GESTERN - HEUTE - MORGEN: Die Einzäunung von Allmenden

von Simon Fairlie, 15.10.2015, Veröffentlicht in Archipel 241

Viele Historiker_innen, besonders jene, die für eine «Geschichtsschreibung von unten» eintreten, betrachten die Einzäunung (enclosure) von Allmenden als ein bestimmendes Element bei der Entstehung des Kapitalismus. Die ersten drei Teile dieser Serie schlugen einen Bogen vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert und beschrieben die Arten von Eigentum an Land und dessen Nutzung in Grossbritannien, dazu den Widerstand gegen die Einzäunungen. Der folgende Text beschäftigt sich mit der Konzentration des Landbesitzes und dem Überlebenskampf der Kleinbauern im 19. Jahrhundert.4. Teil*.

Arthur Youngs Bericht von 1801 trug den Titel Eine Untersuchung über die Anständigkeit der Verwendung von Ödflächen zur Versorgung und Unterstützung der Armen. Young, Howlett, David Davis und tatsächlich die meisten, die sich mit dem zukünftigen Wohl der Enteigneten befassten (unabhängig davon, ob sie die Einhegungen gut hiessen oder nicht), argumentierten dafür, diejenigen, die Allmendrechte verloren hatten, mit eigenen kleinen Einhegungen abzufinden.
Landlose und Kleinbauern
Es gab zwei Arten von Verlierern im Prozess der Einhegungen. Erstens die Landlosen oder fast Landlosen, die keine Eigentumsrechte an der Allmend hatten, die aber ihren Lebensunterhalt von der Allmend her bestritten, weil sie entweder offen zugänglich war oder ein gewisses Mass an informeller Nutzung geduldet war. Diese Leute hatten wenig Rechte, tauchten in keinen amtlichen Aufzeichnungen auf und bekamen keinerlei Entschädigung für das verlorene Auskommen. Aber es gab auch eine Gruppe von Kleinbauern mit Rechtsansprüchen, die entschädigungsberechtigt waren. Allerdings waren die ihnen zugeteilten Landstücke «oft so klein, obwohl in genauem rechtlichen Verhältnis zu ihrem Anspruch, dass sie zu kaum etwas nutzten und schnell verkauft wurden.» Darüber hinaus waren die beträchtlichen Kosten für Vermessung, Absicherung, Einzäunung und Rechtsangelegenheiten für Kleinbauern unverhältnismässig. Sofern sie ihr eigenes Land bewirtschafteten, waren sie obendrein dazu gezwungen, mit ihren Steuern die Grossbauern zu subventionieren – noch dazu unter dem staatlichen Vorwand der Armutsbekämpfung – weil diese die Landlosen beschäftigten. Diese Tatsache erhöhte den Druck, an Grossgrundbesitzer zu verkaufen.1 Da es allgemein anerkannt war, dass der Lohn eines Landarbeiters keine Familie ernähren konnte und diese folglich durch die Armensteuer unterstützt werden musste, gab es auf allen Seiten gute Argumente, den Enteigneten ausreichend Land zur Verfügung zu stellen, um eine Kuh zu halten und einen Garten anzulegen. Das Land war vorhanden. Es hätte die endgültigen Abmachungen der meisten Einhegungsgesetze kaum beeinflusst, wenn Teile des Ödlandes abgetrennt worden wären und als gesicherter Kleingarten von anständiger Grösse an diejenigen verteilt worden wären, die Allmendrechte verloren hatten. In einer Reihe von Fällen, wo das geschah, stellte sich heraus, dass die Betroffenen kaum jemals wieder Armenhilfe beantragen mussten. Zudem zeigte eine Studie (der «Gesellschaft zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen und der Arbeiterfreundegesellschaft»), dass kleine Flächen, die mit dem Spaten umgegraben wurden, produktiver sein konnten als Grossbetriebe, die mit dem Pflug bearbeitet wurden.2
Die eiserne Faust des Marktes
Angesichts solch starker Argumente für die Bereitstellung von Parzellen brauchte es politische Ökonomen, um Gründe zu finden, diese nicht bereitstellen zu müssen. Burke, Bentham und eine Menge unbedeutenderer Namen, alle noch frisch unter dem Einfluss der Lektüre von Adam Smiths Der Wohlstand der Nationen, berieten Pitt und nachfolgende Premierminister dahingehend, dass es keinen Weg für die Regierung gäbe, den Armen oder irgendwem anders zu helfen, ausser durch Steigerung des nationalen Kapitals (oder wie wir heute sagen, des Bruttoinlandsproduktes BIP). Keine Intervention zugunsten der landlosen Armen sollte erlauben, die «unsichtbare Hand» des ökonomischen Eigeninteresses zu stören – selbst wenn die Hand, die sie überhaupt erst landlos werden liess, keineswegs unsichtbar war und auch eher eine eiserne Faust darstellte. Zur Jahrhundertwende trat Reverend Thomas Malthus mit seinem Argument auf, es sei Zeitverschwendung, den Armen zu helfen, da dies lediglich die Geburtenrate erhöhen würde – eine Ansicht, die sich mit der Meinung von denjenigen Christen deckte, die immer schon heimlich glaubten, dass die Reichen die Erde erben sollten.
