GESTERN - HEUTE - MORGEN: Die Einzäunung von Allmenden

von Simon Fairlie, 17.07.2015, Veröffentlicht in Archipel 238

Viele Historiker_innen, darunter besonders jene, die für eine «Geschichtsschreibung von unten» eintreten, sehen die Einzäunung (enclosure) von Allmenden als ein bestimmendes Element bei der Entstehung des Kapitalismus an, wobei man unter «Allmend» jenes Land versteht, das kollektiv bearbeitet und nach den Regeln des Gewohnheitsrechts verwaltet wurde. Simon Fairlie fasst die Geschichte der Einzäunungen zusammen* (1. Teil).

In einem Zeitraum von wenigen Jahrhunderten wurden grosse Teile des britischen Bodens privatisiert. Das heisst, sie gingen von einer Form von Gemeinbesitz und kollektiver Verwaltung in private Hände über. In unserer heutigen «Eigentümer-Demokratie» gehört fast die Hälfte des Landes 40‘000 Grossgrundbesit-zer_innen, das sind 0,06 % der Gesamtbevölkerung1, während die überwiegende Mehrheit der normalen Menschen die Hälfte ihres Arbeitslebens dafür aufwendet, die Kredite für ein kleines Stück Grund abzustottern, gerade gross genug, um darauf ein Haus und eine Wäschespinne zu stellen.
Zahlreiche Faktoren haben zu dieser extrem ungleichen Landverteilung geführt. Der eklatanteste und fragwürdigste unter ihnen ist zweifellos die Unterteilung und Einzäunung von Allmenden, um auf diese Art individuelle Privatparzellen zu schaffen. Seit mehr als 500 Jahren streiten sich Politiker- und Historiker_innen über die Einzäunungen. Während die Befürworter_innen (einschlies-slich der Nutzniessenden) steif und fest behaupten, dass sie eine Notwendigkeit für wirtschaftliche Entwicklung und «Fortschritt» darstellten, argumentieren die Gegner_innen (einschliesslich der Enteigneten), dass sie die Armen um ihre Lebensgrundlage gebracht und zur Landflucht geführt hätten. (…)
Das «Open Field System»
Privateigentum an Grund und Boden, und insbesondere absolutes Privateigentum, ist ein modernes, nicht mehr als ein paar hundert Jahre altes Konzept. Dass ein Einzelner sämtliche Rechte über ein Stück Land innehaben könnte, unter Ausschluss aller anderen, war für die meisten Stammesvölker, wie auch für die mittel-alterlichen Bauern völlig unverständlich. Der König oder der Gutsherr konnten wohl ein Landgut besitzen, aber die Bäuerinnen und Bauern hatten eine Reihe von Nutzniessungsrechten, die ihnen erlaubten, darauf ihr Vieh zu weiden, Holz zu fällen, Torf zu stechen, oder auf verschiedenen Parzellen zu bestimmten Jahreszeiten Feldfrüchte anzubauen.
Das Open Field System beruht auf einer klassischen Form von Gemeineigentum, die man – so oder ähnlich – auch in vielen anderen Teilen der Welt antrifft. Als landwirtschaftliche Betriebsform war es während des ganzen Mittelalters und bis in die Neuzeit vorwiegend in den flacheren und fruchtbareren Gegenden der Grafschaften Mittelenglands verbreitet. Die Einführung der Caruca eines von den Galliern entwickelten grossen Pfluges mit breiten Rädern, der für die schweren englischen Lehmböden besser geeignet war als der römische Leichtgewichtspflug Aratrum, hat massgeblich zur Ausbreitung des Open Field Systems in Grossbritannien beigetragen. Um die Caruca zu ziehen, waren grössere Ochsengespanne erforderlich – bis zu acht Ochsen auf schweren Böden – und sie war sperrig und schwer zu wenden, sodass lange Ackerstreifen ideal waren. Die meisten Bauern konnten sich kein ganzes Gespann leisten, sondern nur ein oder zwei Ochsen, also war der Unterhalt eines Ochsengespanns zwangsläufig ein Gemeinschaftsunternehmen. Die Streifen, welche die Bauern bearbeiten konnten, standen wahrscheinlich in direkt proportionalem Verhältnis zu ihrem Anteil an den Ochsengespannen. Das Land wurde in einem zwei- bis dreijährigen Fruchtfolgeanbau bestellt, wovon immer ein Teil während eines Jahres brach lag. Jeder Bauer brauchte also die gleiche Anzahl von Streifen auf jedem Acker, um Jahr für Jahr eine konstante Ernte einbringen zu können.
Da die Felder, wenn sie brach lagen, oder nach der Ernte, von der Dorfherde abgeweidet wurden, gab es auch keine Möglichkeit für den Einzelnen seine Anbauweise zu ändern. Er hatte das zu tun, was die anderen taten und zur gleichen Zeit wie sie, denn sonst wären seine Felder von den Tieren aller anderen abgefressen worden. Das Vieh wurde auch auf den Allmendweiden oder mit Heu von den Allmendmähwiesen ernährt (die Verteilung der Feldstreifen, die für die Heuproduktion vorgesehen waren, wurde mancherorts an einer jährlich stattfindenden Lotterie ausgelost).
Das Open Field System war gerecht. In einer Studie über das letzte Beispiel einer noch nach diesen Kriterien funktionierenden Landwirtschaft in Laxton (Notts), weist das Forscherpaar Orwin2 nach, dass in dieser Betriebsform ein junger Mann ohne Kapital und eigenes Land seine Anteile an der Allmende schrittweise vergrössern kann: «Ein Mann mag nur ein oder zwei Morgen Land haben, aber er bekommt sie vollumfänglich in Form von «Langstreifen» zum Pflügen, ohne irgendwelche Abzüge für die Hecken an den Rändern, welche die tatsächliche Fläche verkleinern und ihn mit uneinträglicher Arbeit beschäftigen würden. Keine gleich grosse eingezäunte Parzelle könnte ihm dieselben Möglichkeiten bieten. Darüber hinaus verfügt er über Nutzniessungsrechte, die ihm erlauben, sein Vieh auf dem gesamten Allmendland zu weiden. Ebensoviel Weideland zu pachten, würde er sich nie leisten können.»
Nicht nur in England
