden Bevölkerung fand – nur «Systeme ausdenken» und eine «phantastische Lösung erdenken», aber jetzt (zu Marx` Zeiten) sei es möglich, die Tendenz zum Kommunismus im historischen Prozess selbst zu erkennen und ihn durch wissenschaftliche Analyse voran zu treiben. «In unseren Augen sind diejenigen Utopisten, die politische Formen von ihrer gesellschaftlichen Unterlage trennen und sie als allgemeine abstrakte Dogmen hinstellen.»
Die Kritik von Marx und Engels an den Ideen, die ich hier einfachheitshalber utopistisch nenne, lebt noch heute, hauptsächlich seitens der äußersten linken, marxistisch orientierten Parteien und der Anarchosyndikalisten.
Totalitäre Utopie Die zweite Schwierigkeit in Bezug auf den Begriff der Utopie ergibt sich aus der Idee selbst. Denn die Ideen der Utopisten neigen dazu, auf die gesamte Gesellschaft abzuzielen und das Funktionieren einer perfekten Gesellschaft bis in alle Details steuern zu wollen, so wie es Thomas More in seinem berühmten Buch Utopia3 vorgeschlagen hat, seinerseits inspiriert von Platons Buch Politeia. Nun gibt es da aber, da die Gesellschaft perfekt ist, weder für Anfechtungen noch für Veränderungen Raum. Und eine solche Gesellschaft wäre von der Tendenz her totalitär, weil sie das Leben der Menschen bis in ihr Privates bestimmen würde. Die Denker Richard Saage und Karl Popper gehören zu den eifrigsten Kritikern, insbesondere von Platons Politeia. Eines der Prinzipien des idealen Staates von Platon ist dessen Unveränderbarkeit und die Abwesenheit von Konflikten, denn «Veränderungen sind schlecht, die Ruhe wäre göttlich».4 Zudem sind diese Utopien normativ, das heißt, sie schreiben vor, welche Moral in diesen Gesellschaften herrschen soll, damit das allgemeine Wohl erreicht werden kann. Das Individuum ist also der Gemeinschaft untergeordnet. Dass man auf ein Ziel fixiert ist, das es zu erreichen gilt, führt notgedrungen über kurz oder lang zur Anwendung von Gewalt. Denn das Ziel würde die Mittel heiligen. Und weil es sehr wohl möglich ist, dass in Krisenzeiten, also in Zeiten der Veränderung, die Ideen, nach denen eine ideale Gesellschaft anzustreben ist, sich ändern, ist die Idee der Utopie als solche bald in Gefahr. Denn es ist sehr wohl möglich, dass die Schritte, die angebracht erschienen, um ein bestimmtes Ideal zu erreichen, nun, da die Ideen über die anzustrebenden Ideale sich verändern, in eine falsche Richtung und vom angestrebten Ziel weg führen. In diesem Fall kann sich die Anwendung von Gewalt als einzige Möglichkeit erweisen, um eine Neuausrichtung des angestrebten Ziels zu verhindern. Und diese Gewalt wäre begleitet von Propaganda und der Unterdrückung jeglicher Kritik und Opposition.
Kriterien einer gerechten Gesellschaft Neben den Philosophen, die nach einer idealen Gesellschaft suchen, gibt es solche, die dafür einstehen, die Kriterien festzulegen, nach denen eine gerechte Gesellschaft funktionieren soll, und nicht das anzustrebende Gesellschaftsprojekt als solches. Einer der wichtigsten Philosophen dieser Schule war Emmanuel Kant. Und der kategorische Imperativ ist einer seiner wichtigsten Gedanken. Es geht um einen Imperativ, also um eine Pflicht, die all unserem Handeln zugrunde liegen soll: «Handle so, als ob die Maxime [das Motiv] deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.»5
Die philosophische Disziplin der Ontologie tritt den Utopisten entgegen. Denn diese versuchen das Ziel festzulegen, das zu erreichen ist, während Philosophen wie Kant Prinzipien herauszuarbeiten versuchen, nach denen eine gerechte Gesellschaft funktionieren sollte. Vielleicht brauchen wir Ideen von diesen beiden Denkströmungen. Bleibt noch die äußerst wichtige Frage, gestellt von Karl Mannheim, nach dem Verhältnis zwischen Utopie und Geschichtsverständnis des Menschen: «Die Utopie kann auch als Methode und nicht bloß als Ziel oder Zweck einer Handlung betrachtet werden. Sie soll in die Zukunft weisen und den Weg beschreiben, den man beschreiten kann und will. Entscheidend ist zu akzeptieren, dass dieses Kann oder dieses Will sich nicht in ein Soll verwandelt. Sonst fallen die Politik und die Wissenschaft ins Moralische. Und Utopismus ist immer moralistisch.»6
In der nächsten Nummer erscheint der 4.Teil dieser Serie in dem es um die Notwendigkeit utopischer Ideen geht.

  1. Organische Anordnung von Elementen, die für das harmonische Leben einer Gemeinschaft als notwendig betrachtet werden. Phalansterien wurden im 19. Jahrhundert in Frankreich und den Vereinigten Staaten in unzähligen Umsetzungsversuchen angestrebt.
  2. «Vergeblich fragte Fourrier nach und nach alle Regierungen an, die an der Macht waren, ungeachtet ihrer politischen Ausrichtung: Empire, Restauration, Ultras, Liberale. Vergeblich trug er eine Liste von möglichen reichen Kandidaten zusammen. Am Schluss waren es 4‘000. Ein einziger ließe sich bestimmt dazu bringen!» Gian Mario Bravo, Les socialistes avant Marx, Paris 1970
  3. Utopia, übersetzt von Gerhard Ritter, Reclam, Stuttgart 1964
  4. Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2, 7. Auflage, Tübingen 1992, in Arno Waschkuhn, Politische Utopien, München 2003
  5. Emmanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Prolegomena, Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff
  6. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie (1929)