David Ricardos Theorie des Pachtzinses (siehe Kasten) wurde herangezogen, um die Argumente gegen die Bereitstellung von Kleingärten abzustützen. Eine übliche Rechtfertigung für Einhegungen und die Anwerbung von Grundbesitzern war schon immer, dass die Pachtzinsen nach der Einhegung stiegen, sehr oft bis ins Doppelte. Dies wurde munter der Verbesserung des Landes zugeschrieben, als könne es keinen anderen Grund geben. Nur wenige machten sich Gedanken darüber, dass ein Zuwachs des Pachtzinses daher rühren könnte, gewisse Einschränkungen loszuwerden, z.B. die Allmendteilhaber und ihre Allmendrechte (genauso wie heute eine Immobilie an Wert gewinnt, wenn die bisherigen Mieterinnen und Mieter zum Auszug bewegt werden können, oder ein landwirtschaftlicher Vertrag aufgelöst wird). Pachtzins zeigt sich vielleicht im BIP, aber er ist ein unzuverlässiger Indikator von Produktivität. Der zeitgenössische Autor Richard Bacon betonte in folgender Erklärung, warum Grundbesitzer und Ökonomen gegen die Kleingärten waren (hier umschrieben von Brian Inglis):
«Nehmen wir beispielsweise an, 20 Zwei-Hektar-Höfe, die mit Spaten bearbeitet werden, seien zusammen produktiver als ein einziger Vierzig-Hektar-Betrieb, der mit Maschinen bearbeitet wird. Das bedeutete nicht, dass die Grundbesitzer mehr Pachtzins von ihnen bekämen – weit gefehlt. Da jeder Zwei-Hektar-Hof einen Pächter und seine Familie ernährt, blieb nur wenig Überschuss für die Zahlung des Pachtzinses. Ein einziger Grosspachtbauer, der Arbeitskräfte punktuell anheuerte, hatte vielleicht einen niedrigeren Ertrag von seinen vierzig Hektar, aber er hatte einen grösseren Nettogewinn – und der Nettogewinn bestimmte die Höhe des Pachtzinses. Deswegen zogen die Grundbesitzer die Zusammenlegungen vor.»3
Richard Bacon verdient Applaus für seine sehr deutliche Erklärung, warum der Kapitalismus grosse Hofbetriebe vorzieht und Menschen von ihrem Land vertreibt. Es sei noch darauf hingewiesen, dass der erhöhte Pachtzins nach der Einhegung durch die Armensteuer bezuschusst werden musste – die Steuer, die Grundbesitzer zur Unterstützung der Armen zahlen mussten, die in Armenhäuser getrieben wurden.
Import von billigem Getreide
Nach einer hitzigen Auseinandersetzung wurden 1846 die Importzölle für Getreide aufgehoben, die bisher geholfen hatten, die britischen Getreidepreise konstant zu halten. Die weit verbreitete Weigerung, Land für die Enteigneten bereit zu stellen, und die Entstehung eines städtischen Proletariats, das nicht die Wahl hatte, seine eigene Nahrung anzubauen, ermöglichte es den Befürwortern des freien Marktes, ihrer Kampagne für die Aufhebung der Getreidegesetze einen humanitären Anstrich zu geben. Billiges Brot aus billigem importierten Getreide interessierte die Ökonomen und Industriellen, denn es machte die Löhne billiger; gleichzeitig kam es den hungrigen landlosen Armen zugute (vorausgesetzt, die Löhne sanken nicht proportional, wie Malthus voraussagte). Der gesamte Einfluss all dieser Kräfte reichte aus, um die Importzölle von Getreide aufzuheben und die britischen Märkte den jungfräulichen Gebieten der Neuen Welt zu öffnen.
