Der Wirtschaftsliberalismus, die Bedeutung von Volksaufständen, die Rolle der Bauern in der französischen Revolution und die Überlebenschancen der Bauern unserer Erde heute – darum geht es in diesem Artikel. Gekommen sind mir die Überlegungen dazu nach der Lektüre eines Buches mit dem Titel La guerre du blé au XVIIIe siècle1 (Der Weizenkrieg im 18. Jahrhundert). Es wurde von sechs Historikern anlässlich des zweihundertjährigen Jubiläums der Französischen Revolution geschrieben. (2. Teil)
Die populäre Auffassung von Rechten
Hinter all diesen Revolten und Widerständen, die man als Revolten zur Existenzsicherung oder Versorgung bezeichnet, lässt sich eine populäre Auffassung von Rechten erkennen, die sich in den dörflichen Gemeinschaften von Generation zu Generation übertragen hat. Oft handelt es sich zum Beispiel um Gewohnheitsrechte zur Nutzung von Gemeindeland. Ohne dieses können die Dorfgemeinschaften wirtschaftlich nicht überleben und sind sich dieser Notwendigkeit sehr bewusst. Sie gewährleisten deshalb eine sehr strenge und gerechte Verwaltung, sind äußerst wachsam und jederzeit zum Aufstand bereit, sind sie doch ständig Opfer der Adeligen, die ihnen das Land rauben.
Bei Anbruch der Revolution verteidigen sie Rechte wie diese: das Recht, auf Gemeindeland zu weiden oder es zu pflügen, das freie Weiderecht im Herbst und im Winter, das Jagdrecht, das Recht, Bau- und Feuerholz zu schlagen oder das Holz einer zugeteilten Parzelle zu nutzen, das Recht, auf abgeernteten Äckern nachzulesen und das Recht, von den Besitzern ungenutztes Land zu bewirtschaften.
Während des «Mehlkriegs» von 1775 2 sind die Großbauern schon Zielscheibe der Aufständischen, im Verlauf der Revolution werden sie dann Kirchengut und anderen Besitz aufkaufen. Während der Revolution stehen sich zwei Auffassungen von Recht gegenüber, nämlich das «bürgerliche» Besitzrecht und das populäre Nutzungsrecht.
Vor der Revolution forderten gewisse Gemeinden in der Region um Lille eine «hauswirtschaftliche Parzelle». Gemeindeland wurde aufgeteilt, blieb aber unter völliger Kontrolle der Gemeinden und wurde auf Lebenszeit verpachtet. Die Nutznießer verpflichteten sich, diese Landstücke zu bearbeiten. Sie ein Jahr lang nicht zu bearbeiten, war ein Grund, das Nutzungsrecht zu verlieren. Im Zentralmassiv existiert dieser Usus noch heute. Es wurde eine kleine Geldsumme verlangt, die dazu diente, Anschaffungen in der Gemeinde zu machen: Pflege- oder Behandlungsstände zum Beschlagen der Ochsen, Maschinen zur Getreidereinigung, Walzen; all dieses Material war Gemeingut und allen zugänglich. In der Gegend um Lille erzwingt eine massive Volksmobilisierung 1777 einen königlichen Erlass gegen den Versuch der Monarchie, das Gemeindeland zu privatisieren. Dessen Aufteilung unter den Anspruchsberechtigten wird daraufhin zur Obligation erklärt. Somit wird dem Wunsch des Volkes entsprochen.
In der reichen Region der Picardie waren 70 Prozent der Bevölkerung landlose Bauern oder Bauern mit zu wenig Land, um sich davon zu ernähren. Aus dieser nordfranzösischen Region schließen sich in der Folge starke Bataillone von Aufständischen zusammen, die sich gegen die Großgrundbesitzer erheben. Ab Januar bis April 1792 vereinigen sich 10 bis 40.000 Aufständische in riesigen Bewegungen der «Taxateurs» zur Festsetzung der Preise.
Die Antwort der Bauern
Die Aufständischen reagieren auf die liberale Entwicklung, indem sie die Getreidetransporte aufhalten und die Ernten beschlagnahmen. Sie selbst legen den Getreide- oder den Brotpreis fest. Sie fordern die Einrichtung von Reservekornspeichern, um damit erneut Transparenz auf den lokalen Märkten herzustellen.
