GESTERN - HEUTE - MORGEN: Eine kritische Geschichte

von Bertrand Louart Radio Zinzine, 06.08.2013, Veröffentlicht in Archipel 217

Die moderne Biologie behauptet, dass Lebewesen Maschinen gleichgesetzt werden können. Einige Lebewesen sind allerdings nicht dieser Meinung. Eine weitere Folge über die untypische Arbeitsweise des Historikers und Biologiephilosophen André Pichot. Teil 2. Es gibt viele Gründe weshalb die Biologen das Konzept des Lebewesens als Maschine für richtig halten. Der triftigste und mächtigste hängt mit der eigentlichen Gestalt der wissenschaftlichen Methode zusammen. Diese Methode, seit dem siebzehnten Jahrhundert entwickelt, um physikalische Objekte zu erforschen, verlangt bei ihrer Anwendung diverse Bedingungen: Das Objekt muss isoliert sein. Seine Bewegungen und seine Veränderungen müssen unbeeinflusst von äußeren Einflüssen studiert werden können, mit Ausnahme derer, die auf kontrollierte Weise vom Experimentierenden ausgehen. Das Objekt muss einfach sein, man erforscht seine primären Qualitäten, die auf einfache Weise gemessen und quantifiziert werden können. Schließlich müssen die Erkenntnisse, die aus solchen Studien erwachsen, «universell» sein, das heißt, dass dasselbe Experiment, wenn es unter denselben Bedingungen durchgeführt wurde, beliebig oft mit dem selben Resultat wiederholt werden kann. Außerdem spielt sich alles innerhalb der Gegebenheiten der Naturgesetze ab.
Nur, Lebewesen können nicht so leicht unter solchen Bedingungen betrachtet werden. Sicherlich können sie isoliert werden, wirklich verstehen kann man sie aber nur im Hinblick auf ihre Beziehung zu ihrem Umfeld und zu Ihresgleichen. Man kann sie gewiss messen, die sachdienlichen Eigenschaften wie Form oder Verhalten sind jedoch nicht messbar. Außerdem kommt hinzu dass das Wissen über sie sehr unterschiedlich sein kann, je nach Funktion des Individuums, der Gattung, und dessen Bezug zur Umwelt. Ein Lebewesen ist derart komplex, dass selbst auf einer physikalisch-chemischen Ebene, die noch am ehesten wissenschaftlich erfassbar scheint, es nahezu unmöglich ist die Gesamtheit der physikalisch-chemischen Prozesse zu studieren und zu verstehen, wie diese Zusammenhänge zu einer autonomen Aktivität - dem Leben - führen.
Die Anwendung dieser wissenschaftlichen Methode führt zu der, wie der Botaniker Gérard Nissim Amzallag betont, «chronischen Nicht-Angepasstheit des Lebewesens an seinen Rahmen der Forschung». Anders gesagt, die wissenschaftliche Methode, die für und durch die Physik entwickelt wurde, also um tote und regungslose Materie zu erforschen, kommt hier an ihre Grenzen. Ein Lebewesen ist zu komplex und turbulent in all seinen unzähligen Erscheinungsformen für eine Methode, die eine Isolation und Stabilität des Objekts, die Wiederholbarkeit von Versuchen, dessen Quantifizierung und Mathematisierung als Bedingung für dessen Erforschung und Beherrschung verlangt.
Noch das einfachste Lebewesen ist kein gewöhnliches physikalisches Objekt, denn es ist zwar denselben physikalischen Gesetzen unterworfen, macht aber etwas anderes daraus: Die Physik kann zwar die Wurfbahn eines Steins berechnen, die Biologie kann jedoch kein-esfalls die Flugbahn eines Vogels vorausberechnen, dies obwohl beide dem Gravitationsgesetz unterliegen und der Reibung mit der Luft ausgesetzt sind. Die Erforschung der Lebewesen müsste zuerst festlegen, worin diese Besonderheit im Gegensatz zu von der Physik untersuchten unbelebten Objekten besteht und dann eine angepasste Methode entwickeln welche Erstere erforscht und so die experimentelle Methode ergänzen.