Die Gründer der Anti-Getreide-Gesetz-Vereinigung waren John Bright, ein Abgeordneter aus Manchester und Sohn eines Baumwollspinnereibesitzers, und Richard Cobden, Abgeordneter für Stockport und später Rochdale. Ihr Hauptinteresse an billigem Getreide war, die Kosten für Fabrikarbeit niedrig zu halten (Bright war gegen Fabrikgesetzgebung und Gewerkschaftsrechte). Aber ihr kraftvollstes Argument war, dass nur eine Handvoll Grundbesitzer von den hohen Preisen profitierten. Als verspäteter Versuch das Gegenteil zu beweisen, überredete Lord Derby 1862 das Parlament, ein Grundbuchamt in Auftrag zu geben. Aber die Veröffentlichung der «Rückkehr der Landbesitzer» im Jahr 1872 bestätigte, dass Bright und Cobden im Grossen und Ganzen recht hatten: 0,6 Prozent der Bevölkerung besassen 98,5 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen.4
Wären die britischen Arbeiter auch Kleinbauern gewesen und nicht städtische Slumbewohner, dann wäre ein hoher Preis für Getreide und somit für landwirtschaftliche Produkte allgemein eher in ihrem Interesse gewesen, und es ist unwahrscheinlicher, dass die Getreidegesetze aufgehoben worden wären. Hätte England (wie die meisten anderen europäischen Länder) seine ländliche Bevölkerung behalten, dann hätte es weniger landlose Arbeiter und weniger ausgesetzte Kinder gegeben, die Löhne für Fabrikarbeiter wären möglicherweise höher gewesen und die englische Baumwollindustrie wäre vielleicht nicht so gut dafür platziert gewesen, Tausende von lokalen Betrieben in der ganzen Welt, die Textilien von erstaunlicher Handwerkskunst und Schönheit herstellten, zuerst zu untergraben und dann zu zerstören. Im Jahr 1912 exportierte Grossbritannien, das nicht einmal selbst Baumwolle anbauen konnte, fast 7‘000 Milliarden Meter Baumwollstoff jährlich – genug, um jede Frau, jeden Mann und jedes Kind der gesamten damaligen Weltbevölkerung einmal komplett einzukleiden.5
Dumping aus der Neuen Welt
Globalisierung war Ende des 19. Jahrhunderts eine herrschende Kraft. Ironischerweise war es die gleiche Sorte politischer Ökonomen, welche sich zuvor für Verbesserungen auf dem Land und Ertragssteigerungen ausgesprochen hatten, die nun auch für Getreideimporte argumentierten. Damit wurde ihre vorher vertretene Idee völlig gegenstandslos gemacht. Die Aufhebung hatte noch einen verspäteten Effekt, denn erst nach dem Bau der transkontinentalen amerikanischen Eisenbahn in den 1870er Jahren konnte Getreide, das zu niedrigen Pachtzinsen auf konfisziertem Land der Native Americans angebaut wurde, erfolgreich die britische Landwirtschaft untergraben. In den 1880ern wurden dann zusätzlich Tausende Tonnen von gekühltem Rindfleisch importiert, welches das inländisch produzierte Fleisch unterbot. Es gab sogar bis in die späten 1990er Jahre innerhalb Grossbritanniens billigere Beförderungstarife für importierte Nahrungsmittel als für inländisch produzierte Ware.6
Die glücklichen Landarbeiter, die in die Neue Welt emigriert waren, schrieben ihren Freunden und Familien in Worten wie diesen:
«Niemand hier hat irgendwelche Schwierigkeiten, Land zu bekommen. Viele überlassen einem Land mit ein paar Hektar meliorierter Fläche und einem Haus darauf ohne jegliche Kaution.»