In den von Paris nördlich gelegenen Departements Aisne und Oise fordern die Anhänger der Bewegung die Auflösung und Aufteilung der großen Höfe. Sie schlagen die Beschränkung der Hofgrößen vor, damit mehr Subsistenzwirtschaften entstehen können. Durch eine Landreform zu Gunsten der Kleinbauern und landlosen Bauern soll die Anzahl der Produzenten wachsen. Es geht darum, die bäuerliche Gesellschaft auf breitere soziale Grundlagen zu stellen und die wachsende Bevölkerung darin einzubinden. Im Gegensatz dazu basiert die neue Wirtschaftsform auf der Konzentration, Vergrößerung, Akkumulation, Beherrschung und der Entstehung von Großmärkten, die von Großbauern beliefert werden. Die daraus folgenden Enteignungen führen zur Proletarisierung der wachsenden Bevölkerung, treiben sie in Armut und an den Bettelstab. Somit ist schon eine Widerstandsform zu erkennen, die sich gegen den Vorgang der Akkumulation und der Ausgrenzung - Kennzeichen des Kapitalismus - richtet.
Die Revolution bricht an
Bei Beginn der Revolution zielen die ersten Dekrete, wie das vom 9. Juli 1790, darauf ab, den freien Reise- und Warenverkehr zu erleichtern. Die völlige Liberalisierung des Handels und damit des Warenverkehrs wird unter den besonderen Schutz des Kriegsrechts gestellt. Auf Druck der Pariser Sansculotten 3, aber auch auf Druck der aufständischen ländlichen Massen erklärt ein Dekret im August 1792 die Gemeinden zu Besitzern der Allmend (Gemeindeland). Das von Feudalherren widerrechtlich angeeignete umstrittene Land wird nun an die Gemeindeeinwohner verteilt. Ab Herbst 1792 beginnen die Lyoner Sansculotten und Jakobiner 4 mit der Durchführung eines Programms des «Maximums». Ende 1792 debattiert das Nationalkonvent über eine Petition der Gemeinden von Seine et Oise. Diese fordert eine Obergrenze für Preise und Profite und eine Begrenzung der Hofgrößen. Das solcherart freigewordene Land soll an landlose Bauern verteilt werden. Es geht um eine echte Agrarreform, aber auch darum, Besitzrechte durch Vorschriften einzuschränken und die Eigenmächtigkeit des Ökonomischen zurück zu weisen. Es soll einer legislativen Macht untergeordnet sein und die Konzentration der Produktionsmittel und des Handels soll verhindert werden.
Die Bauern der Picardie radikalisieren ihre Standpunkte und Aktionen angesichts der zögernden Haltung der Constituante (Nationalversammlung) in Bezug auf den agrarwirtschaftlichen Bereich und ergreifen Besitz vom Gemeindeland, notfalls mit Gewalt. Ihr Kampf, der sich anfangs gegen den Feudalismus richtete, wendet sich nun immer mehr gegen die zunehmend liberale Wirtschaft. Nachdem die «Girondins 5» Ende 1792 gestürzt sind und die «Montagnards 6» und Robespierre 7 die Macht übernehmen, versuchen diese, ihr Programm gegen den Wirtschaftsliberalismus zu entfalten.
Am 4. Mai 1793 stimmt das Nationalkonvent für das erste Maximum, am 10. Juni für die Aufteilung des Gemeindelandes, am 17. Juli für die Aufhebung der feudalen Rechte ohne Entschädigung sowie für die Enteignung der Feudalherren von «Nutzland». Das betrifft 40 bis 50 Prozent des landwirtschaftlich genutzten Landes in Frankreich, was nun an Bauern verteilt wird. Am 9. August werden in den Bezirken öffentliche Getreidespeicher eingerichtet. Am 4. September wird die Handelsfreiheit für Grundnahrungsmittel abgeschafft und ein Höchstpreis für diese Lebensmittel festgelegt. Im Monat Oktober wird eine Behörde gegründet, die mit den Fragen der Versorgung beauftragt ist und zu deren Sekretär Babeuf gewählt wird.
Das Nationalkonvent lehnt die Forderung nach Teilung und Einführung einer Maximalgröße für Bauernhöfe ab. Robespierre wird am 9. Thermidor 8 gestürzt. Das Ende der Reformen ist eingeläutet und der Auftakt zur «Reaktion» der Thermidorianer führt Robespierre zum Schafott.
Epilog
Schon im 18. Jahrhundert verschlingen die wachsenden Städte das Land der Bauern und Feudalherren wie heute auch, aber zweifellos in einem kleineren Maßstab.
In der alten Wirtschaftsmoral stand die Lebensmittelversorgung im Zentrum. An ihre Stelle tritt langsam das neue Wirtschaftsdenken des freien Marktes.
