An vielen Orten und in etlichen Medien wird das 150ste Geburtsjahr der Pariser Kommune zelebriert und deren Geschichte analysiert. Wir haben den Historiker und Lehrer Laurent Bihl, gebeten, seine Sichtweise der Geschichte und die Parallelen zu heute zu erörtern. Vorher aber eine kurze Erläuterung zu diesem historischen Ereignis:
Die Pariser Kommune währte vom 18. März bis zum 28. Mai 1871 und entstand während des Preussisch-Französischen Krieges als Antwort auf die tiefgreifende Ungleichheit und Absenz demokratischer Mitbestimmung, auf die das Zweite Kaiserreich Frankreichs begründet war. Diese Missstände waren auch in der Dritten Republik, die im September 1870 ausgerufen wurde, weiterhin präsent.
Die Commune war der Versuch, eine demokratische Gesellschaftsform aufzubauen und die Stadt nach sozialistischen Vorstellungen zu verwalten. Bereits im Vorfeld der Commune waren Clubs und Komitees entstanden, in denen politische Diskussionen über solidarische Strukturen und Selbstbestimmung stattfanden. Diese Tatsache färbte auch auf andere französische Städte ab. Während der Pariser Kommune bildeten sich die ersten feministischen Organisationen, die für die Rechte der Frauen in der Gesellschaft kämpften. Die Frauen verlangten und bekamen in dieser kurzen Zeit erstmals das Recht auf Arbeit und gleichen Lohn wie die Männer und erstritten weitere Rechte wie die Gleichstellung ehelicher und nicht ehelicher Kinder sowie die Säkularisierung von Bildungs- und Krankenpflegeeinrichtungen. Es wurden Reformen für Kultur, Bildungswesen, für die Arbeiter_innen, die Armen oder Kranken durchgedacht und – in der kurzen Zeit – zum Teil auch realisiert. Am 21. Mai 1871 drangen jedoch schwer bewaffnete Regierungstruppen durch ein unbewachtes Tor in die Stadt ein. Die Organisationsstrukturen der Kommune brachen zusammen und es kam zu schrecklichen Strassenkämpfen in den Pariser Stadtbezirken. In dieser sogenannten „blutigen Maiwoche“ wurde die Pariser Kommune niedergeschlagen. Trotzdem hat dieser Volksaufstand mit seinen Akteur_inn_en wie z.B. Louise Michel tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen und wirkt – bis heute – weiter in etlichen selbstverwalteten und sozial orientierten Projekten.
Interview mit Laurent Bihl
Ich habe es nie geschafft, eine wirklich angemessene Unterrichtsstunde über die Pariser Kommune (la Commune de Paris) abzuhalten – zu komplex. Manchmal habe ich eine entschärfte Vision abgeliefert, ein anderes Mal bin ich in die Falle getappt, die Protagonist_inn_en als Märtyrer_innen darzustellen. Im Gegensatz zu der landläufigen Meinung ist ein leidenschaftlicher Lehrer nicht automatisch ein faszinierender Lehrer. Für den Aufstand der Pariser Kommune von 1871 ist jedoch beides wesentlich: Leidenschaft und Faszination. In einem Interview über sein kürzlich erschienenes monumentales Diktionär der Commune bestätigte Michel Cordillot gegenüber der Zeitung Libération: „Die Hundertjahrfeier der Commune fand drei Jahre nach dem Mai '68 statt, und diese Geschichte war eine leidenschaftliche Geschichte. Wir sind damals einen Schritt zurückgetreten und haben all diese sorgfältig konstruierten Mythen dekonstruiert.“ Nur ein Beispiel: Am 27. Mai 1888, während einer kollektiven Ehrung an der „Mur des Fédérés“, schoss ein Anarchist auf Eudes und tötete, statt ihm, versehentlich einen älteren Herrn in der Nähe. Besagter Eudes war einer jener Ex-Blanquisten(1), die gerade dabei waren, mit Waffen und Gepäck dem nationalistischen und antisemitischen Lager von General Boulanger beizutreten, einem Vorläufer – wie einige Historiker_innen meinen – der kommenden faschistischen Wellen in Europa.
