Der folgende Artikel ist der erste Teil eines Textes von Jean-Marie Chauvier, Journalist und Spezialist für Russland und die ehemalige Sowjetunion. Wir werden die folgenden Teile in den nächsten Ausgaben des Archipel veröffentlichen.
Die Revolution von 1917, die vor 90 Jahren in Russland stattfand, hat das 20. Jahrhundert mitbegründet. Sie ist untrennbar verbunden mit den großen Umwälzungen dieser Epoche: der Erste Weltkrieg 1914-18, die imperialistische Neuaufteilung des Planeten, welche auf den Zusammenbruch des österreichisch-ungarischen, des osmanischen und des russischen Imperiums folgte.
Die russische Krise schwelte schon lange. Es ist die Krise einer jahrhundertealten sozialen Ordnung, einer Bauernschaft, die um ihre Freiheiten und ihr Land gebracht wurde, eines Kapitalismus, der noch eingezwängt in die russischen Archaismen, schon durch das unruhige Proletariat bedroht ist. Auch das Imperium steckt in der Krise: Es wird in seiner Expansion von Revolten und Kriegen behindert und muss sich gleichzeitig mit dem modernen Imperialismus konfrontieren, der Russland als Peripherie betrachtet.
Die Monarchie der Zaren entstand im 16ten Jahrhundert. Das absolutistische und despotische Regime, dessen sozioökonomisches System auf Großgrundbesitz und bis 1861 auf Leibeigenschaft beruhte, hat es nicht geschafft, wirkliche Reformen durchzuführen. Die Reform von 1861 schafft zwar die Leibeigenschaft ab, konfisziert jedoch gleichzeitig das Land: Sie nimmt den Bauern den Boden, den sie bisher für die Landjunker bearbeitet haben, sie müssen ihn zurückkaufen und versinken in Schulden. Die liberale Reform Stolypins1 von 1906 macht zwar den Weg für private Bauern frei, schafft es jedoch nicht, die Bauernschaft aus den Dorfstrukturen der Vorväter, dem MIR, zu lösen und bringt auch keine Verbesserung der Anbaumethoden. Der Holzpflug bleibt fast überall in Gebrauch. Die Lebensbedingungen auf dem Land gleichen denen des mittelalterlichen Europa.
Lichtjahre von der althergebrachten bäuerlichen Welt entfernt, in der 80 Prozent der Russen leben, folgen Industrialisierung, späte, begrenzte, aber schnelle Urbanisierung, die neue soziale Klassen hervorbringen: Eine unternehmerische Geschäfts-Bourgeoisie, die noch zu schwach ist, um der Gesellschaft ein Rückgrat zu geben, eine junge Arbeiterklasse mit bäuerlichen Wurzeln, nur 3 Prozent Industriearbeiter, also eine Minderheit, die sich auf einige Städte und riesige Fabriken konzentriert. Ideale Orte für die Verbreitung revolutionärer Ideen. Der Groll über die Zerschlagung der Revolution von 1905 sitzt tief. Auf dem Land haben diese unglaublichen Auseinandersetzungen von 1902 bis 1907 angedauert, sie liegen 1914 nicht einmal 10 Jahre zurück.
Krieg und Erwachen des Nationalismus Keines der alten Reiche wird dem Schock des Krieges und des nationalen Erwachens standhalten. So vollendet Europa seine eigene Entkolonialisierung. Außerdem werden drei der Imperien, nämlich Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn zu Schauplätzen für sowjetisch inspirierte Revolutionen. Das zaristische Regime hat von allen Kriegs-Initiatoren seine Kräfte am meisten überschätzt und seinen eigenen Zerfall unterschätzt. An die 16 Millionen Männer sind mobilisiert, das ist die Hälfte der Bevölkerung im Arbeitsalter. Am 1. Januar 1917 betragen allein die militärischen Verluste 775.400 Tote, 348.000 Verwundete, 3.343.900 Gefangene. Seit Beginn des Krieges müssen die russischen Truppen schwere Niederlagen einstecken, wie etwa in Tannenberg und 1915-1916.
Im Hinterland bricht 1916 in Turkestan eine antikoloniale Revolte aus. Die muslimischen Völker protestieren gegen die Kolonisierung der besten Böden, gegen den Fall der Baumwoll-Preise und gegen die Mobilisierung für Hilfsdienste an der Front. Die Industrie, das Transportwesen und die Landwirtschaft beginnen zusammenzubrechen. Die Beschlagnahmung von Lebensmitteln in den Dörfern, wo schon die Arbeitskräfte fehlen, und die Preisanstiege in den Städten schüren die Unzufriedenheit.