Die bäuerliche Bewegung kann als autonom angesehen werden. Sie hat ein Programm ausgearbeitet, in dessen Vordergrund der Gedanke der Gleichheit stand. Babeuf und seine «Verschwörung der Gleichen» treten vehement für den Egalitarismus ein, die radikalste Form der entstehenden antifeudalistischen und antikapitalistischen Bewegung. 1797 endet auch Babeuf auf dem Schafott.
Der Kampf zwischen den armen Bauern und der Bourgeoisie ist gnadenlos und polarisiert sich in erster Linie um das Begehren der Bauern nach Autonomie und um die kapitalistischen Bestrebungen, die immer mehr Einfluss gewannen. Es ist auch das Aufeinanderprallen von dem Gewohnheitsrecht der Gemeinden und dem individuellen Recht.
Auch heute noch existieren zahlreiche traditionelle Gepflogenheiten in den Bergdörfern, wo Gemeindeland von der Dorfgemeinschaft verwaltet wird. Robespierre sprach von einer «politischen Volkswirtschaft». Buonarotti, ein Weggefährte von Babeuf, sprach von einer «sozialen Wirtschaft». Was in Frankreich zur Zeit der Revolution zum «Programm des Maximums» wurde, war die fruchtbare Begegnung zwischen den praktischen Umsetzungen des einfachen Volkes und der Theoretisierung dieser Praktiken.
Die in der französischen Konstitution verankerten Menschen- und Bürgerrechte sind dem Kampf der ländlichen und zumeist bäuerlichen Bevölkerung zu verdanken. Diese Rechte standen im Mittelpunkt der Interessen und waren das Ergebnis der sozialen Kämpfe dieser Epoche. Damals rang die bäuerliche Gesellschaft in vielseitig gearteten Kämpfen darum, eine Klasse gegen die Aristokratie, das Bürgertum und die Monarchie zu bilden. Bei der Abschaffung des Feudalsystems spielte die ländliche Bevölkerung eine Hauptrolle. Immer wieder wehrte sich die Bauernschaft gegen das emporstrebende Bürgertum und wird deshalb oft als Gegner dieser Revolution betrachtet. Einer Revolution, die von den Historikern vorschnell und zu einstimmig als «bürgerlich» beurteilt wird. Denn es war ebenfalls eine Revolution der Bauern, die einen eigenen Weg der Emanzipation und für Gleichheit beschritten, und nur das Bürgertum vereitelte dieses Ziel.
Im Gegensatz zu England – dort verbanden sich die Großgrundbesitzer zum Nachteil der Familien- und Parzellenwirtschaft mit den Pachtbauern - ergab sich in Frankreich eine kurzlebige Allianz zwischen Parzellenbauern, mittelgroßen «Pflügern» und Pachtbauern gegen das Feudalregime oder dessen feudale Überreste und gegen die bürgerliche und liberale Ausrichtung der Revolution. Die «ländliche Gemeinschaft» überlebte die Revolution noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Ihren Höhepunkt erlebte die bäuerliche Gesellschaft jedoch im 19. Jahrhundert. Noch im 20. Jahrhundert waren es die Bauern, die die Revolution in China und Vietnam anführten. Noch ist das Landvolk in zahlreichen Ländern in der Mehrheit, und nur der vordringende kapitalistische «Markt» und die damit einhergehenden Landvertreibungen gewinnen nach und nach die Oberhand.
- La guerre du blé au XVIIIème siècle, Collection Librairie du Bicentenaire de la Révolution française, 1988
- siehe auch Archipel Nr. 163, 164 und 165, «Der Mehlkrieg» von Jacques Berguerand
- Sansculotten: Proletarische Revolutionäre der französischen Revolution
- Jakobiner: Genannt nach dem
Dominikanerkloster in Paris, so
genannt radikalster und wichtigster Klub während der franz. Revolution - Girondins: gemäßigter Flügel der Republikaner z. Zt. der franz. Revolution, sind 1792 aus dem Jakobinerklub ausgetreten. Benannt nach dem Departement Gironde
- Montagnards: Mitglieder der eher
liberalen Bergpartei z. Zt. der franz. Revolution - Maximilien de Robespierre: Installiert 1793/94 ein diktatorisches Regime
- Thermidor: Der elfte Monat des franz. Revolutionskalenders. Der 9. Thermidor entspricht dem 28. Juli 1994
Weitere Quellen:
George Duby: Histoire de la France rurale, Seuil, Collection Points Histoire, 1992.
Fernand Braudel: Civilisation matérielle, économie et capitalisme. Armand Colin, Paris 1979
Dt.: Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Kindler, München. Bd.