Ablehnung der Eigenarten

Nun hat aber eine gewisse Wissenschaftsgläubigkeit seit dem 19. Jahrhundert dazu geführt, dass die experimentelle Wissenschaftsmethode als die allem genügende und einzig richtige Methode zur Erforschung aller Phänomene erachtet wurde. Dies ist durch die Expansion der kapitalistischen und von Industrialisierung geprägten Gesellschaft und die Erfolge der Technik und Wissenschaft bei der Beherrschung des Umgangs mit Rohmaterialien zu erklären. Die Eigenarten und auch die Grenzen der verschiedenen Wissenschaftszweige wurden verschleiert. Die Physik wurde zum Modell von Wissenschaftlichkeit erhoben, von der Biologie bis zur Soziologie. Diese undifferenzierte Anwendung derselben Methode bei so verschiedenen Forschungsobjekten hatte schwerwiegende Konsequenzen für die Erforschung der Lebewesen.
«Das grundsätzlich unpassende, aus der Physik entlehnte Herangehen führt zu einer chronischen Krankheit in der Biologie, nämlich der überall möglichen Täuschung, aber auch des systematischen Einfließens von ideologischen Kriterien, von außerhalb der Wissenschaft, was das Befürworten, die Überprüfung und die Verbreitung der einen, im Gegensatz zur anderen Theorie betrifft. Beide Aspekte dieser Krankheit, Täuschung und ideologische Befangenheit, sind aufs Engste miteinander verknüpft.» (Amzallag)
Es handelt sich hier um Täuschung im weiter gefassten Sinne, es sind keine Umstände oder Resultate gefälscht worden. Eher wurde das Forschungsobjekt Lebewesen mit zu eng gefassten Methoden erforscht und diejenigen Aspekte sind zur Seite geschoben worden bei denen die Methoden der experimentellen Wissenschaft nicht greifen.
Ideologische Kriterien fließen auf verschiedenen Ebenen ein. Ihnen liegt zu Grunde, dass das Lebewesen erst einmal bis zum Geht nicht mehr zur Maschine reduziert wird. Das ist übrigens reichlich schizophren: Einerseits wissen die Biologen dass sie ja selber Lebewesen sind und keine Maschinen, andererseits verlangt die wissenschaftliche Methodik der Biologie, der Wissenschaft die sich mit dem Leben beschäftigt, sich an der Funktionsweise von Maschinen zu orientieren. Dieses Zurückdrängen der Subjektivität führt dazu, dass bei den Wissenschaftlern immer unbewusst die Haltung mitschwingt, dass auch Lebewesen Maschinen sind und dies prägt die moderne Biologie. Diese Haltung ist bei allen Beteiligten implizit vorhanden, wurde aber nie ausdrücklich formuliert, noch analysiert oder diskutiert. Es kommt durch dieses Ungesagte, Zurückgedrängte und Undurchdachte, dass alle möglichen Ideen aus einem sozialen Kontext ausgeliehen werden um dann wieder auf die Dinge zurückzukommen und zu rechtfertigen, dass der Stand der Dinge sich so und so verhält.
Die moderne Biologie kann also durchaus als wissenschaftliche Ideologie angesehen werden wie es der Wissenschaftsphilosoph Georges Canguilhem definiert hat. Hier umschreibt er sie als eine noch nicht ausgereifte Wissenschaft, weil sie nicht imstande ist, ihr Objekt in seiner Besonderheit zu erfassen. Sie beruht auf einer unsicheren Grundlage, bedient sich ungenauer Methoden und schlecht definierter Begriffe. Sie nimmt bereits existierende Wissenschaften zum Vorbild und übernimmt Ideen, Begriffe und Konzepte nicht nur aus dem Reich der Wissenschaften. In einer allumfassenden Weise behauptet eine Ideologie, die Wahrheit zu verkünden aber in Wirklichkeit ist sie dazu da, eine bestehende Situation und entsprechende soziale Beziehungen zu festigen. Die wissenschaftliche Ideologie ist keine eigentliche Theorie sondern ein System von Ideen oder Ideen die System haben. Das heißt, sie bestehen aus einer Argumentationsreihe, die fern dessen stattfindet was Wirklichkeit ist, obwohl sie eigentlich gerade diese abbilden wollen. So verfängt sich das Denken in einem Teufelskreis von sich um sich selbst drehenden Definitionen und Bezugnahmen.
Im Grunde genommen hat das fehlende Nachdenken über die Natur und die Lebewesen sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit katastrophale Konsequenzen, nicht nur in der Wissenschaft...