Mythen? Ja, das Wort ist stark
Da die Commune so vielfältig und gespalten war, scheint es ganz logisch, dass jeder seinen eigenen Mythos aufgebaut hat, angefangen bei den Protagonist_inn_en selbst. Wie man sieht: Die Geschichte ist nicht einfach... Da ich keineswegs als Spezialist für die Pariser Kommune gelten kann, bin ich ebenso wenig in der Lage, sie auf zwei Seiten zusammenzufassen oder ihren unglaublichen ideologischen und politischen Reichtum wiederzugeben – den Höhepunkt eines 19.Jahrhunderts der Utopie, die wir nicht mehr kennen und welche die Aufständischen von 1871 in sich trugen, als sie sich bemühten, diese in die Praxis umzusetzen. Sie wollten den Horizont weiter spannen als das allgemeine männliche Wahlrecht in einer Demokratie, in der die sozialen Ungleichheiten genauso festgeschrieben waren wie die individuellen Freiheiten. Ich werde mich deshalb hier darauf beschränken, auf zwei oder drei Elemente hinzuweisen, in der Hoffnung, dass die Leser_innen ein paar Denkanstösse in Bezug zum heutigen Zeitgeschehen finden mögen. Dies wird zumindest einen Beweis dafür liefern, dass bestimmte Themen der Commune sehr aktuell sind.
Wissenschaftliche Guillotine
Die erste Bemerkung betrifft die Zahl der Opfer. In der geläufigen Geschichtsschreibung wurde die Zahl der Toten auf 20 bis 30.000 geschätzt. Die jüngste Studie eines englischen Professors, Richard Tombs, beziffert sie jedoch „nur“ auf 5.700 bis 7.400 Tote. Seine Zahlen scheinen eine absolute Untergrenze darzustellen. Es geht hier um eine Diskrepanz von eins zu vier, die darauf hindeutet, dass eine kämpferische Erinnerung die Zahl der Opfer aufgebläht haben könnte. Tombs hält jedoch nur die Todesfälle für zuverlässig, von denen er in den Archiven eine Spur gefunden hat. Ja, diese sind unanfechtbar, und die Verschwundenen sind für den Historiker offenbar keine Toten, denn sie sind nicht Teil des Archivs. Wenn Camille Pelletan in den 1880er Jahren die Zahl der Todesopfer auf 30.000 schätzte und die Überlebenden ihm in dieser Schätzung zustimmten, handelte es sich nur um deren Meinung oder um die Fassungslosigkeit des Augenblicks, getragen von einer unzuverlässigen „gemeinsamen“ Erinnerung. Eine Historikerin namens Michèle Audin hat glücklicherweise dem englischen Historiker kürzlich widersprochen(2) und die Zahl von 20.000 angegeben, aber das scheint niemanden der Gilde zu interessieren. Worauf es ankommt, ist der „wissenschaftliche“ Anspruch, sich nur auf „harte Fakten“ zu stützen und alle Zeugnisse unter dem Vorwand abzulehnen, sie seien nicht „überprüfbar“. Ein Historiker oder eine Historikerin behauptet oder vermutet nicht, nein, er oder sie „beweist“. Eine solche wissenschaftliche Guillotine hatten wir auch bei den Meutereien von 1917, allein auf der Grundlage von militärischen Aufzeichnungen über das Erscheinen vor einem Richter. Und wie steht es mit den Erschiessungen ohne Verfahren? Natürlich ein Hirngespinst, weil es keine Archive gibt. Wie viele der eilig verscharrten Leichen, die noch bis in die 1960er Jahre auf städtischen Baustellen ausgegraben wurden, werden in der traurigen Bilanz der „blutigen Woche“ während der Commune nie ihren Platz finden? Zurzeit gibt es in Spanien eine aktuelle Polemik, dabei geht es um die Opfer einer anderen Repression. Nur ein paar hundert Tote wurden beim „weissen Terror“ von 1815 registriert, über den es nur wenige Aufzeichnungen gibt, obwohl er tiefe Spuren in der Erinnerung und der Literatur des 19. Jahrhunderts hinterlassen hat.