Kurz, das Allmend-System ermöglichte, auf ziemlich geniale Weise, in grösserem Massstab zu wirtschaften – auch für die Kleinbauern – insbesondere durch den Einsatz grosser Gespanne zum Pflügen. Die Kehrseite war ein gewisser Verlust an Freiheit (oder «Wahlfreiheit», wie man heute sagen würde). Aber das liegt in der Natur solcher Wirtschaftsformen, in denen es Verteilungsgerechtigkeit gibt. Und wenn es letztere nicht gibt, haben manche Menschen überhaupt keine Wahl. Das Open Field System bot den Bäuerinnen und Bauern vermutlich mehr Eigenständigkeit als ein Latifundium in der Neuen Welt oder eine Kolchose in der Sozialistischen. Die Ironie des Schicksals lag darin, dass mit dem Einsatz grosser Landmaschinen diejenigen, die offene Felder eingezäunt hatten, nun gezwungen waren, ihre Hecken wieder auszureissen. (…)
Das Open Field System brach jedoch nicht aufgrund des Bevölkerungswachstums zusammen, sondern entfaltete sich noch bis ins ausgehende Mittelalter und mag, ganz im Gegenteil, sogar eine Antwort auf den zunehmenden demographischen Druck gewesen sein. (…) Wenn es viel brach liegendes Land gab, konnte man sich seine Parzelle zur privaten Nutzung abstecken. Aber wenn wenig Land zur Verfügung stand oder z. B. ein Anwesen unter zwei oder drei Erben aufgeteilt werden musste, dann wurde die Ackerfläche in Langstreifen geteilt und, wie beschrieben, gemeinsam bewirtschaftet.
Open Fields waren nicht an bestimmte soziale Strukturen oder Bodenbesitzverhältnisse gebunden. In England entwickelten sie sich unter sächsischer Hoheit und bestanden unter dem normannischen Regime weiter, in welchem Leibeigenschaft herrschte. Nach der Schwarzen Pest machte die Leibeigenschaft dem Lehenswesen Platz, in welchem der Feudalherr den Bauern das Land gegen Frondienste und einen Teil der Ernte abtrat. Mit der aufkommenden Geldwirtschaft wurde das Lehenswesen seinerseits von der Erbpacht abgelöst. Aber keine dieser Veränderungen schien die Leistungsfähigkeit des Open Field Systems zu beeinträchtigen. Andererseits waren offene Felder in den keltischen Gebieten und den eher hügeligen und bewaldeten Regionen weit weniger verbreitet und die Einzäunung privater Parzellen wurde früher (und wahrscheinlich auch gerechter) durchgeführt, als in den fruchtbaren Grafschaften Mittelenglands.
Das Open Field System war jedoch keineswegs auf England beschränkt. Da es sich um ein natürliches, einigermassen gerechtes System handelt, das einem gewissen technischen Entwicklungsstand angepasst ist, fand und findet man es rund um den Erdball. (…) So zum Beispiel in Anatolien (Türkei), in den 1950er Jahren (…) oder – bis heute – in Irob, in der äthiopischen Region Tigray, wo folgende Regel zur Anwendung kommt: «Um die Benachteiligung der Landeigentümer zu verhindern, die keine Ochsen haben, müssen die Ochsenhalter vor ihren eigenen Feldern diejenigen der ochsenlosen Bauern bearbeiten. Im Gegenzug liefern letztere das Futter für die Ochsen.»3
Schafe fressen Menschen
Allerdings wurde das System der Open Fields und Allmendweiden im auslaufenden Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit zunehmend von den reichen Grundbesitzern unterminiert, die das Land für den eigenen Gebrauch privatisieren wollten. In der ersten Welle, vom 14. bis zum 17. Jahrhundert, geschah dies mittels Umwandlung von Ackerflächen in Schafskoppeln (…) Ein paar hundert Dörfer wurden entvölkert und verschwanden. Die Bauernschaft reagierte mit mehreren Aufständen, die aber alle scheiterten. Im Bauernaufstand von 1381 waren die Einzäunungen ein Thema, wenn auch nicht das wichtigste. In der Rebellion von Jack Cade im Jahr 1450, spielte die Forderung nach Recht auf Land eine bedeutende Rolle.4 Zur Zeit der Revolte von Kett (1549) ebenso wie während der Aufstände von Captain Poutch (1604 – 1607) standen die Einzäunungen im Mittelpunkt. Damals kamen auch Bezeichnungen wie leveller (Planierer) und digger (Buddler) auf, die sich auf Leute bezogen, die Gräben zuschütteten, Einfriedungen und Zäune planierten und Hecken mit der Hacke ausgruben, die von den «Einzäunern» errichtet worden waren.5
Die erste aktenkundige, schriftliche Beschwerde gegen die Einzäunungen erschien in der Geschichte der Könige von England des Priesters John Rous aus dem Warwickshire, etwa um 1459-86.6 Die erste Anklage einer Berühmtheit (und bis heute – 500 Jahre später – die bekannteste Anprangerung der Einzäunungen), stammt von Thomas Morus in Utopia: «Das sind eure Schafe, (…) die so sanft und genügsam zu sein pflegten, jetzt aber wie man hört, so gefrässig und bösartig werden, dass sie sogar Menschen fressen, Felder, Gehöfte und Dörfer verwüsten und entvölkern. Denn überall, wo in eurem Reiche feinere und daher bessere Wolle erzeugt wird, da sind hohe und niedere Adelige, ja auch heilige Männer, wie einige Äbte, nicht mehr mit den jährlichen Einkünften und Erträgnissen zufrieden, die ihren Vorgängern aus den Landgütern erwuchsen. Es genügt ihnen nicht, müssig und üppig zu leben, der Allgemeinheit nicht zu nützen, sofern sie ihr nicht sogar schaden; sie lassen kein Stück Land zur Bebauung übrig, sie zäunen alles als Weide ein, reissen die Häuser ab, zerstören die Dörfer und lassen gerade noch die Kirchen als Schafställe stehen…»7
Andere grosse Namen dieser Zeit äusserten sich im gleichen Sinn: Thomas Wolsey, Hugh Latimer, William Tyndale, Lord Somerset und Francis Bacon… Und obwohl sie später alle – ebenso wie Cade, Kett und Pouch – hingerichtet wurden, nahmen die Königshäuser Tudor und Stuart diese Meinungen sehr wohl zur Kenntnis. Sie erliessen eine Reihe von Gesetzen und setzten zahlreiche Kommissionen ein, um die Einzäunungen unter Kontrolle zu halten. Ein Historiker schloss aus der Anzahl von Anti-Einzäunungskommissionen, die von Karl I ins Leben gerufen wurden, dass er «von allen englischen Monarchen der bedeutendste Landreformer war.» 8 Das hinderte ihn allerdings nicht daran, Einzäunungen zu seinen eigenen Gunsten vornehmen zu lassen.