Wissenschaftliche Ideologien

Die moderne Wissenschaft stützt sich aktuell auf drei Pfeiler, oder eigentlich drei wissenschaftliche Ideologien, die nach und nach erschienen sind und die sich zu einer einzigen, in sich zusammenhängenden Theorie ergänzt haben. Eigentlich bedienen sie jedoch jediglich verschiedene Dunstkreise mit der Ansicht, dass Lebewesen Maschinen sind.
Da ist zuerst der Darwinismus. Der Verdienst von Charles Darwin (1809-1883)ist nicht nur die Beschreibung der natürlichen Selektion als Mechanismus der Anpassung der Lebewesen an ihre Umgebung. Es ist vor allem auch die Idee vom Lebewesen als Maschine, die der Naturtheologie entrissen wurde. Lamarck sprach auch von der Erweiterung der Vielfalt des Lebens, was die Evolutionslehre von Darwin nicht verstand und die von deren Anhängern nicht berücksichtigt wurde. Darwin wendet sich immer wieder gegen die «Spielarten der Schöpfung», gegen die Idee dass die verschiedenen Arten von Gott selbst geschaffen worden sind. Die Naturtheologie führt zwar auch aus dass Lebewesen Maschinen ähnlich seien, weil ein Höherer Ingenieur sie geschaffen habe. Darwin zeigt hingegen auf, dass die Entstehung der Arten das Resultat eines strikt materiellen Mechanismus ist, einer Kombination aus Variation und Selektion; auf diese Weise lässt Darwin das Lebewesen als Maschine in die Welt der Wissenschaft einziehen.
Er lässt sich von den Schriften des Pastors Thomas Malthus inspirieren, der über die Ursachen der Armut und die Debatten über die Abschaffung der Gesetze zur Unterstützung von Bedürftigen schreibt. Diese 1834 erfolgte Abschaffung war der Beginn des freien Arbeitsmarktes im industrialisierten England der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Bevölkerungswachstum, Verknappung der Ressourcen, Kampf ums Überleben, die Auswahl des am besten Geeigneten, all diese Bestandteile der Ideologie des sich selbst regulierenden Marktes finden sich im Mechanismus der natürlichen Selektion wieder. Im Gegenzug dienten sie als Argument, den Aufschwung des Kapitalismus und des Imperialismus in der Gestalt des Sozialdarwinismus und des wissenschaftlich fundierten Rassismus als natürlichen Vorgang zu rechtfertigen.
Als nächstes kommt die Genetik. Der Begriff Vererbung erscheint in der Biologie in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Er ist direkt verwandt mit dem Begriff Erbe, der in einem gesellschaftlichen und juristischen Zusammenhang verwendet wird. Vererbung wird als physiologische Funktion, gleichbedeutend mit der Nahrungsaufnahme oder der Reproduktion begriffen. So, wie die jeweilige Generation den Reproduktionsprozess bestimmt, bestimmt die Vererbung die Weitergabe der anpassungsfähigen Eigenschaften während des Evolutionsprozesses. Es ist tatsächlich schwierig die Idee der Evolution der Arten mit deren meist wahrgenommener Stabilität in Übereinstimmung zu bringen. Ende des 19. Jahrhunderts formalisiert August Weismann (1834-1914) die Vererbung, völlig auf Basis theoretischer Spekulationen, indem er den «Germen» (Keimzellen) vom «Soma» (die Zellen des restlichen Organismus) trennt. Nur die Keimzellen, die Träger des Erbmaterials, gehen von einer Generation zur anderen über. Vererbung von im Laufe des Lebens erworbenen Eigenschaften wird also unmöglich. Die Weitergabe einer Substanz von Generation zu Generation ist tatsächlich leichter zu begreifen als die Kontinuität physikalisch-chemischer Prozesse.
Anfang des 20. Jahrhunderts entdecken die Biologen die Arbeiten über die Hybridisierung von Pflanzen wieder, die der Mönch Gregor Mendel (1822-1884) im Jahre 1865 publizierte. Die Mendel’schen Gesetze entsprechen der Idee die man sich von der Vererbung macht: Isolierbare Bestandteile, die Gene, bestimmen vererbliche Eigenschaften wie Farbe, Größe usw. Der Genotyp bestimmt den Phänotyp, das Unsichtbare bestimmt, laut weiser Berechnungen, das Sichtbare. Diese Berechenbarkeit der Resultate in der Vererbungslehre beschert der Genetik ein großes Publikum und großen Erfolg bei den Biologen. Man kann die Gene zahlenmäßig erfassen, Genompläne erstellen, genetische Modelle von Populationen ausarbeiten usw. Entdeckungen und wissenschaftliche Publikationen sind zahlreich, aber trotz dieses Erfolgs gibt es kaum praktische Anwendungen. Das hat allerdings nicht davon abgehalten ab 1883 von Erbgesundheit zu sprechen. Insbesondere der Vetter von Charles Darwin, Francis Galton (1822-1911) hat von jenem Jahr an im Rahmen seiner Überlegungen zur «Vererbungstechnik» die so genannte Eugenik als Begriff und Disziplin geprägt.