Wo ist die Selbstverwaltung?
Zweiter Anlass für mein Erstaunen: Für eine Revolution, deren Ziel es ist, ohne Anführer_innen zu funktionieren, kann das Märtyrertum der Pariser Kommune stutzig machen. Es gibt den Kult des aufständischen Helden, doch auch hier gehen die Meinungen weit auseinander. Wer war ein Held oder eine Heldin? Wenn auch in allen Zeitungen das Werk der Commune recht gut in Erinnerung gerufen wird, fehlt immer noch ein Detail – ach ja, unbedeutend könnte man sagen: die Selbstverwaltung.
Éric Piolle, der grüne Bürgermeister von Grenoble, behauptet in der Tageszeitung Libération vom 20./21. März 2021 ein Anhänger der antiproduktivistischen Commune und derjenigen des Föderalismus zu sein, was ich ziemlich mutig finde. Es wäre jedoch amüsant, die aktuellen Tonangebenden der Linken über das Verbot von Privatbanken oder über die Selbstverwaltung zu befragen, beides Themen, die aus dem Brutkasten der Commune stammen. Sie, die ständig proklamieren, dass die Commune die Pionierin der Ökologie, des Feminismus und des Säkularismus gewesen sei.
Bezug zum Kolonialismus
Dritte Bemerkung: Ich bin überrascht, dass es nur ganz wenige Spezialist_inn_en gibt, die überhaupt das Phänomen der Unterdrückung von sozialen Volksbewegungen bei uns mit der kolonialen Gewalt in Zusammenhang bringen. Lassen Sie mich das erklären: Der Verantwortliche für die Zerschlagung des Pariser Arbeiter_innenaufstandes im Juni 1848 war General Cavaignac, der gerade aus Algerien zurückgekehrt war, wo er als erster unter dem Befehl von Thomas Robert Bugeaud, Marschall von Frankreich, das «Ausräuchern» der Rebell_inn_en praktiziert hatte. (Um den algerischen Aufstand niederzuschlagen, zündete die französische Armee die Eingänge zu den Höhlen an, in denen die rebellischen Stämme Zuflucht gesucht hatten. Im Dahra-Massiv starben so mehr als 700 Menschen. Anm. d.Red.). General Saint-Arnaud war zum Zeitpunkt des Staatsstreichs vom 2. Dezember 1851 ebenfalls von Bugeaud geschult und hatte mehr oder weniger das gleiche Profil.
Als Leutnant in diesem Algerien der Dreissigerjahre des 19. Jahrhunderts verdiente sich der Fremdenlegionär und spätere Militärgouverneur von Paris, Joseph Vinoy, in zwanzig Jahren militärischer Unmenschlichkeit alle seine Streifen. Dies führte dazu, dass er 1851 mit der Unterdrückung des Volksaufstandes in den Basses-Alpes im Süden Frankreichs betraut wurde, bevor er 1871 einer der Anführer in Versailles wurde. Er liess den 30-jährigen Arbeiter und Blanquisten Émil Duval und einige andere Überlebende nach dem verzweifelten Einsatz vom 4. April(3) festnehmen und auf dem Plateau von Châtillon erschiessen. Galliffet schliesslich, der für die blutige „Säuberung“ der Strassen von Paris am Ende der Kämpfe verantwortlich war, ist 1857 als Leutnant nach Algerien geschickt worden und hatte an allen Expeditionen dieser Zeit teilgenommen. Dann beteiligte er sich an dem finsteren neokolonialen Abenteuer in Mexiko und an der Belagerung von Puebla 1863(4), woraufhin er verwundet und im Anschluss mit der Anordnung aller Operationen der Konterguerilla beauftragt wurde. Obwohl ich kein Spezialist für Militärgeschichte bin, beschäftigte ich mich mit den beiden Korps von Galliffets Brigade, dem 9. und 12. Reiterbataillon: Das 12. Bataillon zeichnete sich bereits im März 1863 bei der Belagerung von Puebla aus. Aber es ist das 9. Bataillon, das eine „vorbildliche“ Dienstbilanz vorweisen kann: Es war von 1868 bis 1870 in Algerien im Einsatz, wo seine Männer den Anfängen dessen gegenüberstanden, was 1871, nach der Commune, zum allgemeinen Aufstand in der Kabylei (Bergregion mit eigener ethnischer Gruppe im Norden Algeriens, Anm. d. Red.) werden sollte. So massakrierten sie damals unter dem Befehl von Cérez die Einheimischen in Laghouat. Dann amtierten sie unter Galliffet während der „blutigen Woche“ der Pariser Kommune, bevor sie (anscheinend, denn die Informationen sind widersprüchlich) nach Algerien zurückkehrten, um unter Cérez die Morde an den aufständischen Kabyl_inn_en weiterzuführen.
