GESTERN - HEUTE - MORGEN: Gottverdammt modern

von Norbert Trenkle, Publizist ; Mitherausgeber der Zeitschrift Krisis (www.krisis.org), 09.02.2016, Veröffentlicht in Archipel 244

Warum der Islamismus nicht aus der Religion erklärt werden kann.

Im zweitenTeil dieses Artikels1 befassen wir uns mit den speziellen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen der Islamismus entstanden und wirkmächtig geworden ist.Zu diesen Bedingungen gehört ganz wesentlich das Projekt der nachholenden kapitalistischen Modernisierung in grossen Teilen des Nahen und Mittleren Ostens, ein Projekt, das nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Vorzeichen des Befreiungsnationalismus, des Sozialismus und des Panarabismus zunächst mit grossen Hoffnungen verbunden war, dann jedoch spätestens mit dem weltwirtschaftlichen Kriseneinbruch der 1970er Jahre scheiterte. Auch in anderen Weltregionen (vor allem in grossen Teilen Afrikas und Lateinamerikas) hat dieses Scheitern ein ideologisches und identitäres Vakuum hinterlassen, das zum Teil religionistisch gefüllt wurde (so insbesondere in Gestalt der evangelikalen Sekten). In den muslimisch geprägten Ländern wurde jedoch eine spezifische Form des Religionismus entwickelt, die aufgrund ihres universalistischen Anspruchs (Bezug auf die globale Umma) eine hohe gesellschaftliche Bindekraft entfalten und an die Stelle der desavouierten Diesseitsreligionen des Nationalismus und des Sozialismus treten konnte. Damit verbunden war auch das Versprechen einer Erneuerung der Staatlichkeit jenseits der Verfallsformen der delegitimierten laizistischen Regime und ihrer nationalen Grenzziehungen, ein Versprechen, das sich zudem auf die angeblich göttlich begründete Gesetzesgrundlage der Scharia stützte (die freilich völlig willkürlich ausgelegt werden kann). Dieser politisch-universalistische Zug des Islamismus verschaffte ihm eine Anziehungskraft, Synthesefähigkeit und Wirkmächtigkeit, die den Religionismen in anderen Weltregionen abging. (Vgl. Lewed 2008 und 2010)
Ein neuer Weltfeind
Gegenüber diesen anderen Religionismen hatte der Islamismus darüber hinaus noch den grandiosen ideologischen Vorzug, dass er sich gegen «den Westen» in Stellung bringen und sich daher nicht nur durch die Konstruktion eines kollektiven Feindbilds absichern liess, sondern ausserdem neben dem Nationalismus und dem Sozialismus auch noch den Antiimperialismus beerben konnte. Das ist ein ideologischer Konkurrenzvorteil, den z.B. die evangelikalen Sekten in Lateinamerika und Afrika nicht haben, nicht nur, weil diese zum grossen Teil von Predigern aus den USA und Europa ins Leben gerufen wurden, sondern weil sie sich ja gerade als Teil der so genannten «christlichen Wertegemeinschaft» definieren. Der Islamismus hingegen konnte in seiner Identitätskonstruktion mit Leichtigkeit auf die vorgängige historische Frontstellung zwischen «Abendland» und «Morgenland» zurückgreifen, die eine konstitutive Rolle bei der Formierung des «Westens» spielte und daher als Projektionsfolie wunderbar geeignet war und ist, eine kollektive Identität in Abgrenzung von diesem «Anderen» zu definieren. Verschärfend kam noch hinzu, dass auch im «Westen» diese kulturalistische Frontbestimmung begierig aufgegriffen wurde, teils um das Scheitern der nachholenden Modernisierung zu «erklären», das natürlich nichts mit der inneren Logik des grandiosen kapitalistischen Weltsystems zu tun haben durfte, das im Zuge seines fundamentalen Krisenprozesses ganze Weltregionen und ihre Bevölkerungen für «überflüssig» erklärt. Teils bestand aber auch schlicht der ideologische Bedarf, die eigene Kollektividentität nach dem Ende des Kalten Krieges durch die Erfindung eines neuen Weltfeindes abzusichern (vgl. dazu Trenkle 2008 und 2010). Nicht zufällig fällt die Veröffentlichung der paradigmatischen Hetzschrift von Samuel Huntington mit dem programmatischen Titel «Clash of Cultures» in die ersten Jahre nach dem Zusammenbruch des so genannten Realsozialismus, der ja selbst ein zentrales Kettenglied im Prozess des Scheiterns der nachholenden kapitalistischen Modernisierung darstellt (übri-gens sind auch im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion die Religionismen sowohl in islamistischer wie in russisch-orthodoxer Gestalt heftig aufgeblüht).
Diese identitäre Frontstellung erfuhr zusätzliche Bestärkung noch dadurch, dass grosse Teile der muslimisch geprägten Weltregion in besonderem Masse von Krieg und Gewalt überzogen wurden, weil sie im Zentrum geostrategischer Interessen lagen und liegen. Das betraf natürlich insbesondere die Ölvorkommen, aber in Zeiten des Kalten Krieges auch den Kampf der Grossmächte um Einflusszonen wie im Fall von Afghanistan, das in den Mühlen des Ost-West-Konflikts förmlich zermahlen wurde und in der Folge zu einem Hotspot des militanten Islamismus wurde. Hinzu kam noch der Israel-Palästina-Konflikt, der weit über seinen eigentlichen Charakter als relativ kleine, territorial begrenzte Auseinandersetzung hinaus in der arabischen Welt und der antiimperialistischen Ideologie mit einer ungeheuren symbolischen Bedeutung aufgeladen und zu einer Projektionsfläche des antisemitischen Ressentiments wurde, dessen Erbe der Islamismus ebenfalls antrat. Gerade an diesem Punkt wird noch einmal besonders deutlich, dass der Islamismus nichts mit dem traditionellen Islam, der gar keinen Antisemitismus oder Antijudaismus kannte, zu tun hat; dieser stellt vielmehr einen Import aus dem «aufgeklärten Westen» dar und konnte im so genannten muslimischen Raum erst im Zuge der nachholenden kapitalistischen Modernisierung Fuss fassen. (Vgl. Holz 2005)
