Wieviel Westen steckt im modernen Islam? In der Debatte über den Islam ist oft die Rede von einer Identität, die mit den westlichen Werten unvereinbar sei. Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Münster, zeigt im Folgenden auf, dass der moderne Islam, radikal oder gemäßigt, nicht als Fortsetzung des traditionellen Islam angesehen werden kann und dass er mehr von der Kolonisierung als von seinen historischen Quellen geprägt ist.
Wir Kulturwissenschaftler – und gerade wir, die wir uns mit außereuropäischen Kulturen beschäftigen – sind Experten für das Fremde. Wir sind gestählte Recken im Kampf gegen eurozentrische Wahrnehmungen fremder Kulturen. Wir sind Alteritätsdetektoren, die aufspüren, wie in anderen Kulturen anders gelebt, gedacht und gefühlt wird, und wir werden nicht müde, vor vorschnellen Gleichsetzungen von Phänomenen fremder Kulturen mit scheinbar ähnlichen Phänomenen in der eigenen Kultur zu warnen. So kämpften wir also lange dagegen an, im Fremden immer nur ein Spiegelbild – und sei es ein verzerrtes – des Eigenen zu sehen.
Inzwischen aber, so scheint es, hat sich die Problemlage schier umgekehrt. Heute wird der Blick auf andere Kulturen vorwiegend durch jene verzerrt, die gerade die Andersartigkeit anderer Kulturen betonen. Dieser «Kulturalismus» mag alte Wurzeln haben, ist aber erst im Laufe der letzen Jahrzehnte zur dominanten Sichtweise auf das Fremde geworden. Kulturalisten glauben, dass es verschiedene, klar voneinander abgrenzbare Kulturen gibt. Diese Kulturen haben jeweils ein bestimmtes Wesen, das sie tief prägt und das sich auch über die Geschichte hinweg kaum ändert. Die Menschen, so würden Kulturalisten behaupten, seien durch die Zugehörigkeit zu ihrer Kultur so tief geprägt, dass sie auch nach einer Migration in eine andere Kultur – oft generationenlang – nicht zu einer Anpassung fähig sind. Dabei gilt stets die Religion mit ihren Normen als wichtigster kulturprägender Faktor.
Es sind keineswegs nur böse oder uneinsichtige Menschen, die sich eine solche kulturalistische Weltsicht angeeignet haben. Auch der ansonsten schätzenswerte Altbundeskanzler Helmut Schmidt etwa hat einen Artikel verfasst, dem er die Überschrift gab: «Sind die Türken Europäer? Nein, sie passen nicht dazu.» Sie sehen daran schon, welche enormen politischen Auswirkungen eine solche Betrachtungsweise hat. Sie prägt unsere Debatten über Migration und Integration und immer wieder die Diskussion über «den Islam» (und sie verrät ihre kulturalistische Prägung schon allein dadurch, dass sie voraussetzt, es gäbe so etwas wie den Islam).
Übrigens findet man auch auf der Gegenseite kulturalistische Argumentationen, etwa wenn unkritische Islamophilie dazu führt, dass auch noch die übelsten Scharia-Strafen verteidigt werden mit dem Argument, es handele sich nun einmal um eine andere Kultur, die nicht mit unseren Maßstäben gemessen werden dürfe, oder wenn asiatische Staatschefs vermeintlich «asiatische» Werte proklamieren, um damit Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen. Kulturrelativismus ist oft auch nur eine Spielart des Kulturalismus.
Natürlich haben es die Kultur- und Sozialwissenschaften nicht dabei bewenden lassen und Einspruch erhoben und Ansätze entwickelt, die einer einseitig kulturalistischen Blickweise widersprechen; ich nenne etwa eine Theorie wie die der multiple modernities oder kulturwissenschaftliche Projekte wie das Programm «Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa» des Wissenschaftskollegs und der Berlin-Brandenburgischen Akademie. Diese und viele andere Forschungen zeigen, dass ein essentialistischer Begriff von Kultur an der Realität vorbeigeht, dass es kein unveränderliches «Wesen» von Kulturen gibt. Ähnlich wie Sprachen vor ihrer Normierung nur als Dialektkontinua existieren, existieren auch Kulturen nur als Kontinua von Vorstellungen und symbolischen Sinnsystemen, die stets im Wandel befindlich und daher prinzipiell offen sind und sich jeder exakten Grenzziehung verweigern.
Kontinuität oder Bruch?