Moral
Es sind am Ende die gleichen Leute, welche die Rebell_inn_en auf beiden Seiten des Mittelmeers massakrieren. Die kolonialisierten Menschen und die sozialistischen Kämpfer_innen hier bei uns werden von der gleichen liberalen Bourgeoisie (vermischt mit nostalgischen Monarchist_inn_en) unterdrückt, mit den gleichen Methoden, der gleichen Grausamkeit, die von den gleichen Prinzipien ausgeht.
Ich möchte mit einer Anekdote enden: Im März 1971 versuchte eine von der Kommunistischen Liga und der Proletarischen Linken initiierte Demonstration in Paris die Kathedrale Sacré Cœur, Symbol der Zerschlagung der Commune, zu stürmen. Die Ordnungskräfte griffen an und die Zusammenstösse dauerten bis zum Einbruch der Nacht. Die Folge: 27 Verletzte in den Reihen der Polizei. In dieser Zeit wurden die Zahlen der verletzten Demonstrierenden selten veröffentlicht. Die Historiker_innen von morgen, die sich für solche Phänomene interessieren, werden vielleicht das Wiederauftauchen mehrerer Krankenhausregister bemerken, denen die Seiten über die Nächte nach den Demonstrationen herausgerissen wurden. Das „beweist“, dass auch im Mai '68 und im folgenden Jahrzehnt die Ordnungskräfte sehr nett und harmlos waren...
Aber wie Michèle Riot-Sarcey in einem bemerkenswerten Artikel in einer Sonderausgabe der französischen Tageszeitung von L'Humanité erfreulicherweise feststellt, „… wäre es vielleicht an der Zeit, die Geschichte der Arbeiter_innenbewegung zu überdenken, damit die assoziative Bewegung und die autonome Organisation der Arbeiter_innen wieder ihren vollen Platz einnehmen und somit das Erbe der Commune weitergetragen werden kann.“ Und die Historikerin führt als Beispiel die Bewegung der „Ronds points de Commercy“(5) im Dezember 2019 an.
Laurent Bihl, Geschichtsprofessor an der Sorbonne, Paris
- Michèle Audin, La semaine sanglante. Mai 1871: légendes et comptes, Paris, Editions Libertalia, 2021
- Blanquist: sich auf den grossen Revolutionär Lois-Auguste Blanqui (1805-1881) berufend.
- Am 4. April 1781: Die Offensive der Kommunarden scheitert bei Châtillon, etwa 1500 Mann werden als Gefangene nach Versailles gebracht. (Anm. d. Red.)
- 1862 drangen die Franzosen in das mexikanische Hochland vor, besiegten nach der verlorenen Schlacht bei Puebla am 5. Mai 1862 (heute als Feiertag «Cinco de Mayo»gefeiert) schliesslich die mexikanischen Truppen und besetzten die Hauptstadt des Landes. Napoleon III setzte Erzherzog Maximilian von Habsburg, den Bruder von Kaiser Franz Joseph I. von Österreich, als Kaiser von Mexiko ein. (Anm. d. Red.)
- Appell von Commercy, Forderungen der Gelbwesten-Protestbewegung in Frankreich 2019 und Anfang 2020