Gewaltbereitschaft durch Destabilisierung
Die ständigen Kriege und Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten, verbunden mit entsprechenden Interventionen der Grossmächte, trugen nicht nur dazu bei, die ganze Region extrem zu destabilisieren und die Voraussetzungen für eine einigermassen kohärente kapitalistische Entwicklung und Weltmarktintegration zu zerstören, womit sie den Boden für die Attraktivität islamistischer Heilsversprechen bereiteten, sondern sie führten zugleich auch zu einer Brutalisierung von Generationen vor allem junger Männer, die im Zustand des permanenten, teils offenen, teils latenten Krieges sozialisiert wurden und eine entsprechende Bereitschaft zur Gewalt internalisiert hatten. Und schliesslich war dies der Rahmen für die Erschaffung mystifizierter Heldengestalten, mit denen sich vor allem junge Männer (nicht nur aus den betreffenden Regionen) identifizieren konnten und können. Wurde schon Bin Laden weithin wie ein neuer Che Guevara gefeiert, so hat der IS die mediale Inszenierung und Heroisierung seiner Gräueltaten perfektioniert. Der militante Islamismus hat es auf diese Weise geschafft, den Status einer radikalen Protestkultur zu erlangen, was ihm einen ungeheuren Zulauf von opferbereiten Anhängern aus aller Welt beschert (vgl. Roy 2005).
Gerade hierin zeigt sich noch einmal deutlich der höchst moderne und keinesfalls traditionell-religiös bedingte Charakter dieser Bewegung. Sie liefert das Material für eine abgrenzende Identitätskonstruktion von durch und durch kapitalistisch formatierten Menschen (vor allem, aber nicht ausschliesslich, jungen Männern), die häufig nicht einmal einen irgendwie gearteten familiären oder kulturellen Bezug zum Islam haben und sich durch ihre «Konversion auf regressive Weise gegen ihr Umfeld auflehnen. Freilich stellen, trotz einer grossen Zahl von solchen «Konvertiten», immer noch junge migrantische Männer mit familiären Wurzeln im so genannten islamischen Krisenbogen die grösste Gruppe der islamistischen Anhängerschaft in den kapitalistischen Kernländern dar. Aber das hängt nicht damit zusammen, dass sie aus einer bestimmten religiösen Tradition kommen würden, die sie nun wiederentdecken würden, sondern es lässt sich zumeist als Reaktion auf soziale und rassistische Ausgrenzung erklären.2 Das heisst nicht, dass es sich dabei um lauter chancenlose Marginalisierte handelt, die ohnehin nichts mehr zu verlieren hätten. Ausgrenzung verläuft häufig sehr viel subtiler und wird gerade von denjenigen als besonders kränkend empfunden, die durchaus die persönlichen Voraussetzungen für einen wie auch immer definierten sozialen Aufstieg in der Konkurrenz mitbringen, dabei aber immer wieder an nicht direkt sichtbare, von der Mehrheitsgesellschaft errichtete Schranken stossen, die zu überwinden sehr viel Mühe erfordert. Ähnlich verhält es sich in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, wo es oft gerade die enttäuschten Mittelschichten sind, die sich dem Islamismus zuwenden, weil ihre gesellschaftlichen Aufstiegshoffnungen enttäuscht worden sind. Entscheidend ist also nicht, ob sich jemand in einer Situation «objektiver Armut» befindet, sondern das subjektive Gefühl, zu den Verlierern zu gehören oder vom sozialen Abstieg bedroht zu sein. Und diese Ängste, die die kapitalistische Konkurrenz ohnehin permanent erzeugt, werden unter den Bedingungen des globalen Krisenprozesses in besonderem Masse geschürt.
Genau darin liegt eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen den islamistischen Eiferern und ihren militanten Feinden von Pegida und Front National begründet. Treibende Kraft ist in beiden Fällen der regressive Impuls, den durch die Krise erzeugten sozialen Druck durch die Abgrenzung von einem imaginierten Feind abzuführen (vgl. Bierwirth 2015). Demgegenüber führt es völlig in die Irre, eine «interkulturelle» und «interreligiöse» Verständigung zu fordern; denn wir haben es hier nicht mit einem Konflikt zwischen verschiedenen «Kulturen» zu tun, sondern mit einer aggressiven Polarisierung zwischen verschiedenen regressiven Kollektividentitäten innerhalb der kapitalistischen Weltgesellschaft, eine Frontstellung, die übrigens selbst zu einem Moment der globalen Krise gerät, indem sie eine Art permanenten Kriegszustand herbeiführt. Hilflos ist es demgegenüber auch, die republikanischen bzw. demokratischen Werte Freiheit und Gleichheit hochzuhalten. Denn diese Werte haben ihre Strahlkraft längst verloren, weil sie durch soziale und rassistische Ausgrenzung, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche und die zunehmend kontrollstaatlichen Züge auch in den westlichen Demokratien ausgehöhlt worden sind. Nötig ist vielmehr eine neue emanzipative Orientierung, die auf eine Aufhebung der kapitalistischen Logik und ihrer irrsinnig werdenden Subjektivität zielt.