* Erschienen in The Land Magazine (Nr. 7, Sommer 2009), eine britische Zeitschrift, die sich mit Fragen des Zugangs zu Land befasst www.thelandmagazine.org.uk

  1. Kevin Cahill, Who Owns Britain, Canongate, 2001.
  2. The Open Fields, von Charles Stewart und Christabel Susan Orwin, Oxford 1938, ist wahrscheinlich die beste Studie dieses Systems, insbesondere weil die Orwins nicht nur Wissenschaftler_innen sondern auch Landwirt_innen waren.
    Siehe auch: J. V. Beckett, A History of Laxton, England’s Last Open Field Village, Oxford, Basil Blackwell, 1989.
  3. Paul Stirling, The Domestic Cycle and the Distribution of Power in Turkish Villages in Julian Pitt-Rivers (Ed.) Mediterranean Countrymen, The Hague, Mouton, 1963 und Hans U. Spiess, Report on Draught Animals under Drought Conditions in Central, Eastern and Southern zones of Region 1 (Tigray), United Nations Development Programme Emergencies Unit for Ethiopia, 1994, http://www.africa.upenn.edu/eue_web/Oxen94.htm
  4. Im Jahr 1381 beschuldigte das Kontingent von St. Alban unter der Leitung von William Grindcobbe, den Prister von St. Alban unter anderen Missbräuchen, auch die Einzäunung von Allmenden vorgenommen zu haben; in Jesse Collings, Land Reform, Occupying Ownership, Peasant Proprietary and Rural Education, Longmans Green and Co, 1903.
  5. W. E. Tate, The English Village Community and the Enclosure Movements, Gollancz, 1967; W. H. R. Curtier, The enclosures and redistribution of our land, Elibron 2005 (Oxford 1920).
  6. Ebenda
  7. Thomas Morus Der utopische Staat, Rowohlt Taschenbuchverlag 1960, 28. Auflage, 2008. Übersetzung von Klaus J. Heinisch
  8. Tate, ebenda