Ein schleichender Bürgerkrieg droht. Die Revolutionäre müssen diese Gelegenheit ergreifen. An allen Fronten brechen Meutereien aus. Die sozialistischen Parteien der Zweiten Internationale, deren Führer sich dem kriegerischen Patriotismus angeschlossen haben, werden von der pazifistischen Linken angegriffen.
Bei einer Versammlung 1915 in Zimmerwald in der Schweiz lanciert der rebellierende Flügel, darunter Lenin, einen Appell, das Schlachten zu beenden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. «Krieg dem Krieg» lautet die Parole dieser sozialistischen Abspaltung – Embryo des Kommunismus und Anstifterin der Revolutionen in Deutschland, Ungarn und Russland. In diesem Land befruchtet der Krieg geradezu die Krise, weil die Idee des Friedens bei den Soldaten-Bauern, die in den Dörfern verwurzelt sind, den Wunsch nach Land weckt.
Beides bildet das explosive Gemisch einer Rebellion gegen das Regime, das Schuld ist an den Plagen, die die bäuerliche Bevölkerung erdrükken: Ihnen fehlt das Land und durch den Krieg fehlen auch die Männer in den Dörfern, es bleiben nur Verzweiflung und Tod. «Krieg dem Krieg» brüllen Lenins Propagandisten.
Die Bolschewiken Anfang 1917 sind die kommunistischen Bolschewiki noch unbekannt in den ländlichen Gebieten, im Gegensatz zu den Revolutionären Sozialisten (RS), den Erben der Populisten. Man kann den Kommunisten kaum den schlechten Geist und die Subversion anlasten, die an der Seele der Nation nagen. Sie sind nicht die «Führer der kommenden Revolution», wie später von der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung behauptet wird … oder von der anti-sowjetischen.
Aber die Kommunisten sind auch nicht völlig abwesend. Sie bereiten die Unterwanderung seit langem vor. Die Partei der Berufs-Revolutionäre, wie sie Lenin seit 1903 plant, hat Wunder vollbracht in der illegalen, methodischen Arbeit, um die Revolte zu organisieren und zu disziplinieren. Sonst wäre sie nur ein Aufbegehren ohne Zukunft gewesen. Zumindest trifft das für die großen Ballungsgebiete der Arbeiter zu.
Auch in den Schützengräben greift die bolschewistische Anti-Kriegs-Propaganda, und ihre Zellen durchsetzen die großen Bataillone des Proletariats in Petrograd, in Moskau, im Donbas-Becken in der Ukraine. Diese subversiven Kräfte reichen sicherlich nicht aus, um einen Volksaufstand zu kanalisieren, sind aber geschickt und organisiert genug, um ihm passende Parolen vorzuschlagen. Und dann ist da noch die deutliche Erinnerung an 1905: Die russische Revolution ist keine scheue Jungfrau.
Die Destabilisierung des Regimes beginnt 1916. Die Liberalen in der Duma, die sich als Fortschrittsblock bezeichnen, ergreifen unter Führung des Präsidenten Michail Rodsjanko und Pawel Miljukow die Initiative. Sie sind sich der Gefahr bewusst und bereit, die Nachfolge des altersschwachen Zarismus anzutreten. Sie wollen den Zar überzeugen, eine Regierung des nationalen Vertrauens zu bilden, die sich auf die dörfliche Selbstverwaltung, die Semstwos , stützt. In den Semstwos haben der ländliche Adel und die Beamtenschaft das Sagen. Sie könnten als Relais zwischen Landbevölkerung und Zentralmacht dienen. Dies war die letzte Chance, eine Regierung zu bilden, die ein Gegengewicht zur verblendeten Elite der Großgrundbesitzer und dem Gefolge des Zaren hätte sein können. Doch diese waren unfähig, den explosiven Charakter der Lage zu erkennen. Der Hof, insbesondere die Herrscherin Alexandra Fedorowna, wurden vom «liederlichen und mystischen» Mönch Rasputin beraten, eher ein Symptom als ein Anstifter der imperialen Dekadenz.
Um aus der militärischen Sackgasse herauszukommen, überlegte man im Gefolge Nikolaus’ einseitige Friedensverhandlungen mit Deutschland. Die Aussicht auf einen derartigen Verrat veranlasste mehrere Generäle zu einer Palastrevolution. Im Dezember 1916 wurde Rasputin ermordet. Ein Staatsstreich war für März geplant. Der Volksaufstand kam schneller.
Die Gedenkfeiern zum «Blutigen Sonntag», den Massakern vom Januar 1905, lösen politische Streiks aus. Am 18. Februar greifen sie über auf die Putilow-Werke in Petrograd. Der Direktor M. Putilow lässt 36.000 Arbeiter aussperren. Solidaritäts-Streiks weiten sich aus. Alle haben die Revolution von 1905 im Gedächtnis: Ist das die Wiederholung? Wird es gar noch schlimmer? Was kommt dabei heraus? Und wird der Zar das überstehen?