Dies gilt natürlich auch – und wahrscheinlich sogar in besonderem Maße – für den modernen Islam. Jedenfalls klaffen hier die allgemeine Wahrnehmung und die Sicht der Wissenschaftler besonders weit auseinander. Es ist fast schon islamwissenschaftlicher Konsens, dass der Islam der Gegenwart keine direkte Fortsetzung des traditionellen Islams ist, sondern ein Produkt der globalisierten Moderne. Dies gilt nicht nur für den sogenannten liberalen Islam, sondern auch für den fundamentalistischen Islam und für islamistische Ideologien. Auch diese lassen sich keineswegs aus der islamischen Tradition heraus erklären. Für das zentrale Anliegen des Islamismus, nämlich den islamischen Staat, stellt etwa der sudanesische Intellektuelle Abdullahi an-Na’im fest: «Welch eine Ironie, dass sowohl der sogenannte ‚islamische Staat’ als auch die Idee, die Scharia als positives Recht im Namen islamischer Selbstbestimmung durchzusetzen, Übersetzungen des europäischen Nationalstaats und europäischer Modelle positiven Rechts sind – und keine Wiedergeburt eines «authentischen» oder kohärenten Produkts der historischen islamischen Tradition.»
Der kulturalistische Diskurs übersieht diese historische Dimension des modernen Islams und will dessen Eigenschaften aus einem überzeitlichen Wesen des Islams erklären – und zwar gerade und besonders die negativen Erscheinungen des zeitgenössischen Islams. Ein schönes Beispiel für eine solche kulturalistische Argumentation konnten wir vor einigen Wochen in der «Zeit» lesen, wo der bekannte Journalist Ulrich Greiner schrieb: «Es mag sein, dass der Islam einst eine vorbildliche Kultur der Toleranz dargestellt hat. Der Blick auf die Vergangenheit jedoch führt zu nichts. Wie sind der Koran und seine Bemerkungen über Andersgläubige oder Abtrünnige zu verstehen? Ist die Scharia mit unserem Recht vereinbar? Dass diese Fragen endlich beantwortet werden, darauf zu bestehen ist unser Recht und ... unsere Pflicht.»
Hier wird also die Toleranz des Islams als historische Zufälligkeit abgetan, als etwas, das gerade nicht dem überzeitlichen «Wesen» des Islams entspricht. Stattdessen herrscht der kulturalistische Glaube, dass es religiöse Normen gibt, die unveränderlich und eindeutig sind. Historische Entwicklungen oder die Auslegungspluralität von Normen, durch die der Islam so stark geprägt ist, sind in dieser Denkweise nicht vorgesehen.
Daraus ergibt sich nun eine eigenartige Zwickmühle: Da Kulturen ja verschieden sein müssen, kann sich das eigentliche Wesen einer Kultur gerade dort nicht zeigen, wo sie mit anderen Kulturen übereinstimmt. Diese kulturalistische Denkweise auf den Islam angewandt, ergibt nun folgende Paradoxie: Wenn islamisches Handeln oder Denken den gerade gültigen westlichen Werten entspricht, muss es sich um historische Zufälligkeiten oder – womöglich vorgetäuschte – Anpassung handeln. Immer dann aber, wenn islamisches Denken und Handeln westlichen Normen widerspricht, zeigt sich das eigentliche, überzeitliche Wesen des Islams.
Scheidung auf Ägyptisch
Wie sehr eine solche Sicht die Wechselwirkungen zwischen dem Westen und der islamischen Welt verdrängt, veranschaulichen zahlreiche Fälle, die ich unter der Überschrift «Gesetz der Asynchronizität» zusammenfassen möchte. Was ich damit meine, sei anhand einer tragikomischen Geschichte erläutert, der man den Titel «Scheidung auf Ägyptisch» geben kann. In ihr geht es um die Scheidungsaffäre eines liberalen ägyptischen Oppositionspolitikers, über die eine überaus schätzenswerte Tageszeitung (nämlich die «Süddeutsche») erstaunlich ausführlich berichtete.
Die Geschichte geht so: Der ägyptische Oppositionspolitiker Ayman Nur ist der Gründer der sogenannten «Zukunftspartei» und gilt als «liberaler Hoffnungsträger». Dies missfiel einigen Mächtigen, womit es wohl zusammenhängt, dass er 2005 unter dem Vorwurf der Dokumentenfälschung zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Während seiner Haftzeit setzte sich seine Ehefrau Gamila energisch für seine Freilassung ein und wurde dadurch selbst zu einer prominenten Figur des politischen Lebens. Nach der Freilassung des Politikers 2009 war es mit dem Eheglück aber schnell vorbei. Gamila verließ Ayman und nahm die Kinder mit. Darüber wollte eine ägyptische Tageszeitung berichten. Dies wiederum wollte Ayman Nur nicht, und er versuchte, die ganze Auflage der einschlägigen Nummer aufzukaufen. Das aber gefiel der Zeitung nicht, die nun ihrerseits über Aymans missglückten Geheimhaltungsversuch berichtete. Und darüber berichtete wiederum die «Süddeutsche».