Eugenik als Wissenschaft

«Gegen Ende des letzten Jahrhunderts und zu Beginn des jetzigen sind wir sehr degeneriert, das war Mode, sowohl in den Arztpraxen als auch in den Salons (...) Wir sind degeneriert aufgrund des Niedergangs der Zivilisation, die guten Manieren sind mit dem Aufkommen der Industrialisierung und des Proletariats verloren gegangen. Exzesse der Zivilisation wie die Extravaganzen von Oscar Wilde, die Verschwommenheit des Symbolismus, die Arabesken des Jugendstils, all das weist auf eine Kultur hin die sich in einer raffinierten Morbidität aufreibt. Kurz gesagt degenerierten wir, aus welchem Grund auch immer, aber wir degenerierten. Gleichzeitig machte die Menschheit in denselben Arztpraxen und Salons riesige Fortschritte. Überall wurde die Wissenschaft gefeiert. (...) Angesichts dieser allgemeinen Entartung der Gesundheit, der Sitten, der Politik und der Kunst richtete sich die Wissenschaft auf, als letzte Bastion der Menschheit und der Zivilisation. So stellt sich der Kontext dar, indem diverse biologische, politische, soziale Doktrinen das Licht der Welt erblickten: Sozialdarwinismus, negative Eugenik, positive Eugenik.»(Pichot)
Tatsächlich, mit dem raschen Fortschreiten der Industrialisierung, dem Aufkommen der Arbeiterklasse als gesellschaftliche Kraft und all den Umwälzungen die das Ganze mit sich brachte, haben sich verschiedene Ideologien gebildet. Sie wurden von diversen Biologen und Medizinern aufgenommen und ausgefeilt, die politisch sowohl rechts als auch links stehend, mittels der neuartigen Wissenschaft namens Genetik nach technischen Lösungen dieser politischen und sozialen Probleme suchten. Die dem zu Grunde liegende Idee war, dass der Mensch nicht an die Welt der von ihm geschaffenen Maschinen angepasst ist. Es braucht daher ein eugenisches Programm, welches die Individuen selektioniert und die «Rasse» verbessert. Der Science-Fiction-Roman «Schöne neue Welt», 1935 von Aldous Huxley veröffentlicht, fasst diese Ideologie gut zusammen. Aldous war der Bruder des renommierten Biologen, Eugenikers und Sozialisten Julian Huxley, der keine Hemmungen hatte, zu erklären dass man die Eugenik zur «Religion der Zukunft» erheben sollte. Wohin das führen konnte ist wohl allen bekannt...
Bleibt noch die Molekularbiologie. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs wandten sich viele Physiker der Biologie zu, da diese ähnliche Erfolge wie die Physik versprach. Tatsächlich erlauben die während des Krieges erzielten Fortschritte in Physik und Chemie eine viel weiter gehende Analyse der Materie aus der die Lebewesen bestehen. Physiker führen also ihre Experimente in die Biologie ein und experimentieren mit Kristallographie, Radioaktivität oder Teilchenbeschleunigern. Auf diese Weise fließt ihre Herangehensweise in die Beschäftigung mit den Lebewesen ein.

* freier unkommerzieller Radiosender in Südfrankreich, www.radiozinzine.org
Auf deutsch ist von André Pichot erschienen:
Die Geburt der Wissenschaft. Von den Babyloniern bis zu den frühen Griechen
Bleibt anzumerken, dass Pichot einer der wenigen Wissenschaftler ist, der sich für René Riesel und José Bové eingesetzt hat, als diese im Februar 2001 wegen der Zerstörung eines Gentechnik-Versuchsfeldes in Frankreich angeklagt worden waren.