23. bis 27. Februar: Fünf Tage, die Russland erschüttern Am Donnerstag, den 23. Februar (8. März im julischen Kalender, der im Westen gebräuchlich ist), am internationalen Frauentag, demonstrieren Mütter und Ehefrauen der Soldaten und fordern Brot für ihre Kinder. Dass die Frauen auf die Straße gehen ist symbolisch, außergewöhnlich. Die Spannung erreicht ihren Höhepunkt. Am Streik beteiligen sich nun 129.000 Arbeiter, ein Drittel des Proletariats der Hauptstadt. Die Parolen der Demonstranten politisieren sich schnell: «Nieder mit dem Zarismus!», «Nieder mit der Alleinherrschaft!», «Nieder mit dem Krieg!» Ohne Zweifel: Die Subversion lässt die Maske fallen und die roten Fahnen lassen das Schlimmste befürchten.
Am Freitag, den 24., sind es 200.000 Streikende, am Samstag Generalstreik. Menschenströme ergießen sich in den großen zentralen Boulevard, den Newski-Prospekt . Feststimmung, überall rote Fahnen, die Marseillaise wird gesungen. Die Kosaken zeigen sich auf tänzelnden Pferden, greifen aber nicht ein. An diesem Tag ist es die Polizei, die als erste schreit: «Zerstreut euch!» Sie legt an, zielt, es gibt Verletzte und Tote. Die Herrscherin Alexandra schreibt an diesem Abend an ihren Gatten: «Ich hoffe wir fassen diesen Kerenski2. Wir müssen ein Exempel statuieren. Alle wünschen deine Entschlossenheit und bitten dich darum.» Für die Demonstration am nächsten Tag stellt die Polizei Maschinengewehre auf den Dächern auf. Am Samstag, den 25. Dezember, befiehlt der Zar dem Garnisonschef von Petrograd, General Kabalow, die Demonstrationen zu beenden.
Die Polizei wütet und die Armee greift ein. Die Kosaken, sonst dem Zar treu ergeben, unterstützen die Polizei nicht. Zur allgemeinen Überraschung säbelt einer von ihnen sogar einen Polizisten nieder, der auf das Volk schießen will. Zum ersten Mal treten die Bolschewiken als Organisatoren der Streiks und der Demonstrationen auf. In der Nacht nimmt die politische Polizei, die Ochrana , zahlreiche Verhaftungen vor. Am vierten Tag, Sonntag, den 26. Februar, strömen die Arbeiter erneut auf die Straßen. Die Truppen eröffnen das Feuer. Die Repression hat schon Hunderte Opfer gefordert. Nikolaus gibt nicht nach, lässt die Duma auflösen, obwohl die Liberalen sich dem Aufstand nicht anschließen und noch einen Kompromiss suchen – mit der Einführung der konstitutionellen Monarchie. Entgegen gewisser Geschichtsschreiber, gibt es im Februar keine «liberale, demokratische Revolution», aber sehr wohl eine Proletarier-Revolte, Meutereien und einen Volksaufstand gegen die Alleinherrschaft, trotz der Liberalen. Jene wollen gemeinsam mit den gemäßigten Sozialisten die Rolle eines Puffers spielen, den extremistischen Bolschewiken den Weg versperren und den Aufständischen einen politischen Ausweg anbieten. Er soll in parlamentarischer Demokratie und Marktwirtschaft bestehen.
Montag, der 27. Februar, wird zum entscheidenden Tag der Revolution. Die Armee überrascht. Schon am Vortag hatten Soldaten mit den Demonstranten sympathisiert. Am 27. meutern mehrere Regimenter, besetzen die Festung Peter und Paul, befreien die Gefangenen und bemächtigen sich des Arsenals. Gemeinsam mit den Arbeitermilizen, die Bolschewiken und unkontrollierte Anarchisten gebildet haben, besetzen die aufständischen Soldaten Bahnhöfe, Brücken und offizielle Institutionen. Der Doppeladler, das Symbol des Zarismus, wird von den Fassaden gerissen. Die Minister des Zaren werden verhaftet. In Petrograd wird ein Sowjet eingerichtet, unter der Direktion des sozialdemokratischen Menschewiken Nicolai Tschkheidse aus Georgien. Alles geht derartig schnell!
Die Kämpfe dauern noch zwei Tage an. Am 1. März ist die Stadt vollständig in der Hand der Aufständischen. Am darauf folgenden 2. März beschließen der Sowjet und die Liberalen der Duma die Bildung einer provisorischen Regierung bis zur Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung. Diese Regierung unter dem Vorsitz des Prinzen Georg Lwow besteht überwiegend aus Liberalen, mit Ausnahme von Alexander Kerenski von der Arbeiterpartei. Die Arbeiterpartei oder Trudowiki ist eine kleine Abspaltung der populistischen RS. Man kann sie als republikanische Mitte-Links-Partei bezeichnen.