Offensichtlich wollte sie damit zeigen, wie schwer es liberale Politik in einer von islamischen Werten geprägten Gesellschaft hat. In Wahrheit zeigt sie aber etwas anderes. Sie zeigt, wie der Westen sein eigenes Spiegelbild erblickt – und es nicht erkennt.
Diese Zeitung präsentiert die Affäre als «orientalische Seifenoper». Doch was ist daran «orientalisch»? Es ist – wie könnte es anders sein – der Islam. «Die vom Islam geprägten Wertvorstellungen sind streng. Verstöße werden unter der Decke gehalten. Für einen ägyptischen Politiker ist eine Scheidung ein Makel. Ein Gerhard Schröder mit drei gescheiterten Ehen ist in dem Land kaum vorstellbar.» Es sind also, so lernen wir, die islamischen Werte, die eine banale Ehegeschichte zum Skandal werden lassen. Bei uns, wo diese Werte nicht gelten, hätte sich niemand über so etwas aufgeregt.
Hier beginnt man aber doch zu stutzen. Wahrscheinlich wurde Ägypten seit der islamischen Eroberung im 7. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert hinein nie von einem Herrscher regiert, der in lebenslanger Monogamie lebte. Ehescheidungen sind nach islamischem Recht einfach und keineswegs ehrenrührig. Die Ehe ist im Islam kein Sakrament und wird nicht auf Lebenszeit geschlossen. Die Rede von «gescheiterten Ehen» ergibt deshalb wenig Sinn. Beispiele für geschiedene Politiker finden sich denn auch reichlich: Saddam Hussein war dreimal verheiratet; König Hussein von Jordanien viermal (davon zweimal geschieden). Geschieden sind auch der tunesische Staatschef, Libyens Gaddafi, der König von Oman und der malaysische Premierminister. Die «strengen islamischen Wertvorstellungen» können es also kaum sein, die Ayman Nurs Eheprobleme zum Aufreger machten.
Umgekehrt sind solche Eheprobleme auch dort, wo «westliche» Werte gelten, keineswegs unproblematisch. In Deutschland musste noch 1967 der beliebte Fernsehunterhalter Lou van Burg die Moderation einer Quizsendung aufgeben, weil er dem ZDF wegen einer privaten Affäre untragbar schien. Und in derselben Zeitung, die die «Affäre Nur» als Folge islamischer Werte schildert, lesen wir wenige Wochen später, dass die CSU die «Affäre Seehofer» noch immer nicht überwunden hat.
«Seehofer-Gerüchte beunruhigen CSU», titelte die Zeitung. Man dränge auf rasche Aufklärung: «Das ist ein mittleres Erdbeben für die Partei.» Offensichtlich kann man in Deutschland mit «unordentlichen» Eheverhältnissen zwar SPD-Bundeskanzler sein, hat aber als CSU-Ministerpräsident einen schweren Stand.
Hier nun liegt auch der Schlüssel für die Ayman Nur-«Affäre»: Es kommt nicht so sehr darauf an, wo (in welchem Land, in welcher «Kultur») eine Politikerehe «scheitert», sondern vielmehr darauf, wer dieser Politiker ist, für welche Werte dieser Politiker steht. Sehen wir uns daraufhin die ägyptischen Verhältnisse noch einmal an.
Weite Teile der Mittelschicht unterstützen heute die Muslimbrüder, die für weniger Korruption und mehr soziale Gerechtigkeit stehen. Um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, unterstützt das Establishment immer stärker religiöse Kreise, so dass auch die Regierungspartei heute sehr islamisch daherkommt. In Opposition zu beiden hat Ayman Nur seine «Zukunftspartei» als «dritten Weg» gegründet. Ayman Nur vertritt also die am stärksten säkulare Richtung der ägyptischen Politik. Es ist nur auf den ersten Blick absurd, dass gerade er deshalb anfälliger für Eheskandale wird als es ein religiöser Politiker wäre. Wäre Ayman Nur ein Islamist, hätte ihm eine Scheidung keine Probleme eingebracht.