Literaturnachweis:
Alevitische Gemeinde Deutschland e.V.: Salafismus in Deutschland, Köln 2013
Julian Bierwirth: Irrationalismus und Verschwörungswahn, 2005
Klaus Holz: Die Gegenwart des Antisemitismus, Hamburg 2005
Karl-Heinz Lewed, Erweckungserlebnis als letzter Schrei, Krisis 33, 2010
Karl-Heinz Lewed, Finale des Universalismus, Krisis 32, 2008
Ernst Lohoff (2008): Die Exhumierung Gottes, Krisis 32, 2008
Ernst Lohoff: Gott kriegt die Krise, 2006
Olivier Roy: Wiedergeboren, um zu töten. Der terroristische Islamismus ist keine traditionelle, sondern eine höchst moderne Glaubensrichtung. Sie wurzelt in Europa, in: Die Zeit, 21. Juli 2005
Norbert Trenkle: Feuer und Flamme für Demokratie und Aufklärung. Thesen zum Fundamentalismus der ,westlichen Werte in Zeiten ihres Zerfalls, 2010
Norbert Trenkle: Kulturkampf der Aufklärung, Krisis 32, 2008

  1. Teil 1 ist nachzulesen auf unserer Webseite und im Archipel Nr. 243.
  2. In der Zusammenfassung einer Fachtagung zum Salafismus heisst es über die Jugendlichen, die sich dieser Strömung anschliessen: «Jugendliche bewundern an salafistischen Predigern, dass sie sich nicht von der offenen Ablehnung einschüchtern lassen, die ihnen entgegenschlägt. Im Gegenteil: Sie verteidigen offen ihre Standpunkte und lassen sich nicht den Mund verbieten.» Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Abgrenzung von der eigenen Elterngeneration, die sich, so die Wahrnehmung der Jugendlichen, defensiv zu einer Situation der gesellschaftlichen Marginalisierung und des verweigerten sozialen Aufstiegs verhält. Der Salafismus bietet hier eine Möglichkeit, wieder in die Offensive zu kommen, Handlungsfähigkeit zu erlangen und damit das Ohnmachtsempfinden auf regressive Weise zu überwinden. Vgl. Alevitische Gemeinde, 2013.