«Ich werde auf meinem eigenen 20-Hektar-Hof arbeiten, den ich für 55£ gekauft habe, und ich habe fünf Jahre Zeit, um zurück zu zahlen. Ich habe mir eine Kuh und fünf Schweine gekauft. Wäre ich in Corsley geblieben, hätte ich niemals irgendetwas gehabt.»7
Ausserstande mit solchen niedrigen Pachtzinsen zu konkurrieren, begann Englands landwirtschaftliche Ökonomie einen Niedergang, von dem es sich nie richtig erholte. Die Lebensbedingungen für die verbleibenden landlosen Landarbeiter verschlechterten sich noch weiter, während die Nachfrage nach Fabrikarbeitern in den Städten nicht so anstieg wie im frühen 19. Jahrhundert. Von den 130‘000 zwischen 1845 und 1869 eingehegten Hektar waren nur 800 zugunsten der Arbeiter und Landbewohner bereitgestellt worden.8
In diesem Kontext wurde der Ruf nach bäuerlichen Kleinbetrieben und Kleingärten wieder laut. «Drei Morgen und eine Kuh» (3 Mg = 1,2 ha, Anm.d.Ü.) war ein Schlagwort, geprägt vom liberalen Abgeordneten Jesse Collings, dessen Programm in seinem Buch Landreform zusammengefasst wird. 1913 brachte das parlamentarische Landuntersuchungskomittee seinen Bericht Das Land heraus, der aus erster Hand ausführliche Belege des Bedarfes für und des Nutzens von Kleinbetrieben beinhaltete. Beide Bücher behandelten die Einhegungen der Allmenden als Hauptursache des Problems.9
Von 1887 bis 1908 stattete eine Reihe von parlamentarischen Erlassen die Kommunalbehörden mit der Befugnis aus, Land zu erwerben, das heute noch in Form von zahlreichen kommunalen Kleingärten und dem County Smallholdings Estate (Grundbesitz der Kreisverwaltung von landwirtschaftlichen Kleinbetrieben) existiert. Die County Smallholdings (landwirtschaftliche Kleinbetriebe der Kreisverwaltung) gerieten besonders zwischen Hammer und Amboss, als eine zweite Welle von Ideologen des freien Marktes in den 1980er und 1990er Jahren an die Macht kam. Das Rural White Paper der Konservativen Partei befürwortete 1995 den Verkauf der kommunalen Betriebe, und seitdem wurde etwa ein Drittel des Gesamtanwesens verkauft, obwohl es Anzeichen gibt, dass die Zahl der Verkäufe nun rückläufig ist.10

* Der Artikel wurde publiziert in The Land Magazine (Nummer 7 - Sommer 2009), www.thelandmagazine.org.uk.

  1. W. H. R. Curtier, The Enclosures and
    Redistribution of Our Land, Elibron 2005 (Oxford 1920), S. 241.
  2. Brian Inglis, Poverty and the Industrial Revolution, 1971, S. 89-90, und S. 385.
  3. Joan Thirsk, The Common Fields, Past and Present, 1964, S. 311.
  4. Letters from America, zitiert von K. D. M. Snell, Annals of the Labouring Poor, Cambridge, 1985.
  5. W. E. Tate., The English Village Community and the Enclosure Movements, Gollancz, 1967, S. 138. Diese Zahlen werden von Curtier in Frage gestellt und dessen The Enclosure and Redistribution of Our Land (op. cit.) ist eine Apologie auf die Klasse der Grundbesitzer. Curtier, ein Befürworter der Kleinbetriebe, vertritt die Ansicht, dass es dank der Grundbesitzer eine beträchtliche Anzahl von kleinen Bauernhöfen gab. Die Klagen darüber, dass die Klasse der Ärmsten vom Zugang zum Land ausgeschlossen sei, hielt er für übertrieben. Immerhin gibt er aber zu, dass diejenigen, die eine kleine Landwirtschaft oder einen Garten hatten, nur einen ganz kleinen Teil der Armen ausmachten. Curtier gibt jedoch eine nützliche Zusammenfassung über die verschiedenen Gesetze, welche die Landverteilung betraffen. (S. 278-301).
  6. Jesse Collings, Land Reform: Occupying Ownership, Peasant Proprietary and Rural Education, Longmans Green and Co, 1903, S. 120 und G. Slater, «Historical Outline of Land Ownership in England», in The Land, http://homepage.ntlworld.com/janusg/landls.htm.
  7. Simon Fairlie, «Farm Squat», The Land 2, Sommer 2006.

Die Theorie des Pachtzinses
Der Reichtum verteilt sich zwischen drei Komponenten: den Löhnen, den Gewinnen und dem Pachtzins. Für Ricardo führt das Wachstum der Bevölkerung unausweichlich zum Anstieg der Lebenshaltungskosten - bei mehr Menschen und gleichen Erträgen in der Landwirtschaft. Der Bevölkerungsanstieg ergibt auch eine Erhöhung des Pachtzinses, weil immer mehr kultivierbares Land gefragt ist. Diese Inflation, welche die bereits im Elend lebenden Arbeiter trifft, riskiert einen Anstieg der Löhne zu bewirken - mit dem Zweck, das Überleben letzterer zu sichern. Folglich kolportiert das demographische Wachstum Profiteinbussen und das Ende von produktiven Investitionen. Somit kommt es zu einem «wirtschaftlichen Stillstand», der lediglich durch technischen Fortschritt etwas aufgehalten werden kann. Ricardo geht einig mit Malthus und kritisiert die Sozialhilfen für Arme, weil sie die Armut langfristig hervorrufen würden, indem sie «zu viele» Geburten förderten