Halten wir fest: In Deutschland können Eheprobleme bei einem christlichen Politiker zum Skandal werden, nicht jedoch bei einem säkularen. In Ägypten können Eheprobleme bei einem säkularen Politiker zum Skandal werden, nicht jedoch bei einem islamischen. Doch dies ist nur scheinbar widersprüchlich. Denn die Werte, die die causa Nur zu einem Skandal machen, sind genau jene, die auch den Seitensprung Seehofers zu einem Skandal werden lassen. Es sind die konservativen bürgerlichen Werte des «alten» Europa. Diese Werte wurden von der prowestlichen Elite des Nahen Ostens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts übernommen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verbreiteten sie sich bis in die Mittelschichten hinein. In Europa wurden diese Werte in einem Prozess, den wir gerne an dem Symboljahr 1968 festmachen, vielfach aufgeweicht. Gerade diese Entwicklung fand im Nahen Osten nicht statt. Im Nahen Osten aber hat man vergessen, dass viele Werte, denen man heute huldigt, ein Import aus dem Westen sind. Im Westen hat man vergessen, dass man vor 1968 vielfach dieselben Positionen vertreten hat, die einem heute im Nahen Osten archaisch anmuten. Die islamische Welt kann in den Augen des heutigen Westens aber nicht anders sein als eben islamisch. Deshalb hält man auch jene Werte für islamisch, die in Wahrheit nichts anderes sind als Reflexe westlicher Werte.
Ayman Nur, der Führer der westlich-liberalen «Zukunftspartei», verdankte seine Popularität nicht zuletzt der Tatsache, dass er und seine Frau ein bürgerliches Traumpaar abgaben, in dem sich die ganze Sehnsucht nach westlicher Bürgerlichkeit verkörperte, die Teile der ägyptischen Mittelschicht bis heute antreibt. So ist es nur allzu verständlich, dass Ayman Nur mit allen Mitteln verhindern wollte, dass sein Eheproblem publik wird. Gerade die Nacheiferung des Westens machte also zum Skandal, was früher oder in anderen Kreisen kein Skandal gewesen wäre.
Spiegelbild westlicher Werte
Die Asynchronizität, die hier sichtbar wird, ist charakteristisch für den gesamten Prozess einer solchen Übernahme westlicher Werte. Am Anfang steht in der Regel die einheimische höhere Mittelschicht, die westliche Vorstellungen übernimmt, weil «westlich» zu sein einen Zugewinn an Prestige und häufig auch an Macht verspricht.
Ansehen im Westen zu haben bedeutet, an den westlichen Macht- und Einflussstrategien teilhaben zu können. Dadurch verschafft man sich wiederum einen entscheidenden Vorteil gegenüber der traditionellen Elite. Nachdem die Strategie erfolgreich und der Aufstieg gelungen ist, übernimmt auch die untere Mittelschicht diese westlichen Werte, aber nicht als westliche Werte, sondern als die der einheimischen Elite. Es vergeht also einige Zeit, bis die ursprünglich von einer kleinen Elite übernommenen westlichen Vorstellungen von einem großen Teil der Bevölkerung als eigene Werte angenommen werden. Nun hatten Werte im Westen während des 19. und 20. Jahrhunderts eine kurze Halbwertszeit. Und so kommt es immer wieder zu einer paradoxen Situation: Westliche Werte werden von einem großen Teil der Bevölkerung nichtwestlicher Länder verinnerlicht, doch vollendet sich diese Entwicklung zu einem Zeitpunkt, an dem diese Werte im Westen gar nicht mehr gelten und durch andere Wertvorstellungen ersetzt wurden. Eine Wertediskrepanz steht also sowohl am Anfang als auch am Ende des Prozesses, doch in beiden Fällen halten westliche Betrachter die jeweilige Wertekonstellation im Nahen Osten für die typisch islamische.
Dies nun ist die eigentliche Lehre, die aus dem Fall Ayman Nur zu ziehen ist: Nicht alles ist religiös in der islamischen Welt, und nicht alle Werte der islamischen Welt sind islamisch. Viele Werte und Moralvorstellungen der Menschen im Nahen Osten sind vielmehr Reflexe westlicher Werte. Es mag sein, dass diese Werte im Westen selbst an Gültigkeit eingebüßt haben. Doch dadurch werden sie, wie der Fall des prowestlichen Politikers Ayman Nur zeigt, noch nicht zu islamischen Werten. Es sind oft schlicht nur die eigenen, westlichen Werte, die uns im historischen Abstand als islamische Werte erscheinen. Manchmal ist der Westen islamischer als der Islam.
* Geboren 1961 in Nürnberg, Promotion (1989) und Habilitation (1997) an der Universität Erlangen. Seit 2000 Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2002–2006 Direktor des «Centrums für Religiöse Studien» der Universität Münster. 2006–2007 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Mentalitätsgeschichte der arabisch-islamischen Welt, klassische arabische Literatur. Im kommenden Frühjahr erscheint sein Buch «Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams» im Verlag der Weltreligionen.