Der Zar Nikolaus II. dankt ab und wird am 7. März verhaftet. Der Großherzog Michael lehnt die Thronfolge ab, die Monarchie ist also bis zur Ausrufung der Republik am 1. September 1917 aufgehoben. Die provisorische Regierung hat nur begrenzte Vollmachten. Die Sowjets, vor allem jener von Petrograd, kontrollieren die Wirtschaft und einen großen Teil der Streitkräfte.
Prikas Nummer Eins Nun ereignet sich, was Historiker als das Unglaublichste der Revolution bezeichnen: Das berühmte Dekret (Prikas ) Nr. 1, welches die Demokratisierung der Armee regelt:
In den Kasernen werden Sowjets gewählt.
Jede Kompanie entsendet einen Vertreter in den Sowjet von Petrograd.
Jede politische Entscheidung unterliegt der Zustimmung des Petrograder Sowjets.
Der Petrograder Sowjet kann Entscheidungen der provisorischen Regierung zu militärischen Fragen annullieren.
Das militärische Material gehört den Soldatenräten.
Die Soldaten müssen die Offiziere nicht mehr grüßen und müssen nicht mehr strammstehen.
Die Offiziere dürfen nicht mehr familiär oder beleidigend mit den Soldaten reden.
Das Dekret wird am 1. März, zwei Tage nach dem Sieg des Aufstands, in der Iswestija , den Nachrichten des Petrograder Sowjets, veröffentlicht. Wer steckt hinter diesem Dekret, das für die soziale und militärische Ordnung fatal ist? Laut Nikolai Suchanow, einem der großen Zeugen der Revolution, hat eine vom Sowjet gewählte Kommission von Soldaten diesen Text ohne irgendeinen Plan dem Juristen Sokolow diktiert. Für den der Revolution sehr feindlich gesonnenen amerikanischen Historiker Richard Pipes hingegen ist es «ein Mythos der Revolution, dass das Dekret Nr. 1 von einer Masse dreckiger Soldaten diktiert wurde. (…) Ursprünglich haben nicht Truppenangehörige, sondern Zivilisten und Delegierte der Garnisonen, die vom Exekutiv-Komitee des Sowjets, dem Ispolkom, gewählt wurden, das Dekret verfasst. Darunter befanden sich Offiziere, die meisten gehörten Sozialistischen Parteien an.» Die Autoren seien also «sozialistische Intellektuelle, die sich maßgeblichen Einfluss auf die Garnison sichern wollten.» Laut Pipes sollte als erstes «die bürgerliche Regierung der Möglichkeit beraubt werden, sich der Streitkräfte zu bedienen, wie es Cavaignac 1848 und Thiers 1871 getan hatten.» Zahlreiche anti-sowjetische Autoren sehen in diesem Dekret den eigentlichen Sündenfall der Subversion, in dem die Oktober-Tragödie ihren Ursprung hatte. Die Revolutionäre sehen das anders: Sie haben sich vor einem Schicksal, ähnlich dem der Pariser Kommunarden von 1871, zu schützen gewusst.
Das Prikas Nr. 1 untergräbt in den Augen der Verleumder die Autorität der Regierung und des Generalstabs. Es macht Schluss mit der Disziplin in der Armee und bereitet ihre Auflösung vor. Dieser «Triumph der Anarchie» bewegt viele höhere Offiziere, sich der Konterrevolution anzuschließen.
Die politische Situation, die aus der Februar-Revolution hervorgeht, ist gekennzeichnet durch eine Dualität der Macht (dvojewlastije ). Provisorische Regierung und Sowjet streiten um die Autorität. Sie wird nacheinander von Krisen erschüttert, im April, im Juli und im August, bevor sich ein völliges Machtvakuum ausbreitet.
- Stolypin, Pjotr Arkadjewitsch, ab 1906
Innenminister und Ministerpräsident; suchte durch rücksichtslose Polizeiherrschaft die Wirren der Revolution von 1905 zu überwinden. Stolypin leitete eine grundlegende Agrarreform ein, die durch die Auflösung der alten russischen Dorfgemeinde (Mir) zur Entstehung eines selbstständigen Einzelbauerntums führen sollte. Wurde Opfer eines Attentats der Sozialrevolutionäre.
- Kerenski, Alexander Fjodorowitsch, nach der Februarrevolution 1917 Justizminister in der ersten provisorischen Regierung; ab Juli 1917 Ministerpräsident, wurde er von den Bolschewiki in der Oktoberrevolution gestürzt. Emigrierte 1918 und lebte von 1940